MONITOR vom 11.08.2016

Hexenjagd in der Türkei? Erdogans harter Kurs gegen die Opposition

Bericht: Stephan Stuchlik, Mehrican Açar

Hexenjagd in der Türkei? Erdogans harter Kurs gegen die Opposition Monitor 11.08.2016 14:04 Min. UT Verfügbar bis 11.08.2099 Das Erste

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Georg Restle: „Bilder aus der Türkei, die um die Welt gingen. Bilder von mutmaßlichen Putschisten, zusammengepfercht, misshandelt. „Wir werden sie in so tiefe Löcher werfen, dass sie kein Sonnenlicht mehr sehen, solange sie atmen.“ Originalton des türkischen Wirtschaftsministers. Guten Abend und willkommen bei MONITOR. Seit vier Wochen ist in der Türkei fast nichts mehr so, wie es einmal war. Der kläglich gescheiterte Putschversuch hat zu einer regelrechten Hexenjagd geführt. Und es traf eben nicht nur Soldaten, sondern auch Richter, Lehrer, Journalisten. Wie tief diese so genannten „Säuberungen“ ins Alltagsleben vieler Türken eingreifen, darüber gab es bisher nur sehr wenig zu sehen. Kaum ein Erdogan-Gegner traut sich noch an die Öffentlichkeit, geschweige denn vor die Kameras. Zu groß ist die Angst, man könne morgen schon der Nächste sein - weggesperrt von Freunden und Familie. Stephan Stuchlik und Mehrican Acar waren für uns jetzt zehn Tage lang in der Türkei unterwegs. Keine einfache Reise in ein Land, in dem patriotischer Jubel und bleierne Angst ganz nah nebeneinander liegen.“

Eine Stunde außerhalb von Istanbul, auf der Landstraße kommen uns streunende Hunde entgegen. Es ist der Ort, an dem die Einwohner der Stadt unliebsame Haustiere einfach entsorgen, Hunderte von Hunden sollen hier leben. Am Ende der Straße eine Baustelleneinfahrt, dem Arbeiter müssen wir erklären, wo wir hinwollen: zum sogenannten „Friedhof der Verräter“. Hier, mitten unter streunenden Hunden hat die Stadt Istanbul einen Friedhof anlegen lassen, auf dem die sogenannten „Verräter des Putsches“ bestattet werden sollen. Das Schild mit dem Titel „Friedhof der Verräter“ habe man entfernt, sagen uns die Arbeiter, aber, ja, einer der Putschisten sei dort verscharrt. Daneben sehen wir frisch ausgehobene Gräber.

Wir sind auf Recherche in einem Land, das sich gerade auf merkwürdige Weise verändert. Auf jeder Autobahnbrücke die Losung „Das Volk hat die Macht“, überall die türkische Nationalflagge, man wird von Patriotismus geradezu erdrückt. Auf dem Taksim-Platz noch die Panzersperren aus der Putschnacht, Musik, „meine Türkei, ich sterbe für dich“. Man bekommt den Eindruck, das Land bestehe nur aus Erdogan-Anhängern. Wir sind eigentlich auf der Suche nach der anderen Türkei. Wir wollen wissen, ob die Regierung wirklich nur gegen die Putschisten vorgeht, aber so einfach ist das nicht, niemand will mit uns sprechen. Die meisten Lehrer, Journalisten und Richter haben ihre Telefonnummern geändert, wir müssen uns mit Mittelsmännern treffen, alles geheim. Wer nicht für Erdogan ist, hat Angst in diesen Tagen. Nur kein Interview draußen, war der Wunsch des ersten, der sich bereit erklärt hat, mit uns vor der Kamera zu sprechen. Zafer Aknar, Chefredakteur der bekannten Satirezeitung Leman hat uns auf den Dachboden der Redaktion bestellt. Dieses Titelbild einer Sonderausgabe zum Putsch war für die Regierung Grund genug, noch in der Nacht die gesamte Auflage von 60.000 Heften einfach einstampfen zu lassen. Die Türkei als Pokertisch: „Ich setze Soldaten“, sagen die Putschisten, „ich setze die Hälfte der Bevölkerung“ sagt Erdogan, das war der Regierung zu kritisch.

Zafer Aknar, Chefredakteur „Leman“ (Übersetzung Monitor): „Es gab einen kurzfristigen Gerichtsbeschluss, noch nicht einmal einen richtigen! Und die Polizeibeamten beschlagnahmten alle Zeitungen, direkt aus der Druckerei, aber auch aus den Läden, in die die Ausgabe geliefert worden war. Wir waren nicht in der Redaktion in dieser Nacht, wir hatten fertiggezeichnet, waren schon rausgegangen. Normalerweise schlafen wir hier manchmal, und die anderen wissen das, aber wir waren raus, das war unser Glück.“

Denn Unbekannte stellten die genaue Adresse der Zeitung ins Netz. Aknar und die Kollegen werden auf Twitter bedroht. „Wir sind schon auf dem Weg zu Euch“, „Hier ein Bild von eurem Redaktionsfenster“, „Habt ihr euch auf dem Klo versteckt?“ Um 4 Uhr standen zig pöbelnde Menschen vor der Tür, sagt Aknar, am Ende muss die Polizei eingreifen. Tags zuvor hatten wir Kontakt zu einer kurdischen Gewerkschaftlerin, sie ruft uns plötzlich an, aber es geht nicht um ein Interview mit uns.

Aysun Oral (Übersetzung Monitor): „Sie haben meinen Bruder in Untersuchungshaft gesteckt, das habe ich gerade erfahren. Der sitzt da angeblich schon seit zwei Tagen. Ich habe gefragt, was sie meinem Bruder vorwerfen, aber der Anwalt weiß auch nichts. Sie haben eine SMS gefunden, in der er die Formulierung „meine Brüder“ benutzt und jetzt denken sie, er gehört zu einer Terrororganisation.“

Aysun beteuert die Unschuld ihres Bruders, eines ist aber sicher: Allein der Vorwurf, zu einer Geheimorganisation zu gehören, kann in diesen Tagen Existenzen vernichten.

Das Land wird gerade umgekrempelt. Tausende von Schulen hat man in der Türkei geschlossen. Im Internet kursiert eine Liste der Einrichtungen, die allein in Istanbul geschlossen worden sein sollen. Wenn die Liste stimmt, muss man sich fragen, ob nicht die gesamte Lehrerschaft von Gülen unterwandert war. Jetzt hat sich Angst breit gemacht, auch bei denen, die eigentlich gar nichts mit Gülen zu tun haben. Wir haben eine vertrauliches Treffen mit zweien, die von sich sagen, sie seien allein wegen ihrer Sympathien zur Opposition entlassen worden.

Uygar Özdemir, Berufsschullehrer (Übersetzung Monitor): „Am Sonntag kam ich von einer Auslandsreise nach Istanbul zurück, da hat die Polizei am Flughafen meinen Pass einfach einbehalten. Dann kam ich in die Schule, dort sagte man mir, ich sei entlassen. Ich bin völlig fertig.“

Ese Telli, Berufsschullehrerin (Übersetzung Monitor): „Ich war mit meinen Kollegen immer sehr aktiv, habe mich in den sozialen Netzwerken kritisch zur Haltung des Staates und der Politik geäußert, das könnte ein Grund für meine Entlassung sein. Offiziell gehe ich davon aus, dass man mir mein Konto bei einer Gülen-nahen Bank vorwirft. Ich finde sogar das Warten auf eine Begründung zermürbend.“

Eine der täglichen Abendkundgebungen für den Präsidenten. Die Erdogan-Anhänger haben nicht nur das Denkmal der Republik, sondern den ganzen Taksim-Platz erobert. Einen Platz, der bislang das Symbol der Opposition gegen Erdogan war. Lange Schlangen, es gibt kostenlos Essen. Man kommt sich seltsam vor, ohne eine türkische Fahne in der Hand, angeblich wurden schon Menschen verprügelt, die keine Flagge in die Hand nehmen wollten. Auf der Leinwand spricht Erdogan über den Putsch, die Menge skandiert „Allah ist der Größte“. Sieht so die neue Türkei aus?

Wir fahren zu Aysun, deren Bruder im Gefängnis sitzt, raus aus Istanbul, über die große Bosporus-Brücke, auf der in der Putsch-Nacht die Panzer standen. Seit wenigen Tagen heißt sie „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“, alle Schilder sind schon geändert.

Wir müssen weit ins Land hinein, Aysuns Bruder ist ebenfalls Lehrer, ein Universitätsdozent, er sitzt sechs Stunden von Istanbul entfernt im kleinen Karabük, in diesem Gerichtsgebäude. Dass er wirklich mit dem Putsch zu tun hatte, erscheint uns unwahrscheinlich, Aysun und er sind Kurden, beide politisch links, das passt eigentlich nicht zu Gülen-Anhängern.

Aysun Oral (Übersetzung Monitor): „Mein Bruder ist inhaftiert in einer Stadt, in der ich mich nicht auskenne. Ich bin komplett beunruhigt und ich fühle mich sehr erniedrigt. Es gibt noch nicht einmal einen Prozess, keine offizielle Verurteilung. Es gibt nur den Haftrichter, der über ihn entscheiden wird. Ich will meinen Eltern davon nichts sagen, mein großer Bruder hat mich am Telefon getröstet, außer ihm weiß in unserer Familie niemand, niemand davon.“

Zurück in Istanbul. Es sind nicht nur Lehrer, die unter Putschverdacht geraten sind, sondern auch Richter. Nach mehreren Tagen willigen zwei davon ein, sich mit uns zu treffen, auf der anderen Seite des Marmara-Meeres - bitte ein anonymer Ort, bitte nur drinnen, am Ende sprechen wir mit ihnen in einem ehemaligen Kino. Die beiden sind noch im Amt, riskieren mit der Aussage Kopf und Kragen, aber sie sehen sich dazu gezwungen, sagen sie, sie hätten ihren Eid auf eine andere Republik geschworen.

Ibrahim Fikri, Gewerkschaft der Richter (Übersetzung Monitor): „Wir wollen sprechen, weil wir natürlich unter der Situation leiden wie alle, dazu aber fühlen wir als Richter eine zusätzliche Verantwortung auf unseren Schultern. Deswegen reden wir mit euch, denn jetzt passieren viele Ungerechtigkeiten. Vielen Leuten widerfährt Unrecht und die Untersuchungen laufen in einer rechtswidrigen Form ab.“

Tamer Akgökce, Gewerkschaft der Richter (Übersetzung Monitor): „Um all diesen Staatsbeamten, Juristen und Lehrern ihren Job wegzunehmen, muss es eine eindeutige Beweislage geben. Die existiert aber nicht. Jetzt werden Journalisten, kritische Akademiker und Menschen mit anderer Meinung ins Gefängnis gesteckt. Das ist Pauschalverurteilung, rechtlich gesehen absolut falsch.“

Zwei Stunden vor Istanbul auf dem flachen Land. Wir wollen sehen, wie das Gefängnis in Silivrı́ aussieht, in das man die mutmaßlichen Putschisten aus dem Militär gesperrt hat. Ein Hochsicherheitstrakt, streng bewacht, doch sogar dieser Riesenkomplex ist seit dem 15. Juli zu klein geworden. Die Angehörigen belagern das Gefängnis. Hier treffen wir zerrissene Menschen: Sie sind für Erdogan, ihre Kinder gelten aber als Putschisten. Im allgemeinen Gewirr gelingt es uns, auf den Gefängnisvorplatz zu kommen, für die vielen Angehörigen der angeblichen Putschisten gibt es dort so etwas wie eine improvisierte Teestube, wir drehen verdeckt.

Mann (Übersetzung Monitor): „Mein Kind war doch kein führender Offizier, der war doch kein Putschist. Der war noch Militärschüler, der sollte eigentlich jetzt am Monatsanfang seinen Dienst in Cánkre beginnen.“

2. Mann (Übersetzung Monitor): „Die sind beim Putsch gekommen und haben ihm gesagt, es gibt eine Überraschung, er soll vor die Kaserne kommen. Dort haben sie ihm eine Waffe in die Hand gedrückt und gesagt, es geht gegen den IS.“

Dann müssen wir kurz abbrechen, eine Polizeipatrouille.

3. Mann (Übersetzung Monitor): „Unser Präsident Erdogan hat gesagt, die Soldaten sind unsere Kinder, was ist da jetzt daraus geworden? Meinen Sohn haben seine Befehlshaber abkommandiert, als er Wache gestanden hat, das waren die verdammten Gülen-Leute.“

Und dann zeigt uns die Familie noch die Bilder des neugeborenen Sohnes des Inhaftierten, der Vater hat ihn noch nie gesehen.

Wie aber sieht es in den Gefängnissen aus? Amnesty International spricht von Misshandlungen und Folter, stimmt das? Wir fahren nach Ankara. Die Verabredung, die wir dort haben, ist die komplizierteste der ganzen Recherche. Telefonate über mehrere Kontaktleute und am Ende warten wir noch in der Hauptstadt auf den Anruf, wohin wir kommen sollen. Und dann einmal quer durch Ankara, auch hier überall Flaggen, uns scheint, als habe Erdogan das Nationalsymbol für sich vereinnahmt. Der Mann, den wir treffen, ist der renommierteste Menschenrechtsanwalt der Türkei, Orhan Kemal Cengiz. Er wurde nach dem Putsch verhaftet und vier Tage mit Militärangehörigen eingesperrt. Er beschreibt Szenen aus der Haft.

Orhan Kemal Cengiz, Anwalt (Übersetzung Monitor): „Als ich in der Obhut der sogenannten Anti-Terrorabteilung in Istanbul war, sah ich zwei Zellen weiter einen Mann, der seine Augen nicht mehr öffnen konnte, so zugeschwollen waren die. Ich habe gesehen, wie er geweint hat, als man ihn nach der Vernehmung zurückgebracht hat. Überhaupt sage ich Ihnen, wenn Sie Leute wie jetzt mit dem Ausnahmezustand 30 Tage einsperren dürfen, ohne dass ein Anwalt zu ihnen darf, dann ist das ein Freibrief für Folter, da gibt es keinen Zweifel.“

Scheinbar normales Leben in Istanbul. Doch wie normal kann das Leben in der Türkei noch sein? Wir sind noch einmal auf dem Weg nach Karabük, die Verhandlung von Aysuns Bruder soll heute stattfinden. Bevor wir das Gericht wiedergefunden haben, kommen uns die beiden schon auf der Straße entgegen, der Bruder ist frei, es sei ein Irrtum gewesen, habe man ihm gesagt. Drei Tage hat Bülent im Gefängnis gesessen, sprechen möchte er darüber nicht, er hat Angst, dass ihn das endgültig seinen Job an der Universität kosten könnte. Seine Schwester hat weniger Probleme.

Aysun Oral, Schwester (Übersetzung Monitor): „Gestern hat mir mein Anwalt noch gesagt, dass wir mit allem rechnen müssten, da habe ich richtig Angst bekommen. Jetzt bin ich sehr glücklich. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft, so schön die Freude jetzt ist. Ich glaube, dass man gerade versucht, unser Leben massiv einzuschränken. Es werden irgendwelche Anschuldigungen gegen unbequeme Leute erfunden, die man dann verurteilt und einsperrt und ich weiß, morgen könnte das ich sein.“

In Istanbul wird derweil weiter demonstriert, begleitet vom Fernsehen singt die Menge „Recep Tayyip Erdogan“. Uns bleiben die Zweifel daran, ob zivile Opposition in diesem Land noch eine Chance hat. Und uns bleibt die Sorge um all die mutigen Menschen, die hier mit uns gesprochen haben.

Georg Restle: „Und diese Menschen, die Sie da gerade gesehen haben, haben sich ganz bewusst dazu entschlossen, offen vor unsere Kamera zu treten. Mutige Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen wollen. Menschen, die darauf hoffen, dass sie in Europa nicht vergessen werden.“

Kommentare zum Thema

  • Juergen Rechtmann 19.12.2016, 20:43 Uhr

    Es wird höchste Zeit, dass dem Faschisten Erdogan endlich der Zugriff auf deutsche Verhältnisse und Institutionen verweigert wird. Dazu zählt auch, dass der Bau der Größenwahnsinns-Moschee in Köln-Ehrenfeld endlich gestoppt wird. Dieser Bau muss endlich vernichtet werden. Macht daraus eine russisch-orthodoxe Patriarchal-Kirche wie etwa in Paris. Der Islam ist und war noch nie eine Religion des Friedens. Bestes Beispiel ist Aleppo oder Syrien als Ganzes. Der Islam ist die Pest des 21.Jahrhunderts, nur wenn er vernichtet ist, wird es wieder Frieden auf der Welt geben. In diesem Sinne ein gesegnetes Weihnachtsfest für Frauen, Kinder und Männer.

  • Miriam S 14.08.2016, 15:36 Uhr

    "Unglaublich, hier gibt es ja überwiegend Türkenfeindliche Kommentare. Peinlich! " was halten Sie denn von Meinungsfreiheit??? offensichtlich nicht all zu viel ! Sie entdecken eine Mehrheit bei denen, die offenbar andrer Meinung sind als Sie selbst, heißt das nicht Sie sollten über Ihre Meinung nachdenken, sie eventuell revidieren,....statt von "Peinlichkeit" beim andern zu faseln?

  • vedaman 13.08.2016, 02:21 Uhr

    Wo bleibt eigentlich der frühere Clartext im "Monitor"? Da läßt man am Ende des Beitrags die zaghafte Frage offen, wie es denn möglicherweise sonst zum "Putsch" in der TR gekommen sein könnte. Soso. Wobei derweil selbst der allseits bekannte Blinde im Dunkeln längst sieht, daß der "Putsch" vom Erdogan daselbst insceniert war, um in seinem Sinne zum Rundumschlag auszuholen und zu 'säubern'. Warum sagt man das in "Monitor" nicht mehr deutlich und frei raus? Warum nur noch so zaghaft und zögerlich? Man erkennt die Sendung gar nimmer wieder. Oder hat man bei Ihnen gar nunmehr Angst vorm bösen Erdogan, nachdem der uns in unseren Freiheiten immer mehr versucht einzuengen (teilweise schon mit Erfolgen.. siehe A. Merkel)? Hoffentlich doch nicht...