MONITOR vom 17.05.2018

Hartz IV: Wie die Bundesregierung die Regelsätze niedrig rechnet

Bericht: Jan Schmitt, Gitti Müller

Hartz IV: Wie die Bundesregierung die Regelsätze niedrig rechnet Monitor 17.05.2018 07:08 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

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Georg Restle: „Wieviel Geld braucht ein Mensch, um in Deutschland überleben zu können? Das sogenannte Existenzminimum. Um das zu beziffern, werden alle fünf Jahre höchst komplizierte Berechnungen angestellt. Am Ende steht dann eine Summe. 416,- Euro sind das zurzeit - der Regelsatz für erwachsene Hartz IV-Empfänger. Das muss reichen, auch wenn es nicht reicht. Die Bundesregierung scheint jedenfalls alles dafür zu tun, diese Summe so niedrig wie irgendwie möglich zu halten - und schreckt dabei auch nicht vor allerlei Rechentricks zurück. Jan Schmitt und Gitti Müller.“

Ralph Rasbach würde lieber arbeiten, aber er muss von Hartz IV leben. 2013 wurde dem gelernten Kaufmann betriebsbedingt gekündigt. Heute kauft er fast alles gebraucht. Am Anfang hat er sich dafür geschämt, aber er muss mit seinem Geld ja irgendwie hinkommen. Wenn er Lebensmittel einkauft, ist oft selbst der Discounter zu teuer.

Ralph Rasbach: „Das ist ein offenes Geheimnis, dass wenn am Wochenende samstags kurz vor Ladenschluss, dass dort die Preise gesenkt werden bei verderblicher Ware. Obst und Gemüse zum Beispiel oder auch Fleischprodukte, und da geh ich dann hin und kauf dort ein.“

416,- Euro, das ist der Hartz IV Regelsatz für Erwachsene. Enthalten: Kleidung, Essen, Trinken, Reisen, Haushalts- und Gesundheitskosten etc. Entscheidender Maßstab laut Bundesverfassungsgericht, die Menschenwürde - eigentlich.

Jürgen Borchert, Richter Landessozialgericht Hessen a. D.: „Das Existenzminimum muss dieser Menschenwürde entsprechen und entsprechend auch die kulturellen und die sozialen Teilhaben ermöglichen. Das ist mit diesen Regelsätzen, die wir jetzt haben, mit Sicherheit nicht mehr der Fall.“

Armut macht einsam, sagt er. Ein Fußballspiel besuchen, mit Freunden in den Biergarten gehen, das ist für Ralph Rasbach nicht mehr drin.

Ralph Rasbach: „Ohne Geld ist man kein Mensch in dieser Gesellschaft. Man kann nicht mehr „mithalten“. Man tut so als ob, aber es ist alles eine Lüge. Und das macht einen auch sehr traurig.“

Die Kanzlerin aber findet den Hartz IV Satz angemessen.

Angela Merkel, Bundeskanzlerin, 14.03.2018: „Wir haben ein ziemlich gutes System. Wir gucken uns immer die 20 % derer an, die im Arbeitsleben stehen, nicht von staatlicher Grundsicherung abhängig sind, und deren Einkommensentwicklung ist der Maßstab für die Erhöhung der Grundsicherungssätze, die wir dann gemeinhin Hartz IV nennen.“

Stimmt das, was die Kanzlerin sagt? Alle fünf Jahre gibt es eine Umfrage, die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, EVS. Dabei werden die Einnahmen und Ausgaben von ca. 60.000 Haushalten untersucht. Nach Merkel nimmt man die einkommensschwächsten 20 % davon, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das ist die sogenannte Referenzgruppe. Ihre Ausgaben sind die Grundlage für den Hartz IV-Regelsatz. 571,- Euro kommen so zusammen. Der Schönheitsfehler: Die bekommt keiner. Die Menschen erhalten nur 416,- Euro im Monat. Wie kann das sein? Ist es also falsch, was Merkel sagt?

Prof. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler, Hochschule Koblenz: „Wenn man sich die tatsächliche Berechnung anschaut, dann stimmt das einfach nicht, was Frau Merkel da sagt, das ist nicht korrekt, sondern das ist eher, so wünsche ich mir das. Aber so wird es nicht gemacht und insofern ist das eine Lüge.“

Denn die Regierung bedient sich einiger Rechentricks. Und die drücken den Hartz IV Satz nach unten.

Rechentrick 1: Ursprünglich bestand die Referenzgruppe tatsächlich - wie Merkel sagt - aus den ärmsten 20 %. Schon 2011 aber wurde sie unter ihrer Regierung einfach verkleinert, bei Erwachsenen auf die ärmsten 15 %. Und die geben im Schnitt natürlich weniger aus. Der Hartz IV-Satz sinkt dadurch um 13,- Euro.

Rechentrick 2: Es gibt viele Menschen, die eigentlich Anspruch auf Hartz IV haben, diesen Anspruch aber nicht geltend machen. Man nennt sie „verdeckt Arme“. Sie müssten eigentlich aus der Referenzgruppe herausgerechnet werden, werden sie aber nicht. Dadurch sinkt der Hartz IV-Satz um weitere 12,- Euro.

Rechentrick 3 - der umfangreichste: Denn nun wird gestrichen. Bei Ausgaben für Verkehr minus 31,- Euro, für Freizeit und Kultur minus 37,- Euro, für Gaststätten und Beherbergung minus 23,-Euro. Und so weiter, und so weiter, bis auf 416,- Euro. Warum? Die Bundesregierung findet, viele der Ausgaben zählten eben nicht zum Existenzminimum und dass die Daten dazu erhoben werden …

Zitat: „bedeutet nicht, dass alle zur Verfügung stehenden Daten vollständig verwendet werden müssen“.

Jürgen Borchert, Richter Landessozialgericht Hessen a. D.: „Dann kann man sagen, wir lassen den Quatsch mit dem statistischen Ermitteln, weil wir halten uns sowieso nicht dran. Da wird ein großer Hokuspokus veranstaltet, den sowieso kaum jemand versteht, weil diese Rechnungen sehr kompliziert sind, aber sie sind relativ genau. Und wenn man sich dann hinterher nicht dran hält, dann soll man das Ganze offen auf den … in den Abfalleimer schmeißen.“

Verteilungsforscherin Irene Becker kennt sich mit den Berechnungen wohl besser aus als jede andere in Deutschland. Sie wirft der Bundesregierung vor:

Irene Becker, Verteilungsforscherin: „Dass sie kein sachgerechtes Verfahren zur Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums hat. Dass sie methodisch unsaubere Wege beschreitet und dadurch systematisch an dem Ziel, ein Existenzminimum zu berechnen, unterläuft.“

Der Staat spart auf Kosten der Ärmsten, ca. 10 Mrd. Euro pro Jahr. Der Hartz IV-Satz von 416,- Euro - kein Zufall glauben Experten.

Prof. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler, Hochschule Koblenz: „Diese Zahl ist vorgegeben worden, die wollte man erreichen. Und durch die statistischen Manipulationen bei der Berechnung hat man diese Zahl erreicht.“

Dass man den Hartz IV-Satz so klein rechnet, trifft aber nicht nur die Ärmsten im Land, sondern auch alle Einkommensteuerzahler. Denn jeder Einkommensteuerzahler hat einen Freibetrag, auf den er keine Steuern zahlen muss. Er liegt bei 9.000,- Euro im Jahr und errechnet sich überwiegend aus dem Hartz IV-Satz. Je höher der ist, desto höher der Freibetrag. Auf fast 11.000,- Euro würde er ansteigen, wenn man den Hartz IV-Satz auf das eigentliche Niveau anheben würde. Und so holt sich der Fiskus auch noch 15 Mrd. Euro zusätzlich vom Steuerzahler.

Prof. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler, Hochschule Koblenz: „Das scheint mir ein ganz wesentlicher, wenn nicht der zentrale Grund zu sein, warum die Politik eine Anhebung der Hartz IV-Sätze scheut wie der Teufel das Weihwasser.“

Unwahrscheinlich also, dass sich für Hartz IV-Empfänger wie Ralph Rasbach etwas ändern wird. Er will unbedingt etwas tun. Deswegen macht er nun ein Praktikum in einer Beratungsstelle und hilft anderen bei ihren Hartz IV-Anträgen. Das wird zwar nicht bezahlt, gibt ihm aber ein Stück Menschenwürde zurück, sagt er.

Kommentare zum Thema

  • Kassensturz 03.07.2020, 14:03 Uhr

    Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Hartz IV ist eben das was übrigbleibt an Hilfsmittel, wenn reguläre Arbeit entlohnt und versteuert wurde. Schon jetzt arbeitet jeder AN 6 Monate nur für Vater Staat um den teuren Irrsinn zu finanzieren! Unter der Menschenwürde ist auch seit Jahren durch tarifl. Lohnverzicht und Co als AN mit Niedriglöhnen abgespeist zu werden, unfähige Manager zu alimentieren, durch kalte Progression vom Staat abgeschöpft zu werden und die Firmenautos für Besserverdiener mitzufinanzieren. Manch' einer Familie mit 2 AN bleibt netto weniger im Monat übrig zum Ausgeben (nah an der WHO Armutsgrenze), nachdem alle privatisierten Prämien und Zusatz-Versicherungen bezahlt wurden. Da liegt dann nahe warum viele gar nicht arbeiten wollen! Das eigenständige, selbstfinanzierte Leben ohne "soziale Hängematte" kostet enorm viel Geld. Das wird ständig ausgeblendet. Kein AN kann irgendwo auf Kosten anderer neue Geräte, Zuschüsse & Co beantragen.

    • Palastexistenz 20.09.2022, 08:58 Uhr

      Ich glaube, Sie leiden an einer eklatanten Bildungslücke: kein Sozialleistungsbezieher kann Elektrogeräte beim Sozialamt beantragen. Die müssen von den mittlerweile 449 € angespart werden. Abgesehen davon sind nur 30% der Sozialleistungsbezieher erwerbslos. 70% sind krankheitsbedingt oder behinderungsbedingt Erwerbsunfähig, Alleinerziehende oder Aufstocker ( d.h. die arbeiten für den Dumpinglohn der alleine durch Hartz4 ermöglicht wird)

  • chris l. 15.03.2020, 13:52 Uhr

    416,- Euro, das ist der Hartz IV Regelsatz für Erwachsene. Enthalten: Kleidung, Essen, Trinken, Reisen, Haushalts- und Gesundheitskosten etc. Entscheidender Maßstab laut Bundesverfassungsgericht, die Menschenwürde - eigentlich. jetzt kommt meine rechnung: abzüglich energie, versicherung, telekommunikation - hat man pro tag etwa 10,- zur verfügung. was früher menschenwürdige teilhabe war, wird einen im jobcenter als luxus ins gesicht geschleudert mit worten - wie: sie sollen nicht leben sondern überleben. mit 10,- pro tag ist keine teilhabe mehr möglich, es reicht gerade für die immer teuerer werdenden lebensmittel. für reisen und klamotten hat man NULL reserve. diese situation macht diese menschen krank und hoffnungslos. ein würdiger zuverdienst ist kaum möglich. was ist das für ein anreiz, wenn man von erarbeiteten 420,- nur 120,- behalten darf.... HARTZ 4 gehört abgeschaft > einführung bürgergeld für rentner und alle sozial schwachen !

  • Parteilos 07.11.2019, 22:57 Uhr

    Sklaverei gehört abgeschafft! Tut mir leid, das ich das so sagen muss, aber so ist es halt. Genügend sind auch behindert, haben aber deshalb bestimmt nicht unbedingt mehr, wenn sie von der Gesellschaft ausgegrenzt sind OP´s und sämtliche Behandlungen selbst finanzieren müssen -. Die Politik mit Lobbyismus lässt immer zu wünschen übrig.... Ein Beisiel sind auch die Berater- und ähnliche Kosten bei der Umweltministerin. Ja man hat immer den Eindruck, da sitzen die vollkommen falschen Leute am Platz...