Sozialprognose im Strafvollzug
Besondere Schwere der Schuld
Worum geht es in dem Fall?
Es ist der frühe Morgen des 12. Oktober 1991, als bei der Polizei ein angeblicher Wildunfall auf dem Waldparkplatz Rottmündetal gemeldet wird. Der Hinweis kommt von einer Notrufsäule im Zuständigkeitsbereich der Polizei Holzminden. Die beiden Polizeiobermeister Jörg L. und Andreas W. übernehmen den Fall, der sich anhört wie ein Routineeinsatz. Doch dann bricht plötzlich der Funkkontakt zu den beiden ab und die Kollegen werden unruhig und besorgt. Als auch nach einer Stunde kein Lebenszeichen eingeht, fährt ein weiterer Streifenwagen zum angeblichen Unfallort. Dort finden Polizisten jedoch nur Glasscherben, Patronenhülsen und Blut. Sie sind alarmiert und starten die bisher größte Vermissten-Suchaktion Deutschlands und Ermittlungen nach dem unbekannten Anrufer. Nachdem die Polizei den Notruf veröffentlicht gibt es endlich eine Spur - und diese kommt direkt aus einem Gefängnis.
Was bedeutet der Begriff?
Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe bedeutet nicht, dass Verurteilte wirklich bis zu ihrem Tod im Gefängnis bleiben. Nach 15 Jahren kann bereits eine frühzeitige Haftentlassung beantragt werden. Anders verhält es sich, wenn das Gericht neben dem Lebenslänglich die sogenannte "besondere Schwere der Schuld" festgestellt hat. Wenn also die Tat grausam und brutal begangen wurde, die Motive besonders verwerflich waren oder der Person abartige sexuelle, auch gewalttätige Neigungen zugeschrieben werden.
Was ist das Problem?
In der Regel verlängert sich dann die Verbüßungsdauer um fünf bis zehn Jahre – das liegt im Ermessen der Strafvollstreckungskammer des Gerichts am jeweiligen Gefängnisort. Also kann frühestens nach 20 Jahren ein Antrag auf vorzeitige Entlassung zur Bewährung gestellt werden. Bei weiter bestehender Gefährlichkeit ist auch eine unbegrenzte Verbüßung der Haft möglich.
Ehrenmord
Worum geht es in dem Fall?
Diala (*Name geändert) ist eine 20-jährige Frau aus Hagen. Ihre Familie ist syrisch-libanesisch. Diala zieht sich gerne freizügig an, trifft sich mit Männern und trägt kein Kopftuch. Der Familie gefällt das nicht. Ihr Lebensstil sei zu "westlich" und eine Schande für die Familie, heißt es. Die Familienehre sei durch sie gekränkt. Sie erlebt Missachtung und Gewalt in der Familie. Am 31.08.2008 wird Diala von ihrem Onkel und ihrem Cousin in ein Auto gelockt. Sie fahren mit ihr zu einem Parkplatz an der A45 und erschießen sie - um die Familienehre wiederherzustellen.
Was bedeutet der Begriff?
Unter einem Ehrenmord versteht man ein Tötungsdelikt zur Wiederherstellung der Familienehre. Fast immer geht es um die völlige Unterwerfung der weiblichen Sexualität unter einen patriarchalen Familienwillen (meist einer Zwangsheirat). Widersetzt sich dem eine Frau, etwa durch Trennung oder einen zu modernen Lebensstil, beschmutzt sie in den Augen der Familie deren vermeintliche Ehre. Täter sind Bruder, Vater oder Ehemann.
Was ist das Problem?
Aus der Sicht des Juristen ist der Begriff Ehrenmord problematisch, denn er ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Jemand, der einen anderen Menschen kaltblütig ermordet, kann nicht ehrenhaft handeln. Aktuell fordern immer mehr Stimmen, statt von "Ehrenmorden" von "Femiziden" zu sprechen. Also Tötungen von Frauen aufgrund patriarchaler Strukturen, die auf Frauenhass basieren.
Gerichtsgutachten
Worum geht es in dem Fall?
Der ehemalige Schulleiter Arno K. wird 2011 brutal erschlagen. Dann wird eine Leiche in Greven gefunden - durch extreme Gewalt so entstellt, dass erst eine Obduktion sicher seine Identität belegen kann. Doch wer waren der oder die Täter? Ein Gutachter der Rechtsmedizin hilft, den Fall zu lösen.
Was ist Fakt?
Ein Gutachter wird dann hinzugezogen, wenn das Gericht wichtige Fragen aus eigener Sachkunde nicht beantworten kann. Meistens handelt es sich dabei um Fragen aus drei Bereichen:
Erstens: Ist der Angeklagte voll, teilweise oder nicht schuldfähig? Denn die Schuldfähigkeit kann etwa durch medizinische Aspekte von geistigen Erkrankungen, Affekten oder Rauschzuständen beeinträchtigt sein. Zweitens kann ein Gutachter aber auch nötig sein, um die Glaubwürdigkeit problematischer Zeugen zu klären. Drittens geht es um Fragen der Kriminalwissenschaften, die geklärt werden müssen etwa zu Fingerabdrücken, zum DNA-Abgleich oder der Rechtsmedizin bei ungeklärten Todesumständen.
Diesen Gutachten kommt extrem hohes Gewicht zu, da ein Richter nicht über medizinisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt.
Was ist das Problem?
Ich erinnere mich etwa an einen Fall in dem ein maskierter Bankräuber durch einen "Nasengutachter" anhand eines kleinen freien Teils seiner Nase unter seiner Sturmhaube identifiziert werden konnte. Das zeigt, wie detailliert und präzise Gutachter arbeiten können und müssen.
In einem anderen Fall wurde ein Cold Case (ein bereits zu den Akten gelegter Raubüberfall mit Geiselnahme in Bochum) mittels DNA-Spuren an einer Maske vollständig aufgeklärt, die an einem ganz anderen Tatort aufgefundenen wurde.
Lebenslänglich
Worum geht es in dem Fall?
Fünf Frauen fallen zwischen den Jahren 1983 und 1990 dem Serienmörder Egidius Schiffer zum Opfer. Sie alle wollten per Anhalter mit ihm fahren und ahnten nicht, dass sie bei einem Mörder einsteigen.
Was ist Fakt?
Bei "Lebenslänglich" handelt es sich in Deutschland um die höchste Strafe, die das Strafrecht kennt. Der Begriff suggeriert zwar, dass der Täter in der Folge für den Rest seines Lebens ins Gefängnis muss, tatsächlich sind es jedoch 15 Jahre. Anschließend folgt meist ein Gutachten, auf dessen Basis entschieden wird, ob die Haftstrafe verlängert werden muss oder nicht.
"Lebenslänglich" wird nur für ganz bestimmte Delikte ausgesprochen, dazu zählen Mord, Hochverrat, Spionage und diverse Gewalttaten mit Todesfolge. Anders als in den USA wird in Deutschland auch für mehrere Taten nur einmal "Lebenslänglich" ausgesprochen. Die durchschnittliche Verbüßungsdauer eines zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilten Täters liegt in NRW bei 18,5 Jahren.
Was ist das Problem?
Eine juristische Debatte um das Strafmaß "Lebenslänglich" gibt es aktuell nicht.
Sicherungsverwahrung
Worum geht in dem Fall?
Ein Brutaler Raubmord in Wuppertal: 2012 überfallen zwei Männer einen Juwelierladen. Dabei eröffnen sie plötzlich das Feuer auf zwei Verkäuferinnen. Der Raubmord findet zur besten Einkaufszeit statt. Die Polizei beschreibt die Tat als besonders brutal und rücksichtlos. Das Urteil: Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Was bedeutet der Begriff?
Die Sicherungsverwahrung ist eine sog. Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie knüpft allein an die Gefährlichkeit des Täters an und wird vom Gericht unter strengen Voraussetzungen nur für bereits mehrfach verurteilte Täter angeordnet. Eingeführt wurde diese 1933 im Rahmen des sog. Ermächtigungsgesetzes des NS-Staates (zur Bekämpfung sog. Gewohnheitsverbrecher). Sie ist grundsätzlich unbefristet und stellt damit das schärfste Schwert strafrechtlicher Sanktionen dar.
Was ist das Problem?
Die Probleme der SV liegen darin, dass eine jährliche Überprüfung der Gefährlichkeitsprogose zu erfolgen hat und für die Unterbringung besonders ausgestaltete Anstalten (in Abgrenzung zum eigentlichen Strafvollzug) vorhanden sein müssen. Derzeit tragen ca. 600 Strafgefangene den „Rucksack“ der Sicherungsverwahrung mit sich herum.
Strafbefehl
Worum geht es in dem Fall?
Eine 42 Jahre alte Wuppertalerin stirbt im November 2021 bei einem Verkehrsunfall. Der Wagen eines jungen Autofahrers erfasst sie beim Überqueren der Straße. Die Familie trauert, und ist nach eigener Aussage sehr wütend über die Aufarbeitung durch die Justiz. Einen Prozess gibt es nicht.
Was ist Fakt?
Gerichte können bei leichterer Kriminalität, sogenannte Vergehenstatbestände, auch ohne Verhandlung ein Strafmaß festsetzen. Zudem wird der Strafbefehl oft auch als Versäumnisurteil genutzt, wenn der oder die Angeklagte nicht zum Gerichtstermin erscheint. Das Strafmaß ist auf Geld- oder Freiheitsstrafen bis maximal ein Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt.
Ein Strafbefehl hat einige Vorteile: Der Staat spart Kosten, die Justiz wird entlastet, Zeugen bleibt der Gang zum Gericht erspart. Beschuldigte vermeiden eine anstrengende öffentliche Hauptverhandlung, und wie beispielsweise im Fall von Marco Reus auch eine sonst sicher sehr umfangreiche Berichterstattung über genau diese.
Was ist das Problem?
Im Gegensatz zu einer gerichtlichen Hauptverhandlung muss sich beim Strafbefehl ein Richter allerdings nicht anhand diverser Beweismittel eine sichere Überzeugung bilden. Mutmaßliche Täter und Täterinnen können auch anhand der Aktenlage schuldig gesprochen werden. Das ist ein Kritikpunkt am Strafbefehl.
Sozialprognose im Strafvollzug
Worum geht es in dem Fall?
Frank Gust ist neun Jahre alt, als er sein Meerschweinchen mit einer Betonplatte erschlägt. Ab diesem Zeitpunkt entwickelt der spätere Serienmörder weitere grausame Charaktereigenschaften. Mit 13 dringt er in die Leichenhalle des Friedhofs Oberhausen ein. Mit 24 tötet er zum ersten Mal ein Pferd. Doch es bleibt nicht bei Tieren. Insgesamt tötet der so genannte Rhein-Ruhr-Ripper vier Frauen. Bereits 1994 deutet Frank Gust seiner Mutter gegenüber an, einen Mord begangen zu haben. Diese berichtet jedoch erst 1999 einer Freundin davon, die daraufhin die Polizei auf den Serienmörder aufmerksam macht. Kurze Zeit später wird er verhaftet. Ob Gust eines Tages freigelassen werden darf, muss letztendlich von psychologischen Gutachtern und den Gerichten entschieden werden.
Was ist Fakt?
Unter einer Sozialprognose (auch Legalprognose) versteht man die kriminologisch-psychiatrische Risikoeinschätzung eines Straftäters. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob er in Zukunft straffrei leben - und somit vorzeitig entlassen werden kann.
Die endgültige Entscheidung trifft allein ein Richter, der dabei auch einen Ermessensspielraum hat. Zur Vorbereitung auf diese Entscheidung werden allerdings verschiedene psychiatrische Gutachten erstellt. Die setzen sich mit der Tat, der Persönlichkeit des Täters und seiner Entwicklung im Strafvollzug auseinander.
Was ist das Problem?
Gerade bei Gewaltdelikten (insbesondere im Sexualbereich) muss zwingend ein schriftliches Gutachten eines Sachverständigen eingeholt werden. Bei derartigen Delikten will und muss man auf Nummer sicher gehen, denn die Rückfallgefahr wird bei triebgesteuerten Taten weitaus höher eingeschätzt. In der Praxis ist es schon häufig zu Rückfällen und damit zu falschen Prognosen gekommen, entsprechend ist hier besondere Vorsicht geboten. Andererseits müssen aber gerade bei Prognosen auch Risiken in Kauf genommen werden.
Wiederaufnahmeverfahren
Worum geht es in dem Fall?
Im April 1957 wird am Aasee in Münster die Leiche von Hermann Rohrbach gefunden. Kopf und Beine fehlen. Schnell fällt der Verdacht auf die Ehefrau. Maria Rohrbach wird in einem Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Jahre später taucht ein Totenschädel auf. Es ist der Kopf von Hermann Rohrbach. Sitzt Maria Rohrbach unschuldig im Gefängnis? Das Gericht rollt den Fall erneut auf - mit überraschenden Erkenntnissen:
Was ist Fakt?
Die Rechtskraft von Urteilen kann aus Gründen der Gerechtigkeit - zur Vermeidung oder Korrektur eines „Justizirrtums“ - durchbrochen werden, allerdings nur unter ganz engen Voraussetzungen. Denn grundsätzlich haben auch Fehl-Urteile ihre Gültigkeit.
Hier die wichtigsten Gründe für ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten eines Verurteilten: Neue Tatsachen oder Beweismittel sind aufgetaucht, die vom Gericht vorher nicht berücksichtigt wurden. Oder es stellt sich später heraus, dass ein Zeuge gelogen hat.
Ein Strafverfahren kann auch gegen einen freigesprochenen Angeklagten wieder aufgerollt werden, wenn er nachträglich ein Geständnis ablegt. Bei Mord ist es wiederum möglich, wenn weitere nachträgliche Beweismittel wie zum Beispiel später gefundene DNA-Spuren ermittelt wurden.
Was ist das Problem?
In der Praxis sträuben sich die Gerichte in der Regel gegen Wiederaufnahmeverfahren, da sie ungern ihre eigenen Urteile in Frage stellen. Meistens wird ein Wiederaufnahmeverfahren deshalb auch nicht beim gleichen Gericht durchgeführt, sondern an ein Gericht eines anderen Bezirkes verwiesen.
Verjährung im Strafrecht
Worum geht es in dem Fall?
Am 4. November 1982 verschwindet die damals 18-jährige Lolita Brieger in der Eifel. Eine Kollegin sieht sie noch auf dem Weg zu ihrem damaligen Freund, danach fehlt von ihr jede Spur. Für 29 Jahre. Der Druchbruch gelingt erst 2011 in der Fernsehsendung "Aktenzeichen XY". Die Ermittler betonen in der Sendung: Mögliche Helfer von damals müssen wegen Verjährung keine Strafe fürchten. Tatsächlich führen Hinweise schließlich zur Leiche und zum Täter. Das Gericht wertet seine Tat als Totschlag, nicht als Mord. Der Mann wird unverzüglich aus der Haft entlassen: Seine Tat ist verjährt.
Was ist Fakt?
Es gibt eine Verfolgungsverjährung und eine Vollstreckungsverjährung. Beide richten sich nach der Höhe der zu erwartenden oder verhängten Strafe. Bei der Verfolgungsverjährung wird geklärt, ob eine Tat noch verfolgt werden darf. Die Verjährungsfristen sind gestaffelt: Für Diebstahl, Betrug und einfache Körperverletzung zum Beispiel fünf Jahre, für schwerwiegendere Delikte zehn bis 30 Jahre.
Die Vollstreckungsverjährung umfasst den Zeitraum, nach dessen Ablauf ein rechtskräftig Verurteilter nicht mehr eingesperrt werden darf. Anders als bei der Verfolgungsverjährung wird hier eine Tat in das Vorstrafenregister und das polizeiliche Führungszeugnis eingetragen - auch wenn der Täter nicht ins Gefängnis muss.
Wenn ein Staatsanwalt merkt, dass eine Verjährung droht, kann er eine gerichtliche Maßnahme einleiten. Das sind zum Beispiel Durchsuchung, Anklageerhebung und Haftbefehl. Dann verlängert sich die Verjährungsfrist.
Bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen ruht die Verjährung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers. Damit hat es genügend Zeit, sich zu distanzieren und Anzeige zu erstatten aus Gründen des Opferschutzes. Und: Im Bereich lebenslanger Freihheitsstrafen, also Mord, gibt es keine Verährung!
Was ist das Problem?
Im Fall von Lolita Brieger wurde der Täter, der damalige Freund der jungen Frau, erst 29 Jahre nach der Tat gefunden. Er wurde wegen Mordes angeklagt. Weil allerdings besondere Mordmerkmale nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnten, hat das Gericht den Mann "nur" wegen Totschlags verurteilt. Die Verjährungsfrist beträgt hierbei 20 Jahre. Der verurteilte Täter musste also nicht ins Gefängnis - so bleibt die Tötung einer jungen, schwangeren Frau letztlich ungesühnt.
Strafmündigkeit
Worum geht es in dem Fall?
2018 erwürgt in Wenden ein 14-jähriger Jugendlicher seinen 16-jährigen Mitschüler. Der Grund für die Tat soll Liebeskummer gewesen sein. Es ist einer von immer mehr Fällen, in denen Kinder und Jugendliche gewalttätig werden. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen ermittelte 2022 gegen knapp 21.000 tatverdächtige Kinder unter 14 Jahren - ein Anstieg um 41,1 Prozent innerhalb eines Jahres.
Was ist Fakt?
Der Begriff der Strafmündigkeit ergibt sich aus dem Jugendgerichtsgesetz. Dort unterscheidet man zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden. Personen unter 14 Jahre sind strafunmündig und können überhaupt nicht bestraft werden. Personen ab 14 Jahre bis unter 18 sind so genannte Jugendliche und über 18 und unter 21 ist man Heranwachsender. Bei Jugendlichen wird geprüft, ob sie die so genannte Einsichtsfähigkeit besitzen, die so genannte Strafmündigkeit. Das bedeutet, ob sie einsichtig sind, dass ihr Verhalten überhaupt strafrechtlich relevant gewesen sein könnte. Bei Heranwachsenden wird später noch geprüft, ob sie eher einem Erwachsenen oder noch einem Jugendlichen gleichzustellen sind und dadurch dann entweder das Jugendstrafrecht oder das Erwachsenenstrafrecht angewendet werden kann.
Was ist das Problem?
Ab welchem Alter sollten Kinder und Jugendliche als strafmündig gelten? Ab wann besitzen sie die Reife, einsehen zu können, dass sie gerade etwas Falsches tun? Über diese Fragen wird gesamtgesellschaftlich immer wieder diskutiert. Europaweit haben Länder darauf ganz unterschiedliche Antworten gefunden, für die es jeweils ganz eigene Argumente gibt. In Frankreich oder Großbritannien beispielsweise gilt man bereits mit zehn Jahren als strafmündig. In Norwegen hingegen erst ab 15 und in Luxemburg sogar erst ab 18 Jahren. Was man sich immer bewusst machen muss: Auch wenn ein Kind unter 14 Jahren in Deutschland eine Straftat begeht, bleibt das nicht folgenlos. Das Jugendamt kann in diesem Maßnahmen ergreifen und mitunter drohen zivilrechtliche Konsequenzen. Bei letzteren können Kinder bereits ab dem siebten Lebensjahr haftbar gemacht werden, wenn es zum Beispiel um die Zahlung von Schmerzensgeld geht. Allerdings gibt es auch hier die Einschränkung, dass das Kind verstehen können musste, dass es etwas Falsches getan hat.
Im Fall von Wenden war der Täter älter als 14 Jahre, folglich kam es auch zum Prozess vor dem Jugendgericht. Das Gericht hielt den Jungen allerdings wegen einer psychischen Krankheit für nicht oder nicht voll schuldfähig. Deswegen wurde er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Schuldfähigkeit
Worum geht es in dem Fall?
Fünf Kinder verschwinden in den 1960er-Jahren in Velbert, doch die Polizei hat keine heiße Spur. Erst als sich eines der Opfer befreien und fliehen kann, kommt Bewegung in den Fall. Die Hinweise des Opfers führen die Polizei zu einem Bunker mit Kinderleichen und schließlich auch zum Täter: Jürgen Bartsch. Das Gericht sieht den Kindermörder als schuldfähig an und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus - später verändert der Fall die Strafjustiz und den Umgang mit Schuld(un)fähigkeit.
Was ist Fakt?
"Schuldfähigkeit ist die höchste Fähigkeit, die ein Mensch entwickeln kann" (Zitat von Martin Walser). Es ist nämlich die Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Im heutigen Schuldstrafrecht findet sich das in den Paragrafen 20 und 21 StGB mit dem Grundsatz: "Nulla poena sine culpa" - Keine Strafe ohne Schuld.
Paragraf 20 StGB regelt die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Dort heißt es: "Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Das heißt: Dieser Täter, der darunter fällt, wird in der Regel freigesprochen, läuft aber dann Gefahr im Maßregelvollzug in der Psychiatrie nach Paragraf 63 StGB untergebracht zu werden.
Paragraf 21 StGB spricht von einer verminderten Schuldfähigkeit, wenn die Steuerungsfähigkeit oder Einsichtsfähigkeit erheblich vermindert ist. Folge ist eine Reduzierung des Strafrahmens oder eine Strafrahmenverschiebung. Zum Beispiel, wenn jemand wegen Mordes angeklagt ist und man erkennt eine verminderte Zurechnungsfähigkeit, dann wird der Strafrahmen von einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe auf eine zeitige Freiheitsstrafe von maximal 15 Jahren verschoben.
Das Gesetz geht davon aus, dass es ohne Schuld keinen Mörder gibt, man spricht hier von einem so genannten dreistufigen Deliktsaufbau. Denn selbst wer einen Mord begangen hat, kann, wenn er ohne Schuld gehandelt hat, freigesprochen werden. Auch wenn er heimtückisch, grausam, aus Mordlust oder Habgier gehandelt hat. Das Ganze muss auch ohne Rechtfertigungsgründe, Notwehr oder rechtfertigenden Notstand geschehen sein. Heute zieht man für die Begutachtung eine Liste heran, die so genannte DSM, das heißt "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" und ist ein wissenschaftliches Diagnosesystem.
Was ist das Problem?
In dem ersten Urteil von 1967 gegen Jürgen Bartsch hatte man seine psychische Störung nicht berücksichtigt. 1969 hebt der Bundesgerichtshof das Urteil unter anderem deswegen auf und lässt eine Revision zu. Nach eingehender medizinischer Begutachtung von Bartsch plädieren die Sachverständigen im Sinne der Verteidigung. "Man ist zur Auffassung gekommen: Es ist nicht beherrschbar, es ist eine Krankheit", sagte Anwalt Bossi. Der Fall Jürgen Bartsch war richtungsweisend für die psychiatrische Begutachtung und deren Relevanz in Strafprozessen.