5 Kriminalfälle, die die Justiz in NRW verändert haben
Stand: 06.05.2024, 17:03 Uhr
Foltermord in der JVA Siegburg, der Vampir von Düsseldorf oder Serienmörder Jürgen Bartsch: Es gibt Fälle, die so außergewöhnlich sind, dass sie das Justizsystem in NRW nachhaltig verändert haben. Wir stellen sie vor.
Von Martin Henning
Bombenanschlag auf das Amtsgericht Euskirchen
Für jeden, der in den vergangenen Jahren beim Amtsgericht war, ist es selbstverständlich: Taschen werden durchleuchtet, man muss einen Metalldetektor passieren, mögliche Waffen werden von Justizbeamten eingesammelt. Das war aber nicht immer so. Grund ist ein Vorfall vom 9. März 1994.
An diesem Tag sollte Erwin Mikolajczyk vor dem Amtsgericht Euskirchen erscheinen. Ihm wurde vorgeworfen, seine 56-jährige Ex-Freundin verprügelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wollte den Fall mit einem Strafbefehl und einer Geldzahlung von 4000 D-Mark zu den Akten legen. Mikolajczyk lehnte ab. Es kam zur Verhandlung vor Gericht.
- Was ein Strafbefehl ist, liest du hier: Reinhardt und das Recht
Seine Aggressivität und Unberechenbarkeit hatten Mikolajczyk schon häufiger in Schwierigkeiten gebracht, sie kosteten ihn auch seinen Job als Busfahrer bei der Euskirchener Verkehrsgesellschaft RVK. Es ist bekannt, dass der 39-jährige Heiz- und Kesselwerker mehrere Waffen besitzt und ein guter Schütze ist. Die RVK warnt die Polizei: Sie könne nicht ausschließen, dass der Mann in seinem "unbeherrschten Zustand" von seinen Waffen Gebrauch machen würde. Doch diese scheint die Warnung zu ignorieren.
Zur Verhandlung am 9. März erscheint Mikolajczyk mit Rucksack und in einem bizarren Outfit: Er trägt ein aus Knoblauch gebundenes Kreuz, Lackmantel und Gummistiefel. Bevor die Anhörung beginnen kann, bringt er seinen Verteidiger mit provokantem Verhalten dazu, dass dieser sein Mandat niederlegt. Also verteidigt sich der 39-Jährige selbst. Sein Widerspruch wird abgelehnt und Mikolajczyk zu 7200 D-Mark Geldstrafe verurteilt.
Verurteilter richtet Massaker im Gericht an
Noch während der Urteilsverkündung verlässt er den Gerichtssaal. Dann: Schreie aus dem Flur. Mikolajczyk hat einen Colt, Kaliber 45, gezogen und schießt wahllos auf Menschen. Er tötet einen unbeteiligten 37-Jährigen und eine 71 Jahre alte Frau, richtet danach seine Ex-Freundin hin. Sekunden später stürmt er zurück in den Gerichtssaal, erschießt erst den Richter, dann eine 67-jährige Zuschauerin und schließlich einen 39 Jahre alten Mann. Einen verletzten Rechtsanwalt will er per Kopfschuss töten, doch die Munition ist verbraucht. Anstatt nachzuladen, zündet er eine selbstgebastelte Bombe in seinem Rucksack und setzt seinem Leben damit ein Ende. Mikolajczyk ist das letzte von sieben Todesopfern. Sieben weitere Personen werden zum Teil schwer verletzt.
Infolge der brutalen Tat wird das Sicherheitskonzept in Gerichten grundlegend überarbeitet.
Serienmörder Jürgen Bartsch
In den 60er-Jahren geht in Essen die Angst um. Fünf Kinder, zwischen acht und 14 Jahre alt, verschwinden spurlos. Die Polizei tappt lange im Dunkeln. Bewegung in die Ermittlungen kommt erst, als das letzte Kind, der 14-jährige Peter Frese, in einer Polizeiwache auftaucht. Er sei entführt worden, habe aber fliehen können, erzählt Frese den Beamten. Das Kind führt die Ermittler in einen Luftschutzbunker. Dort finden sie die Leichen des achtjährigen Klaus Jung, des elf Jahre alten Manfred Graßmann, des zwölfjährigen Ulrich Kahlweiß und des 13 Jahre alten Peter Fuchs.
Auf die Spur des Täters kommt die Polizei durch einen Hinweis des Malermeisters Reinhard Beck. Er hatte im Juni 1961 Anzeige gegen einen Schlachterlehrling namens Jürgen Bartsch erstattet. Bartsch soll Becks zwölfjährigen Sohn Frank unter dem Vorwand, er wolle ihm einen Schatz zeigen, in den erwähnten Bunker gelockt und belästigt haben.
Kastration endet tödlich
Die Polizei nimmt den 19-jährigen Bartsch fest, der die Taten gesteht. Es folgt ein Prozess am Wuppertaler Landgericht, der eine beispiellose Aufmerksamkeit durch Menschen und Medien hervorruft. Weil Bartsch seine minderjährigen Opfer auf Jahrmärkten ansprach, erhält er den Spitznamen "Kirmesmörder".
Bartsch wird zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Doch die Verteidigung geht in Revision und hat Erfolg. Im zweiten Prozess kommen erstmals in der Geschichte psychiatrische Gutachter zum Einsatz. Sie führen Bartschs sadistische und pädophile Neigungen auf seine grausame Kindheit als Adoptivkind zurück. Der Vierfachmörder erhält eine Jugendstrafe von zehn Jahren samt anschließender Unterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn. Um der lebenslangen Unterbringung in einer Psychiatrie zu entgehen, stimmt Bartsch einer Kastration zu. Bei der Operation kommt es zu Komplikationen, Bartsch stirbt an einer Überdosis des Inhalations-Narkosemittels Halothan.
Foltermord in der JVA
Der Mord am 20 Jahre alten Gefangenen Hermann H. in der JVA Siegburg im Jahr 2006 erregt durch seine Brutalität bundesweit Aufsehen. Über elf Stunden wird H. in seiner Zelle von drei Mitinsassen systematisch gefoltert, vergewaltigt und schließlich getötet.
H. sitzt in der JVA eine sechsmonatige Haftstrafe ab. Seine Zelle 104 teilt er lange Zeit mit Ralf A. Wegen Umbauarbeiten im Gefängnis kommen schließlich auch die Mitinsassen Pascal I. und Danny K. dazu. Die drei Täter sollen den Tod ihres Zellengenossen systematisch geplant haben, wird die Staatsanwaltschaft später sagen.
Am Karnevalswochenende des 11. und 12. November 2006 setzen die Insassen ihren Plan in die Tat um. Nach einem stundenlangen Martyrium zwingen sie H., sich mit einem zum Strick gebundenen Bettlaken zu erhängen. So soll ein Suizid vorgetäuscht werden. Ermittler kommen den Tätern schnell auf die Spur.
Debatte um Sicherheit in deutschen Gefängnissen
Die drei Männer gestehen. Sie werden zu langen Haftstrafen verurteilt, zum Teil mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der Foltermord in der JVA Siegburg heizt Debatten um die Sicherheit in deutschen Gefängnissen an.
Besonders die Überlastung und der Personalmangel werden kritisiert. Zur Zeitpunkt der Tat waren beispielsweise nur vier Vollzugsbeamte in der gesamten JVA im Einsatz. Als Konsequenz aus der Gräueltat wird die Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf gebaut. Seitdem sitzen in der JVA Siegburg keine jugendlichen Straftäter mehr ein. Außerdem werden jugendliche Gefangene in NRW nur noch in Einzelzellen untergebracht.
Familie Girod gegen die Polizei
Mit seiner Frau Brunhilde und den sechs gemeinsamen Kindern lebt Karl-Heinz Girod in einer Wohnung in Oberhausen-Sterkrade. Girod ist erwerbsunfähig, die Familie lebt von 1880 D-Mark Sozialhilfe. Girod hat große Angst vor ärztlichen Untersuchungen. Eine solche wäre nötig, um Rente beziehen zu können. Er fürchtet, dass man ihn auch psychiatrisch untersuchen und in eine Nervenheilanstalt einweisen könnte. 1967 hatte ein Amtsarzt bei ihm Wahnvorstellungen und eine Neigung zu Gewalt diagnostiziert.
So entzieht sich der Familienvater den Untersuchungen immer wieder, bis am 15. Juni 1972 vier Beamte mit einem Durchsuchungsbefehl vor der Tür stehen. Zwei Monate zuvor hatte die Polizei angekündigt, sie könne Girod auch gegen dessen Willen dem Arzt vorführen. Der hatte entgegnet, er werde jeden Beamten, der seine Wohnung betrete, "über den Haufen schießen".
Wie ernst es ihm damit ist, wird an diesem Junitag klar. Zwischen den Beamten und Karl-Heinz Girod entwickelt sich eine Diskussion. Girod bittet die Polizisten, sich eine Insulinspritze setzen zu dürfen. Die stimmen zu. Statt der Spritze zieht er eine Pistole aus seinem Hosenbund. Auch seine Frau und zwei minderjährige Söhne zücken Schusswaffen, eröffnen das Feuer und verschanzen sich in der Wohnung. In der Straße bricht Chaos aus. Nachbarn und in der Nähe stehende Schutzpolizisten geraten ebenfalls ins Visier der Familie. Journalisten halten alle Details des Polizeieinsatzes mit der Kamera fest.
Bei der Schießerei werden drei Polizisten getötet, mehrere zum Teil lebensgefährlich verletzt. Am Ende haben die Girods 388 Schüsse abgegeben. Der Polizeieinsatz wird später durch das nordrhein-westfälische Innenministerium in einem Untersuchungsbericht aufgearbeitet, er gilt als "Lehrbeispiel für Fehlverhalten".
Hauptvorwürfe: Die Beamten seien nicht ausreichend auf den Einsatz vorbereitet worden und dutzende Schaulustige und Journalisten hätten sich ungeschützt in der Gefahrenzone aufhalten können. Auch als Reaktion auf diesen tödlichen Polizeieinsatz entscheidet die Innenministerkonferenz im Jahr 1974, Spezialeinsatzkommandos (SEKs) ins Leben zu rufen.
Der "Vampir von Düsseldorf"
Er gilt als einer der skrupellosesten Serienmörder des 20. Jahrhunderts: Zwischen 1913 und 1929 tötet Peter Kürten mindestens neun Menschen im Rheinland. Die Brutalität seiner Taten macht ihn auch international bekannt. Einige seiner Opfer ersticht er mit einem Messer oder einer Schere, andere erschlägt er mit einem Hammer. Dass er in mindestens einem Fall auch das Blut seiner Opfer getrunken haben soll, bringt ihm den Spitznamen "Vampir von Düsseldorf" ein.
Kürten agiert vor allem rund um seine Wohnung in der Mettmanner Straße im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Die brutal zugerichteten Opfer sorgen für eine regelrechte Hysterie in der Bevölkerung. Der berühmte Berliner Kriminalist Ernst Gennat prägt für Kürten den Begriff "Serienmörder".
Prekäre Kindheit
Kürten selbst kommt bereits in jungen Jahren mit dem Gesetz in Konflikt. Er quält und tötet Tiere, begeht Überfälle und Diebstähle, setzt Gebäude in Brand. Regelmäßig muss er Haftstrafen absitzen.
Seinen ersten Mord begeht er mit 30 Jahren. Der neunjährigen Christine Klein schneidet er im Schlaf die Kehle durch. Dazu kommen acht weitere Morde, allein im Jahr 1929. Die Gewalt bereitet Kürten sexuelles Vergnügen. Er informiert die Polizei durch Postkarten und handgeschriebene Briefe über die Taten, ergötzt sich regelrecht an der Aufregung.
Peter Kürten legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres
Auf die Spur des Serienmörders kommen die Ermittler erst durch eine überlebende Frau, die die Beamten zu Kürtens Wohnung führt. Dieser ist schon untergetaucht, bei einem Verhör verrät Kürtens Frau aber, dass sie sich mit ihrem Mann an der Düsseldorfer Rochuskirche treffen möchte. Dort wird Kürten schließlich verhaftet.
Wegen neunfachen Mordes und zehnfachen versuchten Mordes wird Kürten im April 1931 zum Tode verurteilt und am 2. Juli 1931 hingerichtet. Der Fall des "Vampirs von Düsseldorf" ist auch deshalb bedeutsam, weil erstmals im deutschsprachigen Raum laut einer BKA-Forschung so etwas wie ein Täterprofil für die Suche nach dem Verdächtigen erstellt wurde. Ein Kriminaldirektor hatte es damals im "Deutschen Kriminalpolizei-Blatt" veröffentlicht. Der Ermittler schrieb von einem hochintelligenten Einzeltäter, der durchaus sympathisch erscheine und vermutlich als Angestellter in gehobener Position arbeite.