Karl-Heinz Girod bei seiner Verhaftung im Jahr 1972

Polizistenmord von Oberhausen: Warum die Polizei überfordert war

Oberhausen | Verbrechen

Stand: 15.01.2024, 10:13 Uhr

In Oberhausen-Sterkrade schießt 1972 eine ganze Familie um sich. Dabei sterben drei Polizeibeamte, vier werden schwer verletzt. Der Fall gilt mittlerweile als Lehrbeispiel für Fehler bei Polizeieinsätzen. Professor Rafael Behr ist Polizeiforscher und erläutert im Interview, warum das heute so nicht mehr passieren würde.

Von Axel Sommer

1

Ein Einsatz, der aus dem Ruder läuft

Vier Polizeibeamte klingeln mit einem Durchsuchungsbefehl beim ehemaligen Chemie-Arbeiter Karl-Heinz Girod in Oberhausen-Sterkrade. Der Mann ist als Querulant bekannt, liefert sich seit Jahren einen Privatkrieg mit den Behörden. Zuletzt drohte er damit, dass er die Beamten "über den Haufen schießen" werde, sollte er polizeilich zu einer amtsärztlichen Untersuchung vorgeführt werden. 

Das reicht dem Duisburger Amtsgericht. Es verhängt im Mai 1972 einen Durchsuchungsbefehl auf Waffen, den die Beamten am 15. Juni 1972 vollstrecken sollen. Girod öffnet freundlich die Tür, lässt die Beamten herein. Seine Frau und fünf Kinder halten sich auch in der Wohnung auf. 

Mit einem Trick lenkt Girod die Beamten ab, zieht verdeckt eine Pistole aus der Hosentasche und schießt. Drei Beamte brechen schwer verletzt zusammen, einem gelingt die Flucht. Obwohl die Schutzpolizei zur Sicherheit auf der Straße wartet, bricht daraufhin Chaos aus. Über den Fall berichtet auch das True-Crime-Format MordOrte der Lokalzeit auf seinem YouTube-Kanal.

Drei tote Polizisten

Die Familie Girod verschanzt sich in ihrer Wohnung und feuert aus dem Fenster weiter auf die Beamten. Dutzende Schaulustige, Beamte und Journalisten begeben sich ungeschützt in die Gefahrenzone. Erst durch Tränengas und zähe Verhandlungen mit den Girods lässt sich der Einsatz nach mehr als drei Stunden beenden. Zu diesem Zeitpunkt sind drei Beamte tot und vier schwer verletzt.

Der Fall gilt mittlerweile als Lehrbeispiel für Fehler bei Polizeieinsätzen. Professor Rafael Behr ist Polizeiforscher und erläutert im Interview, warum das heute so nicht mehr passieren würde.

2

Warum war die Polizei damals überfordert?

Lokalzeit.de: Herr Behr, wo sind in Oberhausen die größten Fehler passiert?

Rafael Behr: Anhand der Dinge, die öffentlich bekannt sind, würde ich sagen: Es hat an abgestimmter Kommunikation zwischen Schutz- und Kriminalpolizei gefehlt. Die Verantwortlichen haben unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit zugelassen. Es waren Anwälte, Nachbarn und Medienvertreter vor Ort. Die waren zum einen durch die polizeilichen Maßnahmen gefährdet, aber natürlich auch vom Schusswaffengebrauch der Täter. Das sind Dinge, die heute sehr anders gemacht werden würden. Sie haben damals getan, was sie tun konnten. Aber sie waren insgesamt schlecht auf diese Situation vorbereitet.

Polizeiforscher Rafael Behr im Porträt

Polizeiforscher Rafael Behr

Lokalzeit.de: Wie konnte es zu solch grundlegenden Fehlern kommen?

Behr: Die Beamten hatten keine Vorbilder und dementsprechend auch keine Übung darin, solche Lagen professionell zu bearbeiten. Man muss sich vorstellen, in welcher Zeit sich die Tat abgespielt hat. Das war Anfang der 70er-Jahre. Da ist in Deutschland einiges passiert, was beispiellos war. Es fängt 1968 mit der Studentenbewegung an, die auch gleichzeitig eine Aktivität der RAF in Gang gesetzt hat. Und die RAF allein hat zahlreiche Einsätze ausgelöst, auf die die Polizei überhaupt nicht vorbereitet war. Es gab in den 70er-Jahren eine Anhäufung von Verbrechen und Taten, für die die Polizei schlicht nicht ausgerüstet war.

Lokalzeit.de: Der Fall gilt heute als Lehrbeispiel für Fehler bei Polizei-Einsätzen. Was hat man daraus gelernt?

Behr: Institutionell hat die Polizei daraus gelernt, das Personal auf solche Einsätze besonders vorzubereiten. Plötzlich wurde klar: Mit normalen Streifen- oder Kriminalbeamten kriegen wir solche Fälle nicht gelöst. Im Jahr 1974 hat die Innenministerkonferenz deshalb entschieden, Spezialeinsatzkommandos, also SEKs, aufzustellen. Das war die Geburtsstunde der SEKs der Länder. Die gab es während der Tat in Oberhausen also noch gar nicht.

Karl-Heinz Girod wird abgeführt

Bei der Verhaftung von Girod (zerrissenes Shirt) hatte sich eine aufgebrachte Menge eingefunden

3

Könnte sich so ein Fall wiederholen?

Lokalzeit.de: Glauben Sie, dass so etwas heute immer noch passieren könnte?

Behr: Heute - und das sehen Sie auch im Fernsehen - laufen solche Einsätze ganz anders ab. Die erste Maßnahme ist das Absperren des Tatorts. Und zwar weiträumig. Das machen normale Schutzpolizisten. Dann kommen die SEKs angefahren. Und dann sieht man erstmal… nicht viel. Sie steigen aus und bereiten sich vor. In der Zwischenzeit wird die Lage verdichtet. Die Beamten beschaffen sich erstmal alle Informationen. In Fachkreisen heißt es: die Lage lesen. Diese Spezialeinheiten haben heute ein anderes Konzept. Wenn sich heute jemand verbarrikadiert, so wie Girod damals, sieht niemand eine Notwendigkeit, sofort zu stürmen. Stattdessen werden erst einmal die polizeilichen Maßnahmen vorbereitet. 

Die Schießerei von Oberhausen aus dem Jahr 1972 zog einen internen Untersuchungsbericht des Innenministeriums NRW nach sich. Zu viel war einfach schiefgelaufen. Das Magazin "Der Spiegel" veröffentlicht 1974 Auszüge aus diesem Bericht:

"Die Grundregeln für die Sicherung der Polizeivollzugsbeamten beim Einschreiten wurden außer acht gelassen. Vor allem wurde die ursprünglich geplante körperliche Durchsuchung des Beschuldigten nicht vorgenommen. Wäre sie sofort durchgeführt worden, hatte dies zur Entdeckung und Sicherstellung der bei Girod in der rechten Hosentasche befindlichen Pistole geführt. Eine schlagartige Entwaffnung des Beschuldigten hätte die Eskalation von Gewalt seitens der übrigen Familienmitglieder verhindern können."

Lokalzeit.de: Ist das Gelernte aus dem Fall in Oberhausen eine Garantie dafür, dass solche Einsätze heute nicht mehr aus dem Ruder laufen würden?

Behr: Bei Veränderungen des Täterverhaltens ist ein Überraschungseffekt auch in Zukunft nicht auszuschließen. Sich hundertprozentig auf alle Fallkonstellationen vorzubereiten, ist praktisch unmöglich. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass auch die Polizei immer wieder vor neue Situationen gestellt wird. Ich bin aber überzeugt, dass so eine Lage wie damals - ein Mann in einer psychischen Extremsituation hortet Waffen und ist von einer Idee besessen, sich mit Waffengewalt zu wehren - heute sehr viel souveräner behandelt werden würde.

Weiterer Auszug aus dem Untersuchungsbericht des Innenministeriums NRW:

"Die Eigensicherungspflicht ist auch im Verlauf der weiteren Maßnahmen in erheblichem Umfange nicht beachtet worden. In der Zeit von etwa 11.40 bis 13.15 Uhr wurde mit dem unberechenbaren und heimtückischen Girod, der samt seiner Frau und seinen älteren Söhnen schußbereite Waffen trug und auch fortgesetzt ihren weiteren Gebrauch androhte, ungedeckt vor der offenen Wohnungstür verhandelt."

Lokalzeit.de: Würde bei dieser Gefahrenlage ein Täter, der bereits drei Polizeibeamte getötet hat, heute von der Polizei erschossen werden?

Behr: Eindeutig nein. Die Polizei erschießt niemanden aus Rache oder weil eine günstige Gelegenheit besteht. Natürlich hat die Polizei heute Präzisionsschützen und der finale Rettungsschuss ist in vielen Bundesländern fundiert. Aber nur, wenn Gefahr für andere besteht und nicht, solange es noch andere Möglichkeiten gibt. Todesschüsse durch die Polizei haben im Laufe der Zeit auch nicht zugenommen. Es ist ein Märchen, dass die Gewalt immer weiter zunimmt und mehr Polizeibeamte und Täter erschossen werden als früher. In Deutschland geht man sehr sorgsam mit dem Gewaltmonopol um. Und lassen Sie mich das noch hinzufügen: Das ist auch gut so.