Neue Standbeine: Warum viele Landwirte viel mehr als Landwirte sind
Stand: 25.10.2024, 14:13 Uhr
Strom, Bäume, Pferde. Immer mehr Landwirte in NRW suchen sich neue Einnahmequellen. Einige schaffen ihre Tiere dafür sogar komplett ab. Auf welche zusätzlichen Standbeine setzen Landwirte? Und wie verändert sich dadurch ihr Arbeitsalltag?
Von Stefan Weisemann
Fünf Standbeine: Der Welleshof in Uedem
Jochen Kanders klappt das Visier an seinem orangen Helm herunter. "Auf gehts", sagt er mit einem breiten Lächeln. Dann schmeißt er mit einem kräftigen Armzug seine Motorsäge an. Kanders sägt damit ein keilförmiges Loch in den Baumstamm. Der dicke Baum fällt mit einem lauten Knacken kontrolliert zur Seite um, genau zwischen andere Bäume.
Man merkt sofort: Kanders ist hier im Wald mit seiner Motorsäge in seinem Element. Dabei ist das Baumfällen eigentlich gar nicht sein Element. Kanders ist Landwirt. Doch den Hof, den er in Uedem am Niederrhein von seinen Eltern übernommen hat, hat er "komplett auf links gedreht". Es gibt dort keine Tiere mehr. Stattdessen verdient Kanders sein Geld mit Ackerbau, Strom, Bäumen und Bienen. Wie es dazu kam, zeigen wir bei WDR Lokalzeit Land.Schafft.
Wald statt Weide, Strom statt Schweine. 54 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland setzen laut Statistischem Bundesamt mittlerweile auf zusätzliche Einkommensquellen. Tendenz steigend.
Grüner Strom frisch vom Hof
"Früher haben wir Fleisch und Milch erzeugt, heute produzieren wir Strom", sagt Kanders. Und ist damit nicht alleine. Die Erzeugung erneuerbarer Energien ist das beliebteste zusätzliche Standbein von deutschen Landwirten. Auf jedem vierten Hof wird mittlerweile grüner Strom erzeugt.
Auf dem Welleshof in Uedem erhebt sich eine Biogasanlage, ein riesiger runder Behälter mit einem weißen Kuppeldach. Landwirt Kanders füttert die Anlage mit dem, was früher Kühe und Schweine gefressen haben: Mais und Zuckerrüben. So produziert er im Jahr 4,5 Millionen Kilowattstunden Strom.
Standbeine Holz und Strom: Landwirt Kanders
Biogas, das war für den Landwirt anfangs Neuland. Er und seine Frau mussten ihre Biogasanlage erst einmal kennenlernen, schlaflose Nächte inklusive. "Bei allem, was nicht rund läuft, gibt es sofort einen Alarm, den gab es dann natürlich auch nachts auf dem Handy", erzählt Marlene Wiesmann-Kanders. Mittlerweile kommen die beiden mit ihrer Biogasanlage bestens zurecht.
Zum Biogas kommt noch Strom aus Sonnenenergie. Auf vielen Dächern auf dem Hof strecken sich Photovoltaikanlagen in Richtung Sonne. Insgesamt erwirtschaftet Landwirt Kanders mehr als ein Drittel seines Einkommens mit dem Verkauf des grünen Stroms. Der Landwirt als Energielieferant.
Vom Bauern zum Baumfäller
Energie liefert Kanders auch in Form von Brennholz. Regelmäßig geht er in den Wald, der zum Hof gehört, und fällt Bäume. Immer, wenn er Zeit hat. "Das Schöne am Holz ist: Man kann das immer mal zwischendurch machen, das rennt nicht weg", sagt er.
Auf dem Hof verarbeitet eine knarrende Maschine die Stämme später zu Brennholz. Das verkauft Kanders an Tankstellen und an einen Großhändler. Kunden, die er selbst an Land gezogen hat. Denn auch die Vermarktung ist für ihn Chefsache: "Das ist harte Arbeit, das fällt einem nicht in den Schoß."
Die harte Arbeit lohnt sich: Der Holzverkauf macht immerhin 14 Prozent seines Einkommens aus. Auch deutschlandweit ist die Forstwirtschaft laut Statistischem Bundesamt die zweitbeliebteste zusätzliche Einnahmequelle von Landwirten.
Von Events, Ferien und Bienen
Wenn es um zusätzliche Standbeine geht, werden die Landwirte immer erfinderischer. Ein Hof in Alverskirchen im Kreis Warendorf wird regelmäßig zur Event-Location. Dort gibt es Grillkurse, Firmen machen dort Seminare und Weihnachtsfeiern. Rund die Hälfte der Hofeinnahmen machen diese Events aus. Die andere Hälfte die Schweinezucht.
Andere Höfe haben Ferienwohnungen eingerichtet oder bieten Ausflüge an. Ein Hof in Brilon-Radlinghausen im Sauerland wurde zur Senioren-WG umgebaut. Auch Unterstellmöglichkeiten für Pferde und Reitkurse sind eine beliebte zusätzliche Einnahmequelle von Landwirten. Ebenso die Direktvermarktung der eigenen Produkte, zum Beispiel in Hofläden in NRW.
Landwirt Kanders hat Insekten und Einkommen im Blick
Auch Landwirt Kanders in Uedem hat noch ein weiteres Standbein. Ein brummendes und summendes. Auf einem Teil seiner Ackerfläche hat er bunte Blumenwiesen gepflanzt, sogenannte "Bienenweiden". Auf die ist er ganz besonders stolz: "Hier steckt eine ganze Menge Herzblut von mir drin." Mittlerweile leben dort rund 400 verschiedene Insektenarten. Für seine Wiesen verkauft er Patenschaften. So kommen einige tausend Euro im Jahr zusammen.
Der Landwirt als Multitalent
Ein Landwirt, der nicht mehr nur Landwirt ist. Ist das die Zukunft? Klar ist: Vor allem für viele kleinere Höfe ist die klassische Viehhaltung kaum noch wirtschaftlich. Die großen Supermarktketten bestimmen die Preise, Landwirte bekommen für ihr Fleisch teilweise weniger Geld, als sie hineingesteckt haben.
Da braucht es Erfindergeist, Geschäftssinn und Mut. "Es war ein großes Wagnis, das wir als Familie, als Betrieb eingegangen sind", sagt Landwirt Kanders. Für die Umstellungen auf seinem Hof hat er einen Kredit über 2,5 Millionen Euro aufgenommen. Bereut hat er das nicht. Die Viehhaltung ist ein 24-Stunden-Job, an 365 Tagen im Jahr. Ohne Tiere kann sich Kanders seine Arbeitszeit flexibler einteilen, hat mehr Zeit für seine beiden Kinder. Auch seine Frau sagt: "Mir ist wichtig, dass der Betrieb nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt."
Auch finanziell hat sich die Umstellung gelohnt. Kanders ist viel unabhängiger von den Marktpreisen geworden. Mais und Zuckerrüben von seinen Feldern verkauft er nur, wenn der Preis stimmt. Ist er zu niedrig, kommen die Pflanzen in die Biogasanlage und sorgen dort für Einnahmen.
Ein Patentrezept für die Wandlung vom Landwirt zum Multitalent hat Kanders nicht. "Man muss das machen, von dem man meint, dass es richtig ist. Und wenn man das konsequent durchzieht, dann ist das in Ordnung", sagt er und lächelt zufrieden.