MONITOR vom 06.12.2018

Offener Rechtsbruch? Wie die Bundesregierung den Familiennachzug blockiert

Bericht: Lara Straatmann

Offener Rechtsbruch? Wie die Bundesregierung den Familiennachzug blockiert Monitor 06.12.2018 06:44 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lara Straatmann

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Achim Pollmeier: „Komplizierter wird es, wenn es ein eindeutiges Urteil gibt, es aber einfach nicht umgesetzt wird. So ist das in der deutschen Flüchtlingspolitik. Anerkannte minderjährige Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Familiennachzug, eindeutig. Doch die Bundesregierung windet sich immer wieder, das auch umzusetzen. Mit allen Mitteln will man den Nachzug beschränken, und verstößt dabei sogar ganz offen gegen europäisches Recht. Lara Straatmann.“

Es geht ein Riss durch Familie Kayed: Ali und sein Vater in Berlin - die Mutter und fünf Geschwister in Syrien. Darunter auch der acht Monate alte Chahed. Sie leben in Hama, eine Stunde von der Front entfernt. Aber auch in Hama selbst kommt es immer wieder zu Kämpfen.

Ali Kayed: „Wir machen uns immer Sorgen, weil die dort alleine sind. In Syrien gibt’s immer noch Krieg. Wir haben Angst immer davor, dass etwas zu unserer Familie passiert oder irgendwas sie trifft.“

Ali kam als Minderjähriger nach Deutschland. Er macht gerade ein Praktikum in einer Autowerkstatt und besucht die Berufsschule, während seine Mutter und die Geschwister in Syrien festsitzen. Dabei hat er das Recht, seine Familie nachzuholen. Denn Ali ist anerkannter Flüchtling, mit höchstem Schutzstatus. Doch das Auswärtige Amt erlaubte nur seinen Eltern die Einreise, den Geschwistern nicht. Auch Baby Chahed, so die Logik, sollte alleine in Syrien bleiben.

Vater: „Es kann doch nicht rechtens sein, Mütter und Väter zu trennen, Eltern von ihren Kindern zu trennen?“

Der Vater musste die Familie zurücklassen. Die Mutter blieb trotz Visum in Syrien, um sich um die kleinen Kinder und das Baby zu kümmern. Eltern dürfen kommen, ihre Kinder aber nicht? Wie kann das sein? Grund ist eine Weisung des Außenministeriums an alle deutschen Botschaften. Demnach dürfen im Regelfall Eltern ihre Kinder nur mitnehmen, wenn die Familie hier Wohnung und Lebensunterhalt finanzieren kann. Doch das ist für die meisten Kriegsflüchtlinge schlicht unmöglich.

Filiz Polat, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Ausschuss für Inneres:  „Die Forderung der Bundesregierung, dass Kinder und Jugendliche einen angemessenen Wohnraum vorhalten müssen, für die gesamte Familie, oder den Lebensunterhalt sichern, ist absurd. Das führt dazu, dass Familien getrennt bleiben oder dass Eltern sich entscheiden müssen, dass nur ein Elternteil nachziehen kann. Und das ist grausam für die Eltern.“

Das Auswärtige Amt erklärt auf Anfrage, es gebe für den Geschwisternachzug keine explizite Rechtsgrundlage. Im Klartext bedeutet die Weisung, Familientrennung wird praktisch zur Regel. Dominik Bartsch vom UN-Flüchtlingshilfswerk sagt, das widerspreche dem Völkerrechtlichen Prinzip auf Familieneinheit.

Dominik Bartsch, UNHCR: „Familien gehören zusammen. Von daher betrachten wir mit Sorge, dass hier eine Unterscheidung getroffen wird zwischen Kernfamilie und Geschwistern. Und dass oftmals Familien in eine ganz unmögliche Lage kommen, dass sich auch Eltern entscheiden müssen, welches Kind sie quasi bevorzugen.“

Nur Alis Vater konnte damals kommen. Bei Alis Geschwistern ignorierte die Bundesregierung völkerrechtliche Prinzipien. Auch wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von der Bundesregierung nicht umgesetzt. Darin geht es um minderjährige Flüchtlinge, die 18 werden.

Zitat: „Ein unbegleiteter Minderjähriger, der während des Asylverfahrens volljährig wird, behält sein Recht auf Familienzusammenführung.“

Ein Grundsatzurteil. Auch für Deutschland bindend - eigentlich. Aber das Auswärtige Amt hält sich nicht daran. Wie im Fall von Sadiq. Er ist mit zwölf Jahren vor dem Bürgerkrieg in Somalia geflohen. Sein Vater ist tot. Nun möchte er seine Mutter nachholen.

Sadiq: „Im August 2012 war ich von meiner Mutter weggegangen. Ich war zwölf Jahre alt. Manchmal ich bin traurig, ich bin alleine. Manchmal ich schlafe, ich vermisse meine Mutter und meine Brüder, meine Schwester.“

Mit 16 kam Sadiq nach Deutschland. Kurz bevor er volljährig wurde, erhielt er Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention - und hat eigentlich Anspruch auf Familiennachzug. Aber das Auswärtige Amt schickte seinem Anwalt eine Ablehnung. Mit der Begründung, das Urteil des Europäischen Gerichtshofes EuGH beziehe sich auf einen Fall in den Niederlanden. Dort sei die Rechtslage anders.

Jonathan Leuschner, Anwalt für Migrationsrecht: „Meine erste Reaktion war eine Mischung aus Wut und Kopfschütteln, weil ich die Haltung des Auswärtigen Amtes nicht verstehen kann. Ich verstehe nicht, wie man so grundsätzlich sagen kann, dass einem ein EuGH-Urteil egal ist und dass man es schlicht nicht berücksichtigt.“

Ignoriert Deutschland bewusst europäisches Recht, um Familiennachzug zu verhindern? Das Auswärtige Amt erklärt auf Anfrage, man sei nach dem Urteil noch in der Ressortabstimmung. Man würde also klären, welches Ministerium zuständig sei und habe deshalb das EuGH-Urteil noch nicht angewendet. Wie glaubwürdig ist das? MONITOR liegt eine Weisung des Auswärtigen Amtes an alle Visastellen vor, darin heißt es:

Zitat: „Das Urteil des EuGH entfaltet für Deutschland keine Bindungswirkung.“

Für den Europarechtler Jürgen Bast verstößt Deutschland hier klar gegen übergeordnetes Europäisches Recht.

Prof. Jürgen Bast, Europarechtler, Universität Gießen: „Dieses Urteil ist eindeutig verbindlich für die Bundesrepublik Deutschland. Wenn also jetzt den Betroffenen der Familiennachzug verweigert wird, wird europäisches Recht gebrochen. Die entsprechenden Ablehnungsbescheide sind rechtswidrig. Und da der Fall nach dem Urteil des EuGH jetzt glasklar ist, es also über die Auslegung des Rechts gar keinen Zweifel mehr geben kann, macht mir das große Sorge, weil hier doch sehenden Auges europäisches Recht verletzt wird.“

Familien, die auseinandergerissen werden, völkerrechtliche Prinzipien, die verletzt werden, europäisches Recht, das bewusst gebrochen wird. Das alles offenbar, damit möglichst wenige Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Den Preis zahlen Sadiq und seine Mutter, Ali und sein Vater, und der Rest ihrer Familie in Syrien.

Achim Pollmeier: „Heute haben die Mutter und die Geschwister von Ali - unserem ersten Fall - übrigens doch noch ein Visum bekommen. Das Außenministerium teilt uns aber mit, an der grundsätzlichen Rechtsauffassung ändere sich dadurch nichts.“

Kommentare zum Thema

  • Gerd 03.10.2019, 01:52 Uhr

    Gemeine Fratze Kapitalismus kennt keine Tabus. Dies erkannten im 19.Jhdt. Philosophen,zeitgleich die werktätige Bevölkerung praktisch.Nach kurzer demokratischer Zwischenphase für einige Volksdemokratien, ist ab 90er Jahre fast alles wieder konformgerecht ausgerichtet.Anhaltende Krisen und Kriege nur aber bringen bestimmten Kreisen ihre Konjunktur.Nahost als jüngstes Beispiel besonders gravierend. Die Belastung für deren Bewohner – Dauerthema sowieso für die Naiv-Pazifisten unserer Breiten- geschickt vor allem vom Spießbürgerkapitalismus in Willkommen-Einladungs-Populismus umgemünzt.Clever, zugegeben. Mit der auch immer noch bis heute gefährlich anhaltenden Einwanderungspolitik versuchen gewählte (leider) Eliten der inzwischen aufgekommenen Protestbewegung des eigenen, auch deutschen Volkes beizukommen. Dummerweise bringen die armen Fremden aber ihre eigenen Vorlieben samt ganzer Verwandtschaft mit und machen Forderungen auch ganz schnell mal handgreiflich deutlich.Deutschland 2019.

  • Andre 28.12.2018, 12:51 Uhr

    Es kann prinzipiell keinen Rechtsanspruch von Staatsfremden zur Einreise in ein Land geben. Wenn es entsprechende UN Verträge gibt, dann sind sie zu evaluieren. Es war nie Sinn der Flüchtlingskonvention, dass Menschen durch x sichere Drittstaaten ins Land ihrer Wahl reisen und dann Ansprüche gegen den Staat zur Einreise weiterer Personen stellen. Diese Konvention sollten wir als Land zügig aufkündigen! Dazu sind wir als souveränes Land in der Lage und andernfalls nicht mehr Herr unserer Grenzen. Und als Bürger sehe ich überhaupt nicht ein den Deserteuren des syrischen Bürgerkriegs den Zuzug der gesamten Familie zu ermöglichen. Wer soll das bezahlen? Wer willkommen ist, bestimmen wir durch unsere Gesetze, nicht UN Rechte über uns. Im übrigen ist das Flüchtlingsrecht der UN gar nicht ein Teil des Acquis Communautaire. Der EUGH hat deshalb gar keine Jurisdiktion. Das sollte Prof. Bast doch kennen.

  • leevancleef 10.12.2018, 11:26 Uhr

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