MONITOR vom 15.11.2018

Hochgiftig und trotzdem zugelassen: Pestizide in der EU

Bericht: Elke Brandstätter, Stephan Stuchlik

Hochgiftig und trotzdem zugelassen: Pestizide in der EU Monitor 15.11.2018 08:49 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Elke Brandstätter, Stephan Stuchlik

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Georg Restle: „Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Skandal um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat. Das, was wir Ihnen jetzt zeigen, müsste diesen Skandal eigentlich in den Schatten stellen, denn es geht um mindestens so gefährliche Stoffe - und um jede Menge davon. Sie sind hochgiftig, sie stehen unter Verdacht das Nervensystem zu schädigen oder schwere Krankheiten hervorzurufen. Aber sie werden völlig legal auf deutschen Feldern versprüht oder in Gärtnereien - und manche könnten auch bei Ihnen zu Hause stehen. Der Skandal daran: Einige dieser Stoffe dürften eigentlich gar nicht mehr zugelassen werden. Trotzdem bleiben sie auf dem Markt, und das nur, weil Behörden sich bei der Prüfung sehr, sehr lange Zeit lassen. Insbesondere deutsche Behörden. Elke Brandstätter und Stephan Stuchlik.“

Der Teutoburger Wald. Wiesen, Äcker, Felder. Hier leben viele von der Landwirtschaft und vom Gartenbau. Wie überall sind auch hier Pestizide auf den Feldern, aber man sieht sie nicht und man denkt nicht an sie. Außer man wird von einem Schicksalsschlag getroffen wie Familie Elixmann. Ulrich Elixmann ist ehemaliger Gärtner und 58 Jahre alt. Er hat Parkinson. Und er ist überzeugt: Das kommt daher, dass er in seinem Beruf 40 Jahre lang mit Pflanzenschutzmitteln zu tun hatte.

Ulrich Elixmann: „Ich kenne Leute, die haben die Spritzbrühe mit den Händen angerührt und so weiter. Da hat nie ein Mensch dran gedacht, dass das solche Schäden hervorrufen kann.“

Elixmann hat manchmal Mühe mit dem Sprechen, mit einfachen Handgriffen. An den Händen machte sich die Krankheit zuerst bemerkbar.

Ulrich Elixmann: „Beim Rosenschneiden, da habe ich dreimal mit der Rosenschere was abgeschnitten und dann setzte das mit einem mal aus. Und daraufhin bin ich dann zu meinem Hausarzt mal gegangen und habe gesagt: ‚Irgendwas ist da nicht in Ordnung‘. Und dann stellte sich heraus, dass dieser Verdacht von Parkinson nahe lag.“

Er ist sich sicher: Parkinson ist eine Berufskrankheit. Zahlreiche wissenschaftliche Studien fanden einen möglichen Zusammenhang.

Wie Parkinson und der Einsatz von bestimmten Pestiziden zusammenhängen, erforscht Beate Ritz, Professorin an der University of California schon seit Jahren. Ihre Grundlage ist eine einzigartige Datenbasis, die bis in die 70er Jahre zurückreicht.

Prof. Beate Ritz, University of California: „Wenn man das sich anschaut, also die Studien in Frankreich, die Studien, die ich in Kalifornien gemacht habe, die Studien die anderweitig in den USA und weltweit gemacht wurden zu Parkinson und Pestiziden, aber auch die toxikologischen Studien, die Tierversuche, dann würde ich sagen: es ist absolut gerechtfertigt, das als Berufserkrankung anzuerkennen.“

Elixmann hat in seinem Berufsleben mit einigen Chemikalien zu tun gehabt, die im Verdacht stehen, Parkinson mit auszulösen. Einer dieser Stoffe dürfte eigentlich gar nicht mehr auf dem Markt sein, bekam aber dieses Jahr eine Ausnahmegenehmigung. Und das gilt für viele Pestizide in Europa. Wie kann das sein?

Die Pflanzenschutz-Verordnung der EU schreibt ausdrücklich eine Prüfung auf mögliche Giftigkeit vor, sie soll ein „hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier“ garantieren. Aber: Es gibt eine Hintertür in der Verordnung, den Artikel 17. Wenn die Behörden zu lange mit der Bearbeitung brauchen, kann der „Ablauf der Genehmigung eines Pflanzenschutzmittels“ einfach „hinausgeschoben“ werden - mit weitreichenden Konsequenzen.

Achim Willand, Anwalt für EU-Umweltrecht: „Eine solche Zulassung nach Artikel 17 hat dann ja zur Folge, dass ein Wirkstoff eingesetzt werden darf, obwohl er nicht nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft abschließend geprüft worden ist.“

Zu Deutsch: Es kommen Giftstoffe auf die Äcker, deren letzte Überprüfung viele Jahre zurückliegen kann. Neue Erkenntnisse werden bei solchen Verlängerungen nicht berücksichtigt, und das nur, weil die Behörden zu langsam sind.

Wir arbeiten uns durch die Durchführungsverordnungen der Europäischen Union, zählen nach, wie oft diese sogenannten „technischen Verlängerungen“ ohne erneute Prüfung erteilt wurden. Am Ende steht eine lange Liste von aktuell 112 Pestiziden, deren Zulassung nur aufgrund langsamer Behördenarbeit verlängert wurde. Diese 112 technisch zugelassenen Stoffe machen insgesamt 23 Prozent aller Zulassungen aus, also fast ein Viertel.

Martin Häusling ist Europaabgeordneter im zuständigen Agrarausschuss. Er ist empört, als er unsere Zahlen sieht. Hier werde eine Ausnahmeregelung systematisch missbraucht.

Martin Häusling, Bündnis 90/ Die Grünen, Agrarausschuss EU-Parlament: „Das ist ein Skandal, der jetzt endlich mal ans Licht der Öffentlichkeit gehört, denn Zufälle in dieser Größenordnung kann es nicht geben. Jeder fünfte Stoff kann kein Zufall sein, sondern das hat System.“

Das Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel ist kompliziert. Europäische und nationale Behörden arbeiten hier zusammen. Wer aber ist vor allem verantwortlich?

Unbestritten ist: Eines der langsamsten Zulassungsverfahren der EU hat Deutschland. Das Landwirtschaftsministerium koordiniert die Pestizidzulassung. Allein vier weitere Behörden, nämlich das Bundesinstitut für Risikobewertung, das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit, das Umweltbundesamt und das Julius-Kühn-Institut teilen sich das Zulassungsverfahren, eine in Europa einzigartige Konstruktion.

Eine EU-Prüfung von 2016 stellte erhebliche Verzögerungen fest. Nur ein Beispiel: Für eines der Standard-Zulassungsverfahren brauchte Deutschland statt der maximal erlaubten 120 Tage eine durchschnittliche Zeit von 757 Tagen.

Bleiben wegen langsamer Behörden in Deutschland auch gefährliche Giftstoffe länger in der Umwelt? Man habe das Verfahren jetzt gestrafft, teilt uns das Ministerium auf Anfrage mit, im eigenen Bereich sei die „Verfristungsproblematik gelöst“. Fakt ist, auch nach der EU-Kritik haben unter deutscher Beteiligung weitere 22 Pestizide eine technische Verlängerung bekommen, weil die Behörden zu lange gebraucht haben. Mindestens neun dieser Stoffe seien hochproblematisch, weil sie eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen, warnen Toxikologen.

Hermann Kruse, Toxikologe, ehem. Universität Kiel: „Aus toxikologischer Sicht bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Verbindungen zu einem Großteil nach regelhaften Bestimmungen heutzutage gar nicht mehr zugelassen würden.“

Hermann Kruse ist einer der wenigen unabhängigen Toxikologen mit dem Spezialgebiet Pestizide. Die neun Stoffe auf der Liste beurteilt er eindeutig: Sie dürften keinesfalls in die Umwelt gelangen.

Hermann Kruse, Toxikologe, ehem. Universität Kiel: „Größtenteils sind sie toxisch für das Nervensystem, aber andere sind auch wiederum toxisch auf Leber und Niere. Das heißt also, viele Organe sind von einigen Verbindungen betroffen und - was das Schlimmste ist - es gibt eben auch Hinweise aus dem Tierexperiment, dass einige dieser Stoffe auch eine Krebs erzeugende Wirkung haben.

Wir haben dazu die Hersteller der Stoffe für den deutschen Markt angefragt. Stellvertretend für sie teilt uns der Industrieverband Agrar mit, dass man über die Gefährlichkeit der Stoffe nicht selbst urteile:

Zitat: „Ob eine Substanz den Anforderungen entspricht, wird im Genehmigungsverfahren festgestellt.“

Bei Pestiziden geht es allein in Deutschland um ein Milliardengeschäft. Nach Meinung von Martin Häusling spielt das bei den Genehmigungen durchaus eine Rolle.

Martin Häusling, Bündnis 90/ Die Grünen, Agrarausschuss EU-Parlament: „Man sieht, da geht es um richtig viel Geld, wenn die Stoffe am Ende vielleicht vom Markt genommen werden. Insofern muss man sich die Frage stellen: Werden Industrieinteressen in Deutschland wieder mal höher bewertet als Gesundheitsinteressen, als Umweltgefahren?“

Ulrich Elixmann setzt sich - so gut er noch kann - für den Umweltschutz ein. Er kämpft dafür, dass Parkinson als Berufskrankheit für Gärtner und Landwirte in Deutschland anerkannt wird. In Frankreich ist das schon so. Für seinen ehemaligen Gärtner-Kollegen Johannes Hauenhorst, bei dem die Parkinson-Krankheit schon weit fortgeschritten ist, wäre das ein wichtiger Schritt.

Johannes Hauenhorst: „Wenn das Finanzielle durchschlägt, und dass ein paar Mark mehr sich bereit machen ließen, dann wäre das nicht schlecht für uns. Aber na ja, das müssen wir erst abwarten, das ist ein furchtbar langer Weg, den ich aber wahrscheinlich vielleicht nicht mehr erlebe, leider!“

Ulrich Elixmann: “Aber wir haben uns vorgenommen, dass wir alt werden wollen, Johannes, ne.“

Johannes Hauenhorst: „Ja, das hast du schon gesagt: Wir wollen alt werden.“

Ulrich Elixmann: „Wie sagt man so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Johannes Hauenhorst: Ja.“

Kommentare zum Thema

  • Betroffener 11.07.2019, 11:03 Uhr

    Antrag auf Berufskrankheit wird schon versucht zu verweigern!!

  • Martin K 17.01.2019, 22:24 Uhr

    Man sollte in Deutschland die Landwirtschaft dringend abschaffen. Produziert diese doch nur Umweltzerstörung, Feinstaub und Gestank. Mein Vorschlag, einfach tolle gesunde, leckere Produkte beim Discounter kaufen, alles zum Ei heitspreis von 99 Cent. Bestimmt gibt es auf dieser Welt Professoren und Journalisten, die es noch besser und vor allem noch billiger können.

  • Miriam S 20.11.2018, 18:23 Uhr

    ein Fundstück: Quelque 8.800 tonnes de glyphosate ont été vendues en France en 2017, un chiffre en baisse de 7% tolle Leistung ? nachdem die Bienen auf den Lavendelfeldern der Provence zwischenzeitlich fast zu verschwinden drohten?