MONITOR vom 24.03.2022

Die Schrecken des Krieges: Tagebuch aus dem Westen der Ukraine

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Bericht: Georg Restle

Die Schrecken des Krieges: Tagebuch aus dem Westen der Ukraine

Monitor 24.03.2022 12:48 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Georg Restle

Kommentare zum Thema, weiterführende Links und der Beitragstext als PDF

Georg Restle: "82 Jahre alt ist diese Frau. Sie kommt aus Hostomel bei Kiew, wo sie zwei Wochen lang im Luftschutzkeller verbrachte, als die russischen Angriffe ihre Heimatstadt verwüsteten. Mittlerweile ist sie in den Westen der Ukraine geflohen, wo ich sie getroffen habe. Guten Abend und willkommen bei MONITOR! Ein Schicksal von so vielen aus dem Horror dieses Krieges. Chernihiv, Charkiv, Mariupol – wir haben die Namen dieser Städte inzwischen gelernt. Orte des Terrors eines verbrecherischen Angriffskrieges, Orte, die im Norden und Osten der Ukraine liegen. Im Westen des Landes zeigt sich ein anderes Bild. Dort sind die Städte noch weitgehend unversehrt, aber der Krieg ist auch dort längst angekommen. Raketenangriffe auf militärische Ziele, permanenter Luftalarm und große Trauer um zahlreiche getötete Soldaten in Lwiw, der größten Stadt der Westukraine. Und mittendrin Hunderttausende, die vor dem Krieg im Osten geflüchtet sind und jetzt fürchten, dass der Krieg sie dort im Westen einholen könnte."

Eine Stadt trauert um ihre Toten. Vier Särge werden in die Garnisonskirche von Lwiw getragen. Vier tote Soldaten – vier von 35, die Opfer eines russischen Luftangriffs wurden, 30 Kilometer vor den Toren der Stadt. Noch während der Trauerfeier ertönen die Sirenen: Luftalarm – wie so oft in diesen Tagen. Immer wieder flüchten die Menschen sich in die Luftschutzkeller der Stadt. Der Schrecken des Krieges ist längst im Westen der Ukraine angekommen.

Menschen im Kriegszustand: Übungen zur Selbstverteidigung in einer Schule am Rande der Stadt. Junge Mütter, Studierende, Rentner. Keiner hier hat je ein Gewehr in der Hand gehalten, keiner wollte je in eine solche Situation kommen. Aber der Krieg lasse ihnen keine andere Wahl, sagen sie uns.

Frau (Übersetzung Monitor): "Natürlich fühle ich mich unwohl, weil das Sachen sind, die ich nie in die Hand nehmen wollte. Aber ich verstehe, dass sie mich, mein Leben und meine Angehörigen schützen können. Wir leben in einer so schrecklichen Zeit. Dabei habe ich eigentlich Angst vor Waffen."

Die ganze Stadt rüstet sich. Der Krieg verändert die Menschen – auch hier im Westen, wo die Städte noch heil sind. Auch die Kirchen werden geschützt – vor Luftangriffen, vor denen es eigentlich keinen Schutz gibt.

Am Bahnhof der Stadt nehmen junge Soldaten Abschied von ihren Frauen und Freundinnen. Auf dem Weg Richtung Osten in die umkämpften Gebiete, in einen Krieg, den niemand hier so vorhergesehen hat. Tausende andere sind gerade erst hier angekommen. Aus all den Orten, wo der Krieg tobt, aus Charkiv, Kiew oder dem Donbas. Zum ersten Mal durchatmen, nach tagelanger Flucht vor den Bomben und einem Krieg, in dem sie alles zurücklassen mussten außer dem, was sie gerade greifen und in ihre Taschen packen konnten. Orientierungslos, heimatlos, verzweifelt.

Maria (Übersetzung Monitor): "Was hat mein Junge getan, dass eine Bombe auf ihn abgeworfen wird? Was? Unser Haus ist zerstört, es hat kein Dach mehr. Meine Eltern haben das Haus gebaut. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben daran gebaut, damit es uns dort gut einmal geht."

Maria ist aus Chernihiv geflüchtet, eine der am heftigsten umkämpften Städte der Ukraine.

Maria (Übersetzung Monitor): "Ich werde mein Haus wieder aufbauen. Ich werde dort leben und nicht diese angeblichen Friedensstifter aus Russland!"

Wer in Lwiw gestrandet ist, findet hier Hilfe. Eine Registrierungsstelle für Geflüchtete. Wer eine Unterkunft sucht oder Kleidung oder medizinische Hilfe, kommt hierher. Die meisten, die hier in der Schlange stehen, können nicht über die Grenze nach Polen, weil erwachsene Männer im Land bleiben müssen, und die Familien den Vater, den Sohn oder den Bruder nicht allein zurücklassen wollen. Wie Lydia, die mit ihren drei Kindern aus Kiew geflohen ist, als die Bomben kamen. Ihr Sohn war als Soldat schon vor ein paar Jahren im Krieg in der Ostukraine und ist seitdem schwer traumatisiert. Weil er über 18 ist, kann sie mit ihm und den anderen Kindern jetzt nicht über die Grenze.

Lydia (Übersetzung Monitor): „Wir haben sehr lange abgewartet, haben uns in der Metrostation versteckt. Aber da mein Sohn in so einem schlechten Zustand ist, mussten wir dann doch fliehen. Hier kann ich jetzt auch nichts machen. Alles seinetwegen, verstehen Sie? Was soll ich nur tun? Ich kann ihn ja nirgendwo hinbringen. Und jetzt ist dieser Krieg – und er spürt das und ist psychisch total am Ende."

Jetzt sucht sie hier nach psychologischer Hilfe für ihren Sohn. Und weiß nicht, wohin mit sich und ihrer Familie.

Gestrandet im Westen der Ukraine, Ivano Frankivsk, 150 Kilometer im Landesinneren. Viermal wurde die Stadt schon angegriffen. Ein Ort der Zuflucht. In der Schule haben Walentyna und ihre Familie eine Bleibe gefunden. Sie kommen aus dem Städtchen Browary, in der Nähe von Kiew. Als die Explosionen nicht enden wollten, seien sie geflohen, erzählen sie uns. Eine Woche sind sie schon hier. Seitdem hat Walentyna ihren kleinen Stuhl im Klassenzimmer kaum verlassen.

Walentyna (Übersetzung Monitor): „Wir haben hier jetzt erstmal Schutz gefunden. Aber wir wissen nicht, wie es weitergehen soll. Meinen Sohn wird man nicht rauslassen. Er ist im militärfähigen Alter. Wir können ihn doch nicht allein zurücklassen, sonst wären wir schon lange ins Ausland gegangen."

Unten in der Sporthalle haben 150 Menschen Platz gefunden. Sie alle sind vor dem Krieg im Osten geflohen. Die Westukraine ist für viele Neuland. Jetzt sind sie dankbar für die Hilfe von Menschen, die ihnen bisher fremd waren. Der Krieg vereint die Menschen in der Ukraine – auch an Orten wie diesem. Irina ist aus Hostomel bei Kiew geflüchtet. Tagelang saß sie dort im Luftschutzkeller, als die russischen Angriffe den Ort verwüsteten. Sie ist 82 Jahre alt und kümmert sich um ihre Urenkel, die ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren haben.

Irina (Übersetzung Monitor): "Ich halte durch. Vor allem für meine Urenkel – der Junge ist zehn und das Mädchen fünf geworden. Ich kann vor ihnen doch nicht weinen. Ich halte durch, damit sie meine Kraft spüren. Dass ihre Oma da ist, wenn die Eltern schon nicht da sind. Ich halte durch und zeige ihnen nicht, wie schwer mir das alles fällt. Wir werden das alles überleben."

Der Markt eines kleinen Städtchens auf dem Weg zwischen Ivano-Frankivsk und Lwiw. Egal, wo wir hinkommen, egal mit wem wir reden, die Wut auf Putin und seinen Krieg ist unermesslich. Wie die Enttäuschung über den Westen, von dem sie sich auch hier im Stich gelassen fühlen.

Frau (Übersetzung Monitor): "Wir haben jede Nacht Angst. Wir wissen nicht, was kommt. Man muss doch verstehen, dass er ein Tier ist, kein Mensch, dieser Putin. Zu keiner Stunde wissen wir, was wir von ihm erwarten können."

Mann (Übersetzung Monitor): "Man weiß ja nicht, wohin diese Raketen fliegen. Sie sind schon in der Nähe eingeschlagen und morgen kann es auch uns hier treffen."

Frau (Übersetzung Monitor): "Gebt Waffen, helft uns, womit auch immer. Ihr könnt doch mit allem helfen!"

Ein Appell an die Deutschen, gerichtet an ein deutsches Fernsehteam. Selbst der Name Olaf Scholz fällt hier in der tiefsten Provinz der Westukraine. Zurück in Lwiw. Auch im städtischen Krankenhaus treffen wir Menschen, die vor dem Krieg im Osten geflohen sind. Krebskranke Kinder mit ihren Müttern. Tagelang hatten auch sie in schimmeligen Luftschutzkellern ausgeharrt, bis sie endlich mit einem Hilfskonvoi nach Lwiw fliehen konnten.

Tatjana Nikitenko, Kinderkrankenhaus Sumy (Übersetzung Monitor): "Unsere Patienten mussten mehrmals am Tag in den Luftschutzkeller runtergehen und wir mussten sogar Infusionen dort machen. Es ist sehr schwer, ja unmöglich, krebskranke Kinder unter solchen Bedingungen zu behandeln."

Jetzt warten sie hier auf einen Weitertransport nach Polen oder Deutschland. Ihre anderen Kinder mussten sie in Sumy, Kiew oder Charkiv zurücklassen, weil es nicht genug Platz im Konvoi gab.

Frau (Übersetzung Monitor): "Wir wollen nach Hause. Aber jetzt versuche ich, dieses Kind zu retten. Aber dafür musste ich das andere Kind im Krieg zurücklassen."

So sei der Krieg, sagt sie noch, verflucht sei Putin.

Junger Mann (Übersetzung Monitor): "Ich hoffe so sehr, dass dieser Krieg zu Ende geht. Ich möchte zurück in mein liebes Zuhause, mit der Familie sein, glücklich sein. Dieser Krieg muss doch zu Ende gehen und Putin abkratzen. Ich sehne mich danach, dass es Frieden geben wird und alle am Leben bleiben."

Frau (Übersetzung Monitor): "Ich bin Russin, russischer Herkunft, in Sibirien geboren. Zusätzlich zu diesem Schmerz des ukrainischen Volkes, dem ich mich angehörig fühle, weil ich von klein auf in der Ukraine lebe, verspüre ich große Scham und Bitterkeit für meine historische Heimat. Ich hätte mir nie denken können, dass so etwas möglich sein könnte. Ich schreibe und rufe meine russischen Verwandten an, beschreibe, was in der Ukraine passiert, aber sie hören nicht auf mich. Ihre Gehirne sind durch die Propaganda verunstaltet, sie verstehen es nicht. Ich sage Ihnen, dass der Hass, den unsere Großeltern und Eltern auf Hitler-Deutschland einst verspürt haben, genauso einen Hass werden unsere Generationen, unsere Kinder und Enkelkinder auf Russland verspüren – das Land, das sie einst als Freund angesehen haben."

Eine Wut, die das Land vereint – und eine Hoffnung, die nie vergeht. Ein Straßensänger in der Stadt singt einen bekannten ukrainischen Song, den er etwas umgetextet hat. Alles wird gut, singt er. Alles wird gut, wenn Putin verreckt.

Georg Restle: "Alles wird gut. Es lebe die Ukraine. So endet dieser Song. Soviel Hoffnung überall in einem Land, das gerade so viel Grund zur Verzweiflung hätte."

Stand: 25.03.2022, 17:00 Uhr

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118 Kommentare

  • 118 Anonym 19.04.2022, 12:11 Uhr

    Putins Rußland hat sich aus der Weltgemeinschaft verabschiedet und ihr devotes Dienstmädchen, die SPD, gleich mit !

  • 117 Bus 19.04.2022, 10:28 Uhr

    Mit Verlaub, ich mag nichts mehr über diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine hören und sehen. Auch diese ätzende Propaganda unserer Medien und Politiker nicht welche glauben dass wenn die Ukrainer Waffen von uns bekommen würden sie (für die USA?) die Russen aus dem Land vertreiben könnten. Zusätzliche Waffen verlängern einen Krieg, mit ihnen das Töten von Menschen (für diesen primitivenZweck werden Waffen produziert). In der Ukraine leben mehrere miteinander verwandte Volksgruppen. Bis zu dem Datum 2013 / 2014 leben innerhalb der Ukraine ethnische Ukrainer und Russen freundschaftlich und familiär miteinander. Erst als die USA darauf drängte von der Ukraine Besitz zu ergreifen um ihre atomar bestückte Armee an der ukrainisch-russischen Grenze zu stationieren, da würde der Frieden in der Ukraine aufgerieben. Fakt: Die USA wollen ihre Raketen so nahe russischer Städte aufstellen damit diese im Kriegsfall von Russland nicht mehr abgewehrt werden können. Somit wäre Russland erpressbar.

  • 115 Anonym 19.04.2022, 07:04 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er sich nicht auf das Thema der Diskussion bezieht. (die Redaktion)

  • 114 Fräulein 18.04.2022, 22:37 Uhr

    Auch Landesgrenzen müssen verhandelbar sein. Landesgrenzen unterliegen keinem physikalischem Gesetz. Eine Kriegsführung wegen einer territoriale Integrität ist kein guter Weg. Die Ukrainische Bevölkerung besteht mehrheitsgerechnet hauptsächlich aus drei ethnischen Volksstämmen. Zwei der Ethnien (ethnisch ukrainische Ukrainer, ethnisch russische Ukrainer) wurden seit der aus ukrainischem Ausland unterstützten anarchistischen Maidan-Staatsstreich aufeinander gehetzt. Es kam zum Ausscheiden der Bewohner der Krim und teils des Donbass aus dem ukrainischen Staat. Die abtrünnige Ostbevölkerung wurde folgend sieben Jahre durch zwei ukrainische Regierungen in inoffizieller Unterstützung der USA, auch NATO-Staaten, bekriegt. Welcher nun in einen offenen Krieg Russland gegen die Ukraine führte. Es muss endlich ein Waffenstillstand her, auch wenn Landesgrenzen verschoben werden. Eine Weiterführung des unmenschlichen Krieges darf absolut nicht sein. Menschenleben sind wichtiger als Landesgrenzen.

  • 109 Anonym 17.04.2022, 21:25 Uhr

    Schwesigs 20.0000.000,- Stiftungseuronen von Putin sind Bestechungsgeld und gehören beschlagnahmt !

  • 108 Klaus 17.04.2022, 20:19 Uhr

    Waffenlieferungen beenden keinen Krieg, sie verlängern einen Krieg. Waffenlieferungen schaffen Materialschlachten und Stellungskriege, somit schaffen sie unzählige Tote.

  • 107 Baumkranz 17.04.2022, 18:07 Uhr

    Zum Überleben der Erde brauchen wir keine Helden welche für die Erhaltung einer Regierung ihr Leben opfern. Regierungen kommen und gehen (das schon Millionen von Jahren), der Mensch selbst lebt leider nur einmal. Wenn eine Stadt vom Feind eingekesselt ist so sollten die eingekesselten Soldaten es erkennen, Einsicht üben, aufgeben und weiterleben. Das Leben ist wichtiger als sich wechselnde Fahnen eines Landes. Heutzutage sollte sich niemand mehr für eine Regierung opfern welche das Volk durch Propaganda auffordert das eigene Leben für sie zu opfern (beispielsweise: Wer im Kampf für sein Heimatland stirbt der wird über sein Tod hinaus als Held geehrt werden). Ich entsinne mich an Geschichtsbücher. Napoleon ist in Russland einmarschiert um das Land zu erobern. Die russische Armee hatte sich keiner größeren Konfrontation gestellt. Sie ist immer weiter zurück ins Land ausgewichen und hat nur durch kleinere Schläge der französischen Armee zugesetzt. Die französische Armee gab den Kampf auf.

  • 105 Kaufmann, D. 16.04.2022, 16:24 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 104 Bulle 16.04.2022, 12:17 Uhr

    Wenn es der ukrainischen Regierung ein Problem ist dass Teile des Donbass und die Krim nicht mehr verwaltungsmäßig zur Ukraine gehört (welche faktisch nun schon acht Jahre nicht mehr von der Ukraine verwaltet werden) dann sollte sie das Problem „nicht mit Waffen“ sondern durch „Friedensverhandlungen direkt mit Russland“ lösen. Ich empfinde nicht nur den russischen Angriff auf die Ukraine total verwerflich sondern auch den ukrainischen Verteidigungskrieg. Vergleichbar sollte die russische Regierung ihren Grund für eine Kriegsführung - indirekte Besetzung der Ukraine durch die NATO (Atom-Raketenaufstellung direkt an der russischen Landesgrenze) - in direkte Gespräche mit der US-Regierung beseitigen. Gekämpft wird vordergründig zwischen russischen und ukrainischen Soldaten, doch in Wahrheit ist dieser Krieg ein Stellvertreterkrieg, ein Krieg zwischen USA und Russland um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen (NATO-Ausweitung gen Osten und derer Verhinderung durch Russland).

  • 102 Karin 16.04.2022, 11:03 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 99 Anonym 15.04.2022, 18:14 Uhr

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