MONITOR vom 15.09.2022

Bürgergeld: Etikettenschwindel zulasten der Ärmsten?

Bericht: Jan Schmitt, Shafagh Laghai

Bürgergeld: Etikettenschwindel zulasten der Ärmsten? Monitor 15.09.2022 09:24 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Jan Schmitt, Shafagh Laghai

Georg Restle: "Ja, was da gestern im Kabinett beschlossen wurde, soll eigentlich den Schwächsten im Land besonders helfen. Von Respekt war da viel die Rede und von der Anerkennung der Lebensleistung eines Menschen. Menschen, die jetzt schon kaum über die Runden kommen, und denen die rasanten Preissteigerungen gerade die Luft zum Atmen nehmen. Ein "Bürgergeld" soll es jetzt also geben, weg von Hartz IV hin zur Menschenwürde. Heißt umgerechnet rund 50 Euro mehr im Monat, etwas weniger Kontrollen – und ein bisschen Vermögen soll man jetzt auch behalten dürfen. Vermögen, das die meisten allerdings längst nicht mehr haben. Ein "Paradigmenwechsel" sei das, sagen Grüne, Liberale und Sozialdemokraten. Von der "größten Sozialreform der letzten 20 Jahre" spricht der Arbeitsminister. Shafagh Laghai und Jan Schmitt."

Die Angst, sich das Leben nicht mehr leisten zu können. Sie trifft die Schwächsten mit voller Wucht. Menschen, denen die Bundesregierung jetzt besonders helfen will.

Olaf Scholz, Bundeskanzler: "Wir haben uns als Regierung vorgenommen, dass wir eine große Reform zustande bringen."

Christian Lindner, Bundesfinanzminister: "Um die Lebenssituation von Menschen in der Grundsicherung zu verbessern."

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales: "Es geht um mehr Respekt und mehr Anerkennung auch von Lebensleistungen."

Respekt und Anerkennung. Gestern wurde im Kabinett beschlossen, aus Hartz IV wird "Bürgergeld". Und auch die Höhe ist schon klar, statt bisher 449 Euro sollen die Menschen ab Januar 502 Euro bekommen. Ein großer Schritt, findet die SPD und auch die Grünen.

Ricarda Lang, B'90/Grüne: "Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Regelsätze bei Hartz IV bzw. dem neu zu schaffenden Bürgergeld, der auch mit einem Paradigmenwechsel einhergehen soll, um 50 Euro angehoben werden, also mehr Geld ankommt, gerade bei den Menschen die häufig jetzt schon Existenznöte haben."

Ein „Paradigmenwechsel“, mit 53 Euro mehr? Reicht das bei den aktuellen Preissteigerungen?

Thomas Wasilewski: "Das Toastbrot, was ich früher gekauft hab, hat früher 89 Cent gekostet, das kostet heute 1,29 Euro. Wenn ich die Haferflocken nehme, die haben früher 39 Cent gekostet, die kosten heute 69 Cent. Wenn ich mir die Margarine angucke, die hat früher 79 Cent gekostet, die kostet heute 1,29 Euro. Es ist alles massiv teurer geworden."

Thomas Wasilewski ist Familienvater. Drei Söhne hat er, im Teenageralter. 35 Jahre lang hat er gearbeitet. Nach mehreren Herzinfarkten ist Thomas Wasilewski erwerbsunfähig. Weil die Rente nicht reicht, bekommen er und seine Familie Hartz IV. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben 1.100 Euro zum Leben – für fünf Personen. Knapp war das schon immer, doch seit ein paar Monaten schaffe er es oft nicht mehr, sagt er – trotz Odyssee von Discounter zu Discounter.

Thomas Wasilewski: "Ich muss immer nach dem Preis gucken. Und wenn Sie dann gerecht bei drei Kindern verteilen möchten und Sie müssen darauf achten, dass die Waren reduziert sind, können Sie die Kinder eigentlich nicht gleich halten, das ist schon ein Riesenproblem. Sie sehen selber, Sie finden zwei Joghurts – und dann fehlt, für den Dritten fehlt irgendwas. Es macht einen furchtbar traurig und man hat Angst vor der … im ganzen Monat begleitet sie permanent ne Angst. An den Tag, wo Sie nichts mehr haben, wo das Geld leer ist."

Zwei Joghurts für drei Kinder. Das neue "Bürgergeld" werde Menschen wie ihn noch weiter unter das Existenzminimum drücken, sagen Experten.

Prof. Marcel Fratzscher, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: "Die Erhöhung des Regelsatzes beim Bürgergeld von 450 auf 500 Euro, also 11 Prozent, klingt erstmal nach einer ordentlichen Erhöhung, aber es reicht für die Menschen nicht für ein würdevolles Leben, denn man muss eben berücksichtigen, dass individuell für diese Menschen die Inflation sehr viel stärker gestiegen ist. Vor allem Nahrungsmittel sind 15, 20 Prozent zum Teil teurer geworden über die vergangenen zwölf Monate. Daher reicht diese elfprozentige Erhöhung eben nicht, damit die Menschen selbst den gleichen Lebensstandard, gleichen niedrigen Lebensstandard haben, wie sie noch vor zwölf oder 18 Monaten hatten."

Denn 53 Euro mehr sind streng genommen gar keine Erhöhung, sondern nur ein nachträglicher Inflationsausgleich, der laut Bundesverfassungsgericht schon längst hätte passieren müssen. In einem Beschluss von 2014 heißt es:

Zitat: "Auf eine hohe Inflation müsse der Gesetzgeber zeitnah reagieren."

Die Bundesregierung setzt also nur um, wozu das Verfassungsgericht sie ohnehin schon längst verpflichtet hat. Die Regelsätze werden jetzt zwar nicht mehr zwei, sondern nur noch ein Jahr später an die Inflation angepasst, insgesamt sei das aber alles andere als eine Entlastung, sagen Sozialverbände.

Ulrich Schneider; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband: "Die Menschen haben jetzt die Preissteigerungen. Und wenn jetzt so getan wird, da fände eine enorme Entlastung statt, dann ist das schon … ja, das ist mehr als Etikettenschwindel. Das ist … ist wirklich die Unwahrheit!"

Thomas Wasilewski besucht den Sozialhilfeverein Tacheles e. V. in Wuppertal. Hier kümmert man sich um Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Der Austausch tue ihm gut, sagt er. Aber dass er hier Essensspenden annehmen muss, weil ihm das Geld ausgehe, belaste ihn sehr.

Thomas Wasilewski: "Man schämt sich dafür. Die Leute sehen in uns Bittsteller, aber wir können ja für diese Situation nichts. Also ich habe 35 Jahre gearbeitet und denke einfach, dass es in einem Land wie Deutschland möglich sein müsste, nach 35 Berufsjahren – wenn man dann krank wird und nicht mehr arbeiten kann wie ich – dass man dann zumindest so viel Geld bekommt, dass man davon sich Essen und Trinken kaufen kann."

Zu wenig Geld für Essen und Trinken. Das Grundproblem ist die Methode, nach der der Hartz-IV-Regelsatz berechnet wird. Die Grundlage für die Hartz-IV-Sätze ist die so genannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Damit werden alle fünf Jahre die Einnahmen und Ausgaben von ca. 60.000 Haushalten untersucht. Davon sollten dann eigentlich die ärmsten 20 Prozent genommen werden, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das ist die so genannte Referenzgruppe. Was sie ausgeben, sollen auch Hartz-IV-Bezieher zur Verfügung haben. Das wären 678 Euro. Aber die bekommt keiner. Die Menschen erhalten derzeit eben nur 449 Euro im Monat. Warum? Statt den ärmsten 20 Prozent nimmt die Bundesregierung schon seit 2011 nur noch die Ausgaben der ärmsten 15 Prozent – schon deutlich weniger Geld. Es bleiben etwa 650 Euro. Und davon kürzt die Bundesregierung nochmal radikal weiter. Im Bereich Verkehr minus 56 Euro, bei Freizeit und Kulturausgaben minus 50 Euro, Gaststättenbesuche minus 33 Euro und so weiter und so weiter – bis auf 449 Euro derzeit. Eine willkürliche Berechnung bis weit unter das Existenzminimum, sagt der ehemalige Vorsitzende eines Landessozialgerichts.

Jürgen Borchert, ehem. Vorsitzender Landessozialgericht Hessen: "Aus meiner Sicht, nach meiner Überzeugung sind das Manipulationen, die dazu dienen, so lange herunterzurechnen, bis man ein Ausmaß an Existenzminima hat, mit denen auch der Bundesfinanzminister zufrieden ist. Das heißt, man denkt fiskalisch und man denkt nicht vom Existenzminimum her, von der Menschenwürde her."

Sparen an der Menschenwürde also? Bundesarbeitsminister Heil wollte eigentlich die Systematik zur Berechnung der Hartz-IV-Sätze ändern und sie damit auch deutlich erhöhen. Eigentlich. Denn im aktuellen Koalitionspapier – nichts mehr davon. Es heißt, die Anpassung erfolge bei "unveränderter Systematik".

Ulrich Schneider; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband: "Wenn es jetzt tatsächlich nur rauslief auf eine Erhöhung von gerade mal 53 Euro, dann bleibt Hartz IV ein Armutsgesetz. Dann werden die Menschen nicht aus der Armut geführt. Dann kann man auch nicht von irgendeiner Zeitenwende oder ähnlichem sprechen, geschweige denn von einem Bürger*innengeld."

Bundesarbeitsminister Heil lässt uns auf Anfrage dazu mitteilen:

Zitat: "(…) der Gesetzgeber hat diejenigen Verbrauchsausgaben berücksichtigt, die er für die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums für unbedingt erforderlich hält."

Vor den Kameras klingen die Versprechen des Ministers ganz anders.

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales: "Das geht um mehr Respekt und mehr Anerkennung, auch von Lebensleistungen."

Mehr Respekt? Thomas Wasilewski hilft das Bürgergeld nicht weiter. Er will jetzt gegen die Höhe der Grundsicherung klagen. In diesem Jahr konnte er seine Kinder nicht einmal ins Freibad, nicht einmal ins Kino schicken.

Thomas Wasilewski: "Ja, wissen Sie, wenn Sie nachts weinend daliegen. Was hat das mit Respekt zu tun. Das ist eine komplette Verarschung. Und da bin ich so wütend drüber. … Das hat gar nichts damit zu tun, nichts! Das ist so eine Beleidigung!"

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Kommentare zum Thema

  • Lenny 06.10.2022, 10:34 Uhr

    Herr Wasilewski ist gleich im doppelten Sinn "arm dran". Es ist bitter, dass jemand wie er, der vom Leben gebeutelt wurde und auch noch für Kinder sorgt so sehr von unserer Gesellschaft im Stich gelassen wird. Es ist aber auch bedenklich, denn ALG 2 sorgt grade in Verbindung mit der derzeitigen Inflation dafür, dass immer mehr Menschen sich mit dem System unserer Gesellschaft an sich nicht mehr identifizieren. Grundgedanke: Wenn ich dem Politiker so egal bin, dass ich auch gern verhungern darf, dann ist er mir das auch. Das führt leider zu einer zunehmenden Verrohung und Radikalisierung, die uns - befürchte ich - noch in dunkle Zeiten führen wird. Wir könnten ja mal aus der Geschichte lernen: GG Art.1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar!" steht aus einer klaren historischen Ursache im GG: Wir müssen die Entmenschlichung verhindern und müssen dazu aber auch anfangen, Menschen nicht nur als Esser und Konsumenten zu betrachten, sondern als Unseresgleichen auf Augenhöhe.

  • Moni 02.10.2022, 13:29 Uhr

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  • Anonym 01.10.2022, 05:09 Uhr

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