Pressemeldung vom 18.11.2021

Psychopharmaka für Heimkinder: Neue Enthüllungen im „Fall Winterhoff“

Der Skandal um die jahrelange Verordnung von Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche durch den bekannten Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ist offenbar größer als bislang bekannt.

Jugendliche steht am Fenster | Bildquelle: dpa/Paul Zinken

Das geht aus internen Medikamentenlisten aus Heimen hervor, in denen Winterhoff Kinder und Jugendliche behandelte. Sie wurden dem ARD-Magazin MONITOR und der Süddeutschen Zeitung zugespielt. Die Listen stammen aus den Jahren 2010 bis 2014 und 2019 bis 2021. Sie dokumentieren, welche Medikamente Kinder in den Einrichtungen bekommen haben. Demnach verordnete Winterhoff ganzen Gruppen von Kindern und Jugendlichen das Neuroleptikum „Dipiperon“ oder „Pipamperon“, wie es je nach Hersteller heißt – meist über Jahre und in fast gleichbleibender Dosierung. Damit widersprechen die Listen der bislang von Winterhoff getätigten Aussage, er habe Dipiperon und Pipamperon „nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet“.

Die internen Medikamentenlisten zeigen zudem, dass Winterhoff Kindern zum Teil mehrere Neuroleptika gleichzeitig verordnet hat, zum Beispiel neben „Dipiperon“ auch „Risperdal“ – ein Medikament zur Behandlung von Schizophrenie und Aggressionen. Der Kinderpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort bezeichnet diese Medikamentierung gegenüber MONITOR als „ungewöhnlich“. Die Mittel hätten „dieselbe Zielsymptomatik“. „Wenn es überhaupt indiziert ist, dann monotherapeutisch und natürlich nicht über viele Jahre hinweg“, so Schulte-Markwort. Auf Anfrage nimmt Michael Winterhoff zu den neuen Erkenntnisse nicht konkret Stellung. Über seine Anwälte teilt er mit, dass er Medikamente stets nur verordnet habe, „nachdem in einer Untersuchung und Einzelfallentscheidung“ unter Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligten wie Ärzten, Erziehern und Sorgeberechtigten „festgestellt wurde, dass bzgl. des Kindes eine entsprechende Indikation vorlag.“ Die Verordnung von Medikamenten erfolge außerdem „nie isoliert“. Sie sei grundsätzlich „eingebettet in eine umfassende Behandlung“.

Für MONITOR und SZ hat auch der renommierte Pharmakologe Gerd Glaeske die Listen analysiert. Er kommt zu dem Schluss, die gleichzeitige Verordnung zweier Neuroleptika mit ähnlichen Wirkspektren sei „aus therapeutischer Sicht schwer nachvollziehbar”. Glaeske hält es für wahrscheinlich, dass sich gesundheitliche Beschwerden von Betroffenen, wie etwa Bewegungsstörungen, auf die Medikamentierung zurückführen lassen. Winterhoff lässt Fragen zu den möglichen Spätfolgen seiner Behandlung unbeantwortet.

Michael Winterhoff ist einer der bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiater Deutschlands. Über Jahre trat er regelmäßig als Experte in den Medien auf. Bekannt wurde er durch das Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, das 2008 erschien. Im Sommer war durch eine ARD-Dokumentation öffentlich geworden, dass Michael Winterhoff über Jahre fragwürdige Diagnosen gestellt und Heimkinder zum Teil über lange Zeit mit Neuroleptika behandelt hat. Viele von ihnen berichten von schweren Nebenwirkungen und Spätfolgen, die sie teils bis heute begleiten. Die zuständigen Behörden haben trotz regelmäßiger Beschwerden von Kindern, Eltern und Vormündern jahrelang nicht eingegriffen. Winterhoff hatte die in der ARD-Dokumentation geäußerte Kritik an seinen Behandlungsmethoden im Sommer zurückgewiesen. Den Einsatz der Medikamente habe er kinderpsychiatrisch kontrolliert.

Kommentare zum Thema

  • Furdui 17.09.2022, 12:02 Uhr

    Leidet heute sind auch Kinder betroffen im Wohngruppe mit verschiedenen Medikamenten.

  • L. S. 23.11.2021, 16:42 Uhr

    Ich selber war Patient bei Winterhoff. Die liegt aber nun schon 20 Jahre zurück. Auch ich habe damals schon die selber Diagnose gestellt bekommen und Dipiperon nehmen müssen. Wie lange zum Teufel zerstört dieser Mensch schon leben ohne Konsequenzen und wie lange darf er es noch tun... Damals war es eine sehr schwierige Zeit. Habe echt das Gefühl gehabt, das Problem zusein. Diese Enthüllungen machen mich fassungslos und unmächtig...

  • Simone 22.11.2021, 04:36 Uhr

    Hallo ich habe 2001-2003 in einer Jugendwohngemeinschaft in NRW gearbeitet mit schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen ab 7 Jahren . Bei mindestens 5 wurde auch langfristig und gleichzeitig Dipiperon/ Pimpimperon und Risperdal gegeben. Über Jahre! Der älteste war damals 12. Mit Widerwillen Kindern so viel Psychopharmaka als Berufsanfängerin geben zu müssen, war ich froh die Einrichtung zu schließen, da der Einrichtungsleiter übrigens im Dienst so besoffen war, das die Kids uns angerufen haben. Was da alles noch mit zusammenhing 🤮…. Landesjugendamt war informiert ….danach wechselte ich komplett den Bereich ! Was aus den Kids geworden ist vermag ich mir kaum ausmalen.