Bericht: Jessica Briegmann, Jochen Taßler, Nicole Rosenbach
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Georg Restle: "Von den Älteren zu den Jüngeren – und zu einer Geschichte, die in diesem Sommer bundesweit Schlagzeilen machte. Eine ARD-Dokumentation hat damals enthüllt, was hinter den Mauern von Kinderheimen vor sich ging, in denen Kinder und Jugendliche einem Psychiater ausgeliefert waren, der so seine ganz eigenen Therapie-Vorstellungen hat. Eine Therapie, mit der man Kinder ruhig, sehr ruhig stellen kann. Mit Hilfe von Psychopharmaka, die alles andere als unbedenklich sind. Dabei geht es nicht um irgendeinen Kinder- und Jugendpsychiater, sondern um einen der berühmtesten der Republik. Gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung haben Nicole Rosenbach, Jessica Briegmann und Jochen Taßler weiter recherchiert an einem Skandal, der offenbar noch weit größer ist als bisher bekannt."
Sebastian Bürger: "Wenn ich das Tor schon sehe, kriege ich direkt den ersten Anfall."
Sebastian und Thorben lebten als Teenager mehrere Jahre in diesem Haus in der Eifel. Damals war das hier noch ein Kinderheim.
Sebastian Bürger: "Ich wollte nie hier sei. Ich habe auch immer gesagt, ich will hier weg. Natürlich hat sich nie etwas geändert."
Thorben Geruschke: "Die Zeit hier und die Medikamente haben mir im Endeffekt mehr Probleme gemacht als ich vorher schon hatte."
Die Medikamente, das waren Psychopharmaka. Jahrelang sind Sebastian und Thorben hier damit behandelt worden. Es sollte ihnen helfen, ihre Aggressionen zu kontrollieren. Aber die Medikamente hätten sie vor allem ruhig gestellt, erzählen beide. Die Nebenwirkungen seien extrem gewesen.
Sebastian Bürger: "Schläfrigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsspanne von einer Fliege quasi."
Dabei dachten Sebastian und Thorben, sie seien in guten Händen. Denn der Arzt, der ihnen die Medikamente verordnete, war einer der bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiater Deutschlands.
Ausschnitte Fernsehsendungen: "Herzlich willkommen, Michael Winterhoff!" – "Michael Winterhoff, Kinder- und Jugendpsychiater aus Bonn." – "Sie sind der König in den Bestseller-Listen!"
Winterhoffs Mantra: Viele Kinder würden zu kleinen Tyrannen verhätschelt. Man müsse strenger zu ihnen sein. Damit traf er einen Nerv. Dutzende Kinderheime in Deutschland kooperierten mit ihm, er galt als Star.
Bis eine ARD-Doku im Sommer aufdeckte, was wohl auch zu Winterhoffs Standardtherapie gehörte: Psychopharmaka. Offenbar verordnete er sie vielen seiner jungen Patienten – teils über Jahre, trotz starker Nebenwirkungen. Es geht vor allem um diese Medikamente: Pipamperon und Dipiperon heißen sie – je nach Hersteller. Laut Winterhoff sollen sie Kinder "erreichbar machen" für seine Therapie. Viele Fachleute halten es jedoch für unverantwortlich, das Mittel Kindern und Jugendlichen dauerhaft zu verordnen.
Prof. Michael Schulte-Markwort, Kinder- und Jugendpsychologe: "Das ist sozusagen ein Notfallmedikament, wenn ein Kind tatsächlich mal in einen psychomotorischen Erregungszustand gerät, dann kann man dieses Medikament geben. Das sediert und hat natürlich auch Nebenwirkungen. Das ist ein Medikament, was wir nie dauerhaft geben."
Michael Winterhoff weist jede Kritik zurück. Pipamperon und Dipiperon habe er nur "in Einzelfällen mit spezieller Indikation" verordnet. Die Dosierung habe er kinderpsychiatrisch kontrolliert.
Tatsächlich? Recherchen von MONITOR und Süddeutscher Zeitung wecken an dieser Darstellung neue Zweifel. Exklusiv werden uns interne Medikamentenlisten aus Heimen zugespielt, in denen Winterhoff Kinder behandelte. Sie stammen aus dem Zeitraum von 2010 bis 2021. Die Listen machen deutlich, wie systematisch die Medikamentenvergabe gewesen sein dürfte. Ganze Gruppen von Kindern und Jugendlichen erhielten demnach – offenbar über Jahre – Psychopharmaka, oft in kaum veränderter Dosierung.
Prof. Michael Schulte-Markwort, Kinder- und Jugendpsychologe: "Ich bin erschrocken darüber, wie ausgeprägt dieses Ausmaß ist an immer denselben Diagnosen und immer denselben Medikamenten, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie zumindest zu einem Teil – und wahrscheinlich zu einem großen Teil – nicht indiziert waren."
Und die Listen zeigen noch mehr: Winterhoff verschrieb offenbar auch Kombinationen von Psychopharmaka, Cocktails mit bis zu drei Medikamenten. Regelmäßig kombinierte er demnach etwa Dipiperon mit Risperdal, einem Mittel zur Behandlung von Schizophrenie und Aggressionen.
Prof. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler, Universität Bremen: "Das ist eine Therapie, die ich gar nicht verstehen kann, es sind beides Neuroleptika. Sie haben ähnliche Wirkspektren. Sie haben unterschiedliche, unerwünschte Wirkungen."
Fragen dazu beantwortet Michael Winterhoff nicht konkret. Über seine Anwälte lässt er wissen, dass er Medikamente nur unter Einbeziehung der Sorgeberechtigten verordnet habe
Zitat: "… nachdem in einer Untersuchung und Einzelfallentscheidung (…) festgestellt wurde, dass bzgl. des Kindes eine entsprechende Indikation vorlag …"
Die Verordnung von Medikamenten sei außerdem grundsätzlich
Zitat: "… eingebettet in eine umfassende Behandlung …"
bestehend aus regelmäßigen Untersuchungen und Therapiegesprächen.
Fragwürdige Diagnosen, offenbar jahrelanger Einsatz von Psychopharmaka. Kinder, die über extreme Nebenwirkungen klagen. Warum fiel all das nicht auf? Warum griff niemand ein?
Karin Staab hat sich diese Fragen über Jahre gestellt. Sie ist Vormünderin und hatte auch das Sorgerecht für zwei Kinder, die von Winterhoff behandelt wurden. Sie hatte Zweifel, ob die Psychopharmaka nötig waren, wandte sich ans Heim und ans zuständige Jugendamt. Aber niemand nahm sie ernst.
Karin Staab, Vormünderin: "Es hat mich schon etwas berührt, dass man gar nicht reagiert hat. Ich hatte sogar phasenweise den Eindruck, man lächelt es etwas beiseite.”
Keine Kontrolle durchs Jugendamt? Welche Folgen das haben kann, spüren Sebastian und Thorben bis heute jeden Tag. Seit sie die Medikamente nehmen mussten, haben beide körperliche Beschwerden.
Thorben Geruschke: "Zittern in den Händen, wo ich halt auch oft von Leuten gefragt werde, ob ich auf Alkoholentzug wäre oder ob ich Parkinson hab."
Sebastian Bürger: "Genau wie der Thorben habe ich auch das Problem mit den Händen. Dann hab ich so etwas wie Muskelzuckungen."
Sind es Spätfolgen, weil sie so lange Psychopharmaka bekamen? Auf Anfrage nimmt Michael Winterhoff dazu keine Stellung. Über seine Anwälte teilt er mit, er halte es für nicht sinnvoll,
Zitat: "Einzelheiten der Krankengeschichte (vormals) schwer traumatisierter Kinder in der Öffentlichkeit auszubreiten und damit ggf. Traumata zu reaktivieren."
Für den Pharmokologen Gerd Glaeske ist ein Zusammenhang zwischen Beschwerden und Medikamenten naheliegend.
Prof. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler, Universität Bremen: "Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es Folgen sind dieser langfristigen Einnahme von Neuroleptika. Wir kennen das auch aus anderen Bereichen, wo man relativ kurzfristig solche Neuroleptika gibt und schon nach kurzer Zeit solche Bewegungsstörungen auftreten.”
Dass Kinder in der Jugendhilfe nicht gut genug geschützt sind, hat auch die Politik erkannt. Seit kurzem muss jedes Bundesland sogenannte Ombudsstellen einrichten. Unabhängige Ansprechpartner, an die sich Betroffene wenden können. Ein Schritt in die richtige Richtung, sagen Fachleute. Aber viele Ombudsstellen arbeiten bislang vor allem ehrenamtlich. Und eigenständig Maßnahmen ergreifen können sie nicht. Dafür sind immer noch die Behörden zuständig, die in der Vergangenheit schon so oft versagt haben – wie im Fall Winterhoff.
Vormünderin Staab etwa hat sich immer wieder bei der zuständigen Heimaufsicht beschwert. Gebracht habe es nichts, sagt sie.
Karin Staab, Vormünderin: "Ich bekam dann einmal gesagt, ja, wir waren in der Einrichtung. Wir sahen keine irgendwelche Punkte, die uns … die zu einer Beanstandung geführt haben."
Und das zuständige Landesjugendamt? Schreibt auf Anfrage, man sei seit 2011 mehreren Beschwerden im Fall Winterhoff nachgegangen. Es sei aber
Zitat: "... weder eine strukturelle noch eine akute Kindeswohlgefährdung erkennbar …”
gewesen. Eine erstaunliche Reaktion angesichts der heute offenkundigen Missstände.
Unangekündigte Kontrollen durch unabhängige Stellen könnten ein Ansatz sein, Missstände auf anderem Weg zu entdecken. Anders als in Pflegeheimen ist das in Kinderheimen bislang aber nicht vorgesehen. Sebastian und Thorben hätte viel Leid erspart werden können, wenn die Behörden, die für das Kindeswohl zuständig sind, nur genauer hingeschaut hätten.
Georg Restle: "Und so lange eben niemand hinschaut und niemand so richtig kontrolliert, so lange wird es viele solcher Fälle geben. Und viele Kinder, die leiden – im Verborgenen."
Kommentare zum Thema
Wieviel hat er von der Pharmaindustrie bekommen, für diesen Langzeit - Medikamententest im großen Maßstab? Kinder, die sich aufgrund des Charakters, des Bildungstandes und des Sozialen Status der Familien nicht wehren können? Oder ohnehin im Heim sind? Wieviel Geld ist für die kritiklose Medikation an die Handlanger geflossen? Stellt nie jemand Fragen?
wo bleibt da die Heimaufsicht, und wo bleibt da die Politik, hier zeigt das versagen von Behörden und der Politik und das auf dem Rücken der schwächsten unseren Kinder, aber man sollte jetzt nicht denken das da jemand zur rechenschafft gezogen wird.r.wolff
Jugendämter übernehmen solche vermeinflich einfachen Lösungen gerne, weil die Kosten dafür von der Krankenkasse getragen werden und nicht von der Jugendhilfe. Kindeswohl steht häufig hinten an. Ergänzungsofleger werden ohne jegliche Ausbildung eingesetzt und entscheiden über Diagnosen vor Gericht, die Richter.innen folgen dem Jugendamt ohne Kontrolle. Das führt zu Inobhutnahmen statt zur Familienhilfe. Durch solche Handlungsweisen hat ein Winterhoff freie Bahn. Da er wohlmöglich seinen eigenen zusammengeschusterten Theorien selbst glaubt, ist er doppelt gefährlich. Ich habe selber 40 Jahre in diesem Bereich gearbeitet und meine Aussagen beruhen auf Erfahrung und sind beweisbar.....interessiert nur niemanden. Die Dunkelziffer ist riesig und Ämter blocken alles mit Datenschutz. Die Fähigkeiten der Mitarbeiter sind bestenfalls lausig.... aber es gibt dennoch manche Ausnahmen.