Hassen, Pöbeln, Gaffen -  wie verroht ist unsere Gesellschaft?

Der Faktencheck zur Sendung vom 21.11.2016

Ein Mann liegt sterbend am Boden und kein Passant hilft – eine Szene aus dem deutschen Alltag. Was ist los, wenn Feuerwehrleute bespuckt, Polizisten verprügelt werden? Verroht die Gesellschaft, weil Hass im Netz tobt und Gleichgültigkeit den Alltag bestimmt?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und überprüft einige Aussagen. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Thomas de Maizière über Gewaltkriminalität

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagt, insgesamt sei die Gewaltkriminalität in Deutschland zurück gegangen.

Das stimmt. Seit 2007 verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) einen stetigen Rückgang der Gewaltkriminalität. Hierzu zählen Delikte wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Raub sowie schwere und gefährliche Körperverletzung. 2007 wurden 217.923 Fälle solcher Fälle registriert. Jahr für Jahr sank die Zahl dieser Delikte auf 180.955 im Jahr 2014. Das entspricht einem Rückgang von knapp 17 Prozent. 2015 registrierte die PKS erstmals in acht Jahren wieder einen leichten Anstieg der Gewaltkriminalität um 431 Fälle auf 181.386.

Renate Künast und ihre Sitzblockade

1992 hat Renate Künast aus Protest gegen die Pläne, das Brandenburger Tor für den Autoverkehr freizugeben, an einer Sitzblockade teilgenommen. Schmunzelnd kommentierte Thomas de Maizière, die sei eine kleine Nötigung gewesen.

Ob Sitzblockaden heute als Nötigung gewertet werden können, hängt vom Einzelfall ab. Früher wurden Sitzblockaden, verbunden mit Anketten, Einhaken oder auch aktivem Widerstand gegen das Wegtragen als Nötigung nach Paragraf 240 Strafgesetzbuch angesehen. Seit den achtziger Jahren hat sich das Bundesverfassungsgericht allerdings immer wieder mit der Frage befassen müssen, unter welchen Umständen eine Sitzblockade tatsächlich den Tatbestand der Nötigung erfüllt oder vom Recht der Versammlungsfreiheit gedeckt ist. Zuletzt hat das BVerfG im Jahr 2011 entschieden, dass eine Sitzblockade nicht zwangsläufig als Nötigung betrachtet werden muss. Die obersten Richter hoben in diesem Einzelfall eine Verurteilung eines Demonstranten durch das Frankfurter Landgericht auf, der 2004 eine Zufahrt zu einem US-Luftwaffenstützpunkt blockierte. Zwar habe es sich im rechtlichen Sinne um eine Gewaltausübung gehandelt, dennoch sei die Blockade vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit gedeckt gewesen. Rechtswidrig sei die Blockade laut Verfassungsgericht allerdings nur, "wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Ziel als verwerflich anzusehen ist." Dies habe das Landgericht nicht ausreichend geprüft. Darüber hinaus habe die Blockadeaktion dem Zweck gedient, öffentliche Aufmerksamkeit für politische Belange zu wecken. Somit wurde die Sitzblockade zu einer Versammlung, welche durch Artikel 8 des Grundgesetzes, gedeckt war.

Wolfgang Huber über "unterlassene Hilfeleistung"

Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland, plädiert dafür, unterlassene Hilfeleistung strenger zu verfolgen. Schließlich handele es sich hierbei um eine Straftat und nicht um ein Kavaliersdelikt.

Tatsächlich ist unterlassene Hilfeleistung eine Straftat und nicht nur eine Ordnungswidrigkeit, die mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet werden kann. Paragraf 323c des Strafgesetzbuches regelt den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Demnach macht sich strafbar, "wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist."

Nicht wenige Experten halten den Paragrafen allerdings für nicht weitreichend genug. Der Jurist und renommierte Kriminologe Hans-Dieter Schwind erforschte die unterlassene Hilfeleistung bereits Ende der Neunziger Jahre im Zusammenhang mit dem "Gaffer-Phänomen". Für ihn ist der Paragraf ein "zahnloser Tiger", da er relativ selten zur Anwendung kommt. Grund hierfür sei zum einen, dass für die unterlassene Hilfeleistung ein Vorsatz nachgewiesen werden muss und zum anderen Hilfe unter den gegebenen Umständen zumutbar sein müsse. Vor diesem Hintergrund könnten sich Zuschauer meist herausreden oder sie verschwinden einfach vom Tatort.

Stand: 01.11.2016, 10:37 Uhr