Nach Messerangriff in Fitnessstudio: Warum Yasin vergibt, statt zu hassen
Stand: 25.03.2025, 15:38 Uhr
Yasin Güler wurde bei dem islamistischen Terroranschlag in einem Duisburger Fitnessstudio am 18. April 2023 lebensgefährlich verletzt. Über sein Leben nach dem Messerangriff hat er nun ein Buch geschrieben. Der Titel: Vergeben statt vergelten. Darin erklärt er auch, wie der Anschlag zu einer Art Befreiungsschlag für ihn wurde.
Von Jessika Westen
Spuren an Körper und Seele
Für Yasin Güler ist nach dem 18. April 2023 nichts mehr, wie es vorher war. Im Fitnessstudio John Reed in Duisburg zieht er sich gerade für das Training um, als er Schreie aus dem Duschbereich hört. Güler rennt los, ohne groß darüber nachzudenken, wie er selbst sagt. Er will helfen. Plötzlich steht ein Mann in dunklen Klamotten vor dem damals 21-Jährigen. Er schreit Güler auf Arabisch an und sticht mit einem Messer zu. Güler schaut an sich herunter, sieht das Blut fließen. Wenig später liegt er im Krankenwagen und kämpft um sein Leben.
Nach Angriff in Duisburger Fitnessstudio: Opfer schreibt Buch
Heute, fast zwei Jahre nach der Tat, sitzt Yasin Güler am Küchentisch seiner Mutter. Vor ihm steht aufgeklappt sein Laptop. Dort hat Güler in den vergangenen Monaten alles aufgeschrieben: Über die Suche nach der eigenen Identität, das Hin- und Hergerissen sein zwischen den Kulturen und den Religionen und wie ihm der wohl schlimmste Moment seines Lebens dabei geholfen hat, all das zu ordnen. Denn der Angriff hinterlässt mehr als körperliche Spuren.
Der Moment des Angriffs: Yasin Güler liest eine Szene aus seinem Buch vor
00:36 Min.. Verfügbar bis 25.03.2027.
Güler ist damals nicht das einzige Opfer des islamistischen Anschlags. Insgesamt vier Menschen werden bei dem Angriff in den Dusch- und Umkleideräumen zum Teil lebensgefährlich verletzt. Teile der Duisburger Innenstadt werden gesperrt, Polizeihubschrauber kreisen über der Stadt. Denn der Täter kann damals fliehen. Erst einige Tage später wird der damals 27-jährige Maan D. aus Syrien gefasst. Über die Hintergründe der Tat und die islamistische Radikalisierung des Täters haben wir mit einem Experten für das YouTube-Format Lokalzeit MordOrte gesprochen.
Neuanfang nach dem Trauma
Den Fahndungserfolg der Ermittler bekommt Güler aber kaum mit. Er liegt im Krankenhaus und lange ist nicht klar, ob er den Anschlag überhaupt überleben wird. Der Messerstich hat eine Niere, die Gallenblase, Teile des Dick- und des Zwölffingerdarms zerstört. Güler bekommt einen künstlichen Darmausgang und muss dreimal die Woche zur Dialyse, weil die verbliebene Niere durch die Operationen und Medikamente ebenfalls stark geschädigt wurde. Es beginnt eine monatelange schwere Zeit im Krankenhaus.
Yasin Güler musste schon zahlreiche Operationen durchstehen
00:26 Min.. Verfügbar bis 25.03.2027.
Genau in dieser Zeit trifft Güler eine Entscheidung, die auch sein Familienleben grundlegend verändert. Im Krankenhaus erzählt er seinem Vater, dass er schwul ist. "Ich lag im Krankenhaus und stand komplett unter Schmerzmitteln. Da habe ich es meinem Vater gesagt", erzählt Güler. Danach sieht er den Vater nie wieder. Den Rest seiner türkischen Familie ebenfalls nicht. Sie hat mit ihm gebrochen.
Güler will die "dunkle Zeit" hinter sich lassen
Yasin Güler ist "zwischen den Welten" aufgewachsen. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Türke. Sie trennten sich in seiner frühen Kindheit. Güler kennt das Christentum und den Islam. Er selbst ist bekennender Christ. Der Terroranschlag, so scheint es, war für ihn auch eine Art Befreiungsschlag. Heute ist er froh, keinen Kontakt mehr zum "toxischen Teil" seiner Familie zu haben, wie er selbst sagt. Der Kampf ums Überleben hat Güler auch gezeigt, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hat und sein Leben in vollen Zügen genießen will.
Kraft hat dem 23-Jährigen vor allem seine Mutter gegeben, die immer an seiner Seite war. Aber auch sein Glaube. Mittlerweile studiert er wieder Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Außerdem hat er während seiner Zeit im Krankenhaus seinen Freund Michele kennengelernt und ihm im Dezember 2024 in New York einen Heiratsantrag gemacht. "Er hat zum Glück 'Ja' gesagt", sagt Güler. Bald wollen die beiden zusammenziehen. "Ich bin wirklich froh, dass sich alles so entwickelt hat und dass aus der dunkelsten Zeit so eine helle Zeit entstanden ist."
Mittlerweile kann Yasin Güler wieder studieren
Auch gesundheitlich macht er Fortschritte. "Ich glaube, ich bin mittlerweile 14 Mal operiert worden, aber heute geht es mir den Umständen entsprechend gut. Der künstliche Darmausgang konnte wieder zurückverlegt werden, das hat mir sehr viel Lebensqualität zurückgegeben", sagt Güler. Seine Niere hat sich mittlerweile ebenfalls etwas erholt. Sie hat wieder eine Funktion von 26 Prozent. Güler muss zwar stark auf seine Ernährung achten und wohl sein Leben lang Medikamente einnehmen, aber immerhin nicht mehr zur Dialyse. Doch wie geht er heute mit dem Erlebten um?
Mit seinem Buch will Yasin Güler anderen Menschen Hoffnung machen
00:46 Min.. Verfügbar bis 25.03.2027.
Toleranz statt Vergeltung
Ende 2023 trifft er im Gerichtssaal zum ersten Mal auf den Mann, der ihm all das angetan hat. Der Islamist Maan D. sagt im Strafprozess aus, dass er "Ungläubige" töten wollte. Im Fitnessstudio John Reed ist ihm das nicht gelungen. Alle vier Opfer haben den Angriff überlebt. Doch keine zwei Wochen zuvor hatte er in der Duisburger Innenstadt willkürlich einen Mann mit 28 Messerstichen getötet.
- Zum Beitrag: Warum Messerangriffe in NRW zunehmen
"Ich habe ihm die ganze Zeit in die Augen gesehen, aber da war nichts zu sehen außer Leere", sagt Yasin Güler. Er empfinde gegenüber Maan D. trotzdem keinen Hass: "Ich glaube, dass Hass nur immer noch mehr Hass erzeugt und ich vielleicht auch ein leuchtendes Beispiel dafür sein kann, dass es auch anders geht. Dass man Hass nicht mit Hass beantworten muss."
Wir reagieren auf diese Anschläge genau so, wie sich solche Organisationen das erhoffen. Yasin Güler
Stattdessen ruft Güler in seinem Buch zum Zusammenhalt auf. Denn das Ziel von Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, sei, die Gesellschaft auseinanderzutreiben. "Wir reagieren auf diese Anschläge genau so, wie sich solche Organisationen das erhoffen. Wenn wir nicht zusammenhalten, sind wir leichte Ziele."
Maan D. wird vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Yasin Güler sieht in ihm nicht nur einen Täter, sondern auch ein Opfer von Menschen, die ihn als Marionette für ihren Terror genutzt hätten.
Das Buch von Yasin Güler erscheint am 27.03.2025 im Bonifatius Verlag. Der Titel: Vergeben statt vergelten. Mein Leben nach dem Messerattentat. Warum wir Perspektiven gegen Gewalt brauchen.
Über dieses Thema berichten wir auch am 25.03.2025 im WDR-Fernsehen: Lokalzeit aus Duisburg, 19.30 Uhr.
