Der Fall Arthur Meinberg
Am 20. Dezember 1949 verbringt Arthur Meinberg seinen Feierabend mit seinem Kollegen Georg Sommerhoff in Attendorn. Ein paar Stunden später wird er schwer verletzt aufgefunden und stirbt kurz darauf. Verschiedene Indizien sprechen für die Ermittler klar dafür, dass der 39-jährige Meinberg seinen Kollegen getötet hat. Er kommt ins Gefängnis - obwohl er stets seine Unschuld beteuert.
Erst 19 Jahre später stellt ein Gericht fest: Meinberg war unschuldig. Seine lange Haftstrafe war ein folgenschweres Fehlurteil, die extremste Form eines sogenannten "Justizirrtums". Den Film zum Fall gibt es bei Lokalzeit MordOrte auf YouTube zu sehen.
Im Film sprechen wir auch mit Strafverteidiger Hans Reinhardt. Er hat in seiner Laufbahn mehr als einmal mit Fehlurteilen zu tun gehabt. Er erzählt von einem anderen Mandanten, der ein ähnliches Schicksal erlebt hat. Auch er musste unschuldig ins Gefängnis - allerdings lautete der Tatvorwurf Banküberfall. Wie kann so etwas passieren? Und was macht es mit einem Menschen, wenn er zu Unrecht eingesperrt wird?
Wenn einer lügt
Lokalzeit: Welche Geschichte ging dem Justizirrtum um Ihren Mandanten voraus?
Hans Reinhardt: Mein Mandant war vorbestraft wegen Einbrüchen und anderer Vermögensdelikte. Eines Tages klopfte jemand an seine Zellentür. Zu diesem Zeitpunkt saß er noch eine andere Strafe ab. Er wurde zu einer Vernehmung mitgenommen und man sagte ihm: "Wir beschuldigen Sie der Mittäterschaft an einem Bankraub. Wir haben lange ermittelt. Bisher hatten wir nur ein Fahndungsfoto, jetzt haben wir noch die Aussage Ihres Mittäters. Nämlich derjenige, der die Waffe gehalten hat, und Sie waren mit in der Bank." Er wurde angeklagt und gegen Widerstand verurteilt. Insgesamt hat er fünf Jahre Haft bekommen und stand vor einem Scherbenhaufen.
Strafverteidiger Hans Reinhardt
Lokalzeit: Wie ging es weiter?
Reinhardt: Nach zwei Jahren Haft hat er Ausgang bekommen. Er ist zu mir ins Büro gekommen und erzählte mir die ganze Geschichte. Ich habe die Akte angefordert und in der Tat: Die Akte sprach für ihn. Es gab keine Beweise. Was ist schon eine äußerliche Beschreibung, wenn einer von hinten fotografiert wird? Die passt auch auf tausende andere Personen. Das Problem war die Aussage des angeblichen Mittäters, der ihn ganz klar beschuldigte. Doch die Aussage war falsch, schlichtweg gelogen. Er wollte sich Vorteile verschaffen und hat eine vorzeitige Haftentlassung erwirkt.
Lokalzeit: Warum wurde ausgerechnet Ihr Mandant mit in die Sache reingezogen?
Reinhardt: Die beiden Männer kannten sich. Mein Mandant war das Bauernopfer. Der eigentliche Täter war mit einer anderen Person in die Bank eingebrochen, schützte die aber.
Warum Wiederaufnahmeverfahren so schwierig sind
Lokalzeit: War das ein sogenannter Indizienprozess?
Reinhardt: Es war eine Mischung aus Indizienprozess und normaler Hauptverhandlung. Der Indizienprozess kennzeichnet sich dadurch aus, dass es keine Beweise gibt. Hier hatte man aber die Einlassung eines Beschuldigten, das ist vergleichbar mit einer Zeugenaussage. Das reichte dem Gericht aus. Im Urteil heißt es: "Aus vollständiger Überzeugung und zur absoluten Sicherheit des Gerichtes steht fest, dass er die Tat mitbegangen hat".
Lokalzeit: Was hat Ihr Mandant aus der Haft heraus versucht, um Gerechtigkeit zu bekommen?
Reinhardt: Mein Mandant ist natürlich völlig verzweifelt gewesen, weil er in der Haft nur beschränkte Möglichkeiten hatte. Er kann nicht groß telefonieren, er ist finanziell schlecht gestellt und hat kaum Möglichkeiten, Beweise zu finden. Man muss wissen: Das Wiederaufnahmeverfahren setzt voraus, dass es neue Tatsachen oder Beweismittel gibt. Wenn es die nicht gibt, ist das völlig aussichtslos. Alle seine Anträge sind abgelehnt worden mit der Begründung: "Das hat keinen Zweck, Sie erzählen Unsinn. Beweisen Sie uns doch mal, dass Sie das nicht waren!"
- Was genau ist ein Wiederaufnahmeverfahren? Hans Reinhardt erklärt den Fachbegriff im Wörterbuch für die True-Crime-Community
Lokalzeit: Was ist das Problem bei Wiederaufnahmeverfahren?
Reinhardt: Wenn sich die Justiz einmal festgelegt hat, ist es unwahrscheinlich schwer, einen Richter dazu zu bewegen, seine eigene Entscheidung in Frage zu stellen. Wie es manchmal im Leben so ist, spielt der Zufall oft die entscheidende Rolle. So war es auch hier: Ein Koch in der JVA wandte sich an meinen Mandanten. Er habe ein Gespräch mitgehört, wie der angebliche Mittäter sich gegenüber anderen Häftlingen brüstete, dass er ihn in die Pfanne gehauen habe und mein Mandant gar nicht bei dieser Tat dabei gewesen wäre. Mit dieser Information kam mein Mandant zu mir und ich hatte das entscheidende Puzzleteil, um einen Wiederaufnahmeantrag stellen zu können.
Warum kommt es zu Justizirrtümern
Lokalzeit: Schauen wir nochmal auf die Gründe für Justizirrtümer. In Ihrem Fall war es die Falschaussage. Welche gibt es noch?
Reinhardt: Es gibt noch das falsche Geständnis. Da bezichtigt sich jemand einer Tat, die er gar nicht begangen hat. Die Motive sind ganz unterschiedlich: Manchmal will man einfach nur eine andere Person schützen. Ich denke da an den Fall Günther Kaufmann, der sich selber der Beteiligung an einem Mord bezichtigt hat. Es kam heraus, dass er nur seine Lebensgefährtin schützen wollte. Außerdem gibt es Fälle, bei denen Zeugen lügen. Ein Mann wird zum Beispiel von seiner Freundin der Vergewaltigung beschuldigt und kommt für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Bei der Hauptverhandlung sagt die Frau aus: "Ich habe gelogen, er hat mich nicht vergewaltigt. Warum ich gelogen habe? Das ist ein richtig mieser Typ, er hat mich mehrfach betrogen. Er sollte dafür eine gerechte Strafe bekommen."
Lokalzeit: Gibt es auch Fälle, in denen sich Zeugen irren?
Reinhardt: Ja, die gibt es. Zeugen beobachten zum Beispiel einen Überfall und sollen eine beteiligte Person beschreiben. Der Zeuge hat tatsächlich aber nur einen Sekundenbruchteil wahrgenommen und beschreibt die falsche Person. Das sind typische Fehlerquellen. Auch bei der Polizeiarbeit am Tatort können Fehler passieren. Spuren werden zum Beispiel vernichtet oder die wichtigsten Zeugen nicht notiert.
- Zum Beitrag: Unschuldig im Gefängnis - Neue DNA-Technik bringt Wendung
Lokalzeit: Ihr Mandant wurde nach zwei Jahren Haft freigesprochen. Wurde er entschädigt?
Reinhardt: Er hat eine Haftentschädigung bekommen. Damals waren es etwa 20 D-Mark, heute sind es 75 Euro pro Tag. Trotzdem ist das für die Freiheit quasi nichts. Die Folgen sind unwiederbringlich. Er ist schwer krank geworden und hat ein Magengeschwür bekommen. Letztendlich ist er daran nach einigen Jahren verstorben. Neben ihm hat aber auch die ganze Familie gelitten. Psychisch geht jemand, der zu Unrecht in Haft sitzt, durch die Hölle.
Lokalzeit: Entsteht auch eine Angst vor der Justiz? Eigentlich ist das System dafür da, um uns zu schützen. Auf einmal ist diese ganze Macht gegen einen.
Reinhardt: Ja, mein Mandant entwickelte ein Misstrauen gegenüber der Justiz. Überhaupt gegenüber allen Personen, die auf staatlicher Seite mit gewissen Machtbefugnissen ausgestattet sind. Er sagte immer: "Die können doch machen, was sie wollen. Keiner schützt mich."