Ein Bild von Sandra G. an einem Kreuz zum Gedenken an sie umgeben von Blumen.

Kriminalfälle aus NRW: Was passierte beim Brückensturz von Höxter?

Höxter | Verbrechen

Stand: 10.06.2024, 09:39 Uhr

Sandra G. liegt schwerverletzt unter einer Brücke auf der Fahrbahn der B64. War es ein Unfall, Suizid oder Mord? Diese Frage schwebt bis heute über diesem tragischen Fall, der sich im Sommer 2013 in Höxter ereignete.

Im Mittelpunkt steht die 17-jährige Sandra G. aus Wehrden und ein Ort in der Nähe von Höxter. Dort lebt sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder. Weil sie ein Praktikum in einem Hotel absolviert, zieht Sandra in eine WG nach Höxter. Dort soll sie in wenigen Monaten auch eine Ausbildung beginnen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

In der Nacht des 15. Juni 2013 um 2.15 Uhr liegt Sandra G. blutüberströmt auf der B64 in Höxter. Sie ist von der sechs Meter hohen Fußgängerbrücke auf die Fahrbahn gestürzt. Ein Autofahrer findet die junge Frau und alarmiert die Rettungskräfte. Sandras Mutter Martha G. (Name von der Redaktion geändert) erinnert sich: "Sandra wollte eigentlich am Samstag (15. Juni 2013) nach Hause kommen und bei uns das Wochenende verbringen. Doch sie kam nicht und es wurde immer später. Ich habe mir den ganzen Tag über Sorgen gemacht. Abends um 20.30 Uhr klingelten dann zwei Polizeibeamte an der Tür und teilten uns mit, dass Sandra schwerverletzt im Krankenhaus liegen würde."

Sandra G. kämpft um ihr Leben, vergebens. Sie stirbt nur wenige Monate vor ihrem 18. Geburtstag. Für Sandras Familie bricht eine Welt zusammen, ihre Mutter Martha G. ist nervlich am Ende: "Als Sandra gestorben ist, ist auch eine Hälfte von mir gestorben. Ich wollte ihr damals in den Tod folgen, mein Schmerz war unerträglich. Doch ich musste weitermachen, ich hatte noch einen Sohn, der mich brauchte."

Eine Rekonstruktion der letzten Stunden im Leben von Sandra G.

Am Abend des Vorfalls findet in Sandras WG eine Party statt. Gemeinsam mit Freunden und ihrem neuen Freund Olli (Name von der Redaktion geändert) feiert sie ausgelassen. Doch irgendwann kommt es zum Streit zwischen Olli und Sandra. Er ist eifersüchtig, weil sich seine Freundin länger mit einem fremden Mann auf der Terrasse aufhält. Daraufhin verlässt Olli die Party, Sandra geht ihm hinterher, sie ist barfuß und hat keine Wertsachen bei sich. An einem Kreisverkehr bleiben sie stehen, Sandra versucht ihren Freund zu beruhigen, entschuldigt sich bei ihm. Doch Olli ist mit der Situation überfordert, er bittet Sandra ihn in Ruhe zu lassen, er will die Sache wann anders klären.

Die 17-Jährige kommt seiner Bitte nach, doch anstatt zurück zur Party zu gehen, läuft sie in Richtung der Fußgängerbrücke in Höxter, die über die B64 führt. Diese kleine Brücke grenzt an einen Friedhof, Passanten nutzen sie, um in die Innenstadt zu gelangen. Zeugen werden später aussagen, sie hätten Sandra G. kurz vor ihrem Tod auf dieser Brücke gesehen. Doch was hat sie dort getan? Sandras Mutter ist überzeugt: "Unsere Tochter ist nicht selber gesprungen, auf keinen Fall. Hier muss was passiert sein. Da war noch jemand auf dieser Brücke."

Vogelperspektive auf die Fußgängerbrücke. Unterhalb verläuft die B64.

Unter dieser Brücke, die überhalb der B64 verläuft, wurde Sandra G. gefunden

Die Polizei ermittelt in Sandras Umfeld. Familie und Freunde werden befragt, alle sagen aus, Sandra sei ein lebensfroher und positiver Mensch gewesen. Auch Sandras Ex-Freund Daniel (Name von der Redaktion geändert) wird vernommen, mit ihm war sie bis vor wenigen Wochen vor dem Vorfall länger zusammen. Martha G. berichtet der WDR Lokalzeit, es habe häufiger Streit zwischen Sandra und Daniel gegeben. Laut Aussagen ihrer Tochter soll er sie zudem geschlagen haben. Doch Daniel bestreitet in der polizeilichen Vernehmung jegliche Beteiligung an Sandras Tod, weder habe er seine Ex-Freundin in der Nacht getroffen noch sei er auf der Friedhofsbrücke gewesen.

Vorwürfe gegen die Behörden

Martha G. glaubt diesen Aussagen nicht, sie macht den Behörden schwere Vorwürfe: "Die Polizei hat nicht gut ermittelt. Sie gingen direkt davon aus, dass Sandras Sturz von der Brücke ein Unfall oder ein Suizid gewesen ist. Daher wurden in der Tatnacht keine Spuren gesichert, das kam erst später. Doch da war es zu spät, weil in der Zwischenzeit viele andere Leute am Tatort auf der Brücke vorbeikamen."

Auf Nachfrage teilt die zuständige Staatsanwaltschaft Paderborn der WDR Lokalzeit mit: "Im Rahmen des Todesermittlungsverfahrens (…) haben sich keine Hinweise auf ein Fremdverschulden ergeben. Insbesondere im Rahmen der durchgeführten Obduktion konnten keine Abwehrverletzungen oder Griffspuren festgestellt werden. Auf der Brücke oder am Brückengeländer fanden sich am Morgen nach dem Vorfall ebenfalls keine Spuren, die Hinweise auf ein Kampfgeschehen gegeben haben. Hinweise auf ein Fremdverschulden ergaben sich erst mehrere Monate später durch Zeugenaussagen."

Zeugen melden sich nach Sendung

Diese neuen Zeugenaussagen kamen von Passanten, die sich erinnerten, in der Nacht des Vorfalls eine weitere Person mit Sandra G. auf der Brücke gesehen haben zu wollen – ihren Ex-Freund Daniel. Die Polizei befragt den jungen Mann daraufhin erneut, dieses Mal gibt er zu, sich in der Nacht mit Sandra G. auf der Brücke getroffen zu haben. Mit ihrem Tod will er aber weiterhin nichts zu tun haben, sagt er. Nach diesen neuen Erkenntnissen berichtet nun auch die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY-ungelöst 2019 über den Fall, sie sucht öffentlich nach weiteren Zeugen, die zur Aufklärung beitragen können.

Es kommen einige Hinweise rein, unter anderem will ein älteres Paar, das in der Nähe der Brücke lebt, in der besagten Nacht einen Streit zwischen einer Frau und einem Mann auf der Brücke mitbekommen haben. Doch den Ermittlern fehlt ein handfester Beweis, dass es sich bei Sandras Brückensturz wirklich um ein Fremdverschulden gehandelt habe. Gegen Daniel hat die Staatsanwaltschaft Paderborn zwar einen Anfangsverdacht, doch keinen hinreichenden Tatverdacht. Deswegen kam es bis heute zu keiner Anklage gegen Sandras Ex-Freund.

Zuhause zwischen Brücke und Friedhof

Bis heute bleiben viele Fragen ungeklärt: Hatte Sandra Streit mit Daniel? Wenn ja, worüber? Hat er sie von der Brücke gestürzt? Oder saß Sandra auf dem Brückengeländer und ist aus Versehen gefallen? Wurde sie vom Geländer gestoßen? "Wir sind von der Polizei enttäuscht, weil sie die Ermittlungen um Sandras Tod schon lange aufgegeben hat. Ich habe seit mehreren Jahren nichts mehr von dem Ermittler gehört. Und während meine Tochter ihr Leben verloren hat, läuft der Täter frei herum", sagt Martha G. Die Staatsanwaltschaft Paderborn teilte der WDR Lokalzeit hierzu mit: "Das Verfahren ist nach wie vor ungeklärt und es wird in Abständen überprüft, ob neue Ermittlungsansätze bestehen."

Selbst, wenn die Ermittlungen am Ende scheinen, für Martha G. ist die Sache nicht abgeschlossen: "Ich gehe zwei bis drei Mal die Woche zu der Brücke, wo meine Tochter Sandra gestorben ist. Auf dem Friedhof, wo sie begraben liegt, bin ich sogar täglich. Die Brücke und der Friedhof sind wie meine zweite Heimat geworden, weil ich so oft dort bin, um Sandra nahe zu sein."

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer Suizidgedanken hat, dreht sich dabei innerlich meist im Kreis. Dadurch wirkt die Situation festgefahren, der Teufelskreis lässt sich aber durchbrechen. Anonyme und kostenlose Hilfe finden Betroffene zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123. Per Chat bietet die Telefonseelsorge auf dieser Webseite Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention listet hier Beratungsstellen für persönliche Gespräche auf.