An der Stelle, an der das getötete neugeborene Mädchen in Mönchengladbach gefunden wurde, stehen ein Kreuz, Kerzen und Stofftiere

Baby im Mülleimer: Warum tötet eine Mutter das eigene Kind?

Mönchengladbach | Verbrechen

Stand: 04.11.2024, 17:03 Uhr

Im März 2022 tötet eine junge Mutter ihr Neugeborenes und legt es in Mönchengladbach in einem Mülleimer ab. Die spätere Diagnose: Die Mutter leidet unter einer Borderline-Störung. Ein Experte erklärt, was es mit dieser psychischen Erkrankung auf sich hat und welche entscheidende Rolle sie in diesem Fall gespielt hat.

Von Stefan Weisemann (Text) und Hamzi Ismail (Interview)

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Das tote Baby im Mülleimer: Der Fall "Rabea"

Ende März 2022 sucht eine Frau am Rande des Volksgartens in Mönchengladbach nach Pfandflaschen. In einem Mülleimer macht sie plötzlich einen grausamen Fund: Eingewickelt in einer rosafarbenen Einkaufstasche liegt im Müll ein erst wenige Stunden altes Mädchen. Es ist tot. Gestorben an massiven Verletzungen.

Zunächst bleibt unklar, wer das kleine Mädchen dort abgelegt hat. Die Ermittler geben dem Kind den Namen "Rabea". In einer bewegenden Trauerfeier wird es beerdigt. Einige Wochen später ist klar: Die junge Mutter hat ihr Kind getötet und in den Mülleimer gelegt. Bei WDR Lokalzeit MordOrte zeigen wir den ganzen Fall, der nicht nur in Mönchengladbach viele Menschen sehr berührt hat.

Die Mutter von Rabea sagt aus, dass sie von der Schwangerschaft nichts mitbekommen hat. Ist so etwas tatsächlich möglich? Gutachter stellen bei ihr eine Borderline-Störung fest. Was hat die Erkrankung mit dem Fall zu tun? Und wo finden andere Betroffene Hilfe? Die Antworten gibt Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke aus Lünen.

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Wie eine Schwangerschaft unbemerkt bleiben kann

Lokalzeit: Die Mutter von Rabea hat ausgesagt, dass sie von der eigenen Schwangerschaft nichts mitbekommen hat. Kann das überhaupt sein?

Christian Lüdke: Es ist für einen gesunden Menschen kaum vorstellbar, dass eine Frau die eigene Schwangerschaft nicht mitbekommt. Das wäre nur dadurch zu erklären, dass sie von ihren eigenen Gefühlen vollkommen abgespalten ist. Sie hat keinerlei Emotionen und führt ein Leben in einer gefühlsmäßigen Vollnarkose. Folglich nimmt sie auch die Veränderungen an ihrem Körper nicht wahr.

Lokalzeit: Was steckt dahinter?

Lüdke: Dafür müssen sehr schwere psychische Störungen und Wahrnehmungsstörungen vorliegen. Solche Frauen können auch eine psychotische Episode erleben. Das heißt, dass sie völlige Realitätsverluste haben und sich selbst nicht mehr fühlen. Teilweise können auch Drogen eine Rolle spielen. Die eigene Schwangerschaft wird dann regelrecht vergessen oder abgespalten.

Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke aus Lünen

Behandelt Menschen mit Borderline-Störung: Psychotherapeut Christian Lüdke

Lokalzeit: Die junge Mutter hat ihr gerade geborenes Kind dann getötet. Lässt sich das psychologisch erklären?

Lüdke: Dahinter steckt in der Regel eine sogenannte Bindungsstörung. Eine Frau, die das tut, hat schon während der Schwangerschaft überhaupt keine emotionale Bindung zu dem Leben aufgebaut, das in ihrem Bauch heranwächst. Sie freut sich nicht darauf, sondern erlebt das Kind eher als eine Störung oder eine Altlast, die sozusagen entsorgt werden muss. Für diese Frau ist das Töten des Kindes die Möglichkeit, das Problem aus der Welt zu schaffen.

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Was eine Borderline-Störung bedeutet

Lokalzeit: Eine Gutachterin hat bei der Mutter von Rabea eine Borderline-Störung festgestellt. Was versteht man darunter und wie kommt es zu dieser Erkrankung?

Lüdke: Menschen mit einer Borderline-Störung haben eine emotionale Instabilität. Sie haben große Schwierigkeiten, mit ihren eigenen Gefühlen zurechtzukommen. Diese Menschen suchen häufig große Nähe und schaffen sehr viel Vertrauen. Im nächsten Moment gehen sie dann aber auf große Distanz. Betroffene mit einer Borderline-Störung haben ihre Gefühle also in keiner Weise dauerhaft stabil im Griff.

Lokalzeit: Wie entsteht eine solche Störung?

Lüdke: Sie kann durch sehr negative Erfahrungen mit Beziehungen und Bindungen entstehen, ebenso durch abgebrochene Bindungen. Das heißt, wenn man einen geliebten Menschen verliert, kann man traumatisiert werden. Auch Gewalterlebnisse oder Grenzverletzungen können dahinter stecken.

Lokalzeit: Inwiefern könnte die Borderline-Störung von Rabeas Mutter eine Rolle für die Tötung gespielt haben?

Lüdke: Die Mutter wird vermutlich eine Bindungsstörung gehabt haben. Das heißt, dass sie das Kind nicht geliebt, nicht gewollt hat. Sie wollte das Problem lösen und durch ihre Borderline-Störung hat sie dann sozusagen die Erlaubnis bekommen, es aus der Welt zu schaffen. Die Folgen hat sie dabei wegen der Störung nicht reflektiert.

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Welche Rolle das soziale Umfeld spielt

Lokalzeit: Welche Rolle hat das soziale Umfeld der Mutter im Vorfeld der Tat gespielt?

Lüdke: Möglicherweise hat niemand mitbekommen, in welcher seelischen Verfassung sie gewesen ist. Sonst hätte vielleicht jemand den Mut gehabt, sie anzusprechen. Das ist auch Teil der Borderline-Störung: Oft gibt es kein stabiles soziales Umfeld. Die Betroffenen sind mit sich allein oder nur auf einen Menschen fixiert.

Lokalzeit: Aber die Menschen um sie herum müssen doch etwas von der Schwangerschaft mitbekommen haben. Sie dürfte sich ja auch optisch verändert haben.

Lüdke: Frauen mit einer solchen Bindungsstörung freuen sich nicht auf das Kind. Meistens sind Frauen sehr stolz, wenn sie einen kleinen Babybauch bekommen. Bei einer Frau mit Borderline-Störung kann es aber sein, dass sie nicht möchte, dass jemand die Veränderung mitbekommt. Sie kann das dann zum Beispiel durch weite Pullover überdecken.

Lokalzeit: Wie hätten Menschen in ihrem Umfeld etwas von der Gefahr für das ungeborene Kind mitbekommen können?

Lüdke: Über Verhaltensänderungen. Dass sich ein Mensch also komplett zurückzieht oder sehr negativ spricht. Auch Aggressionen in der Sprache sind ein Hinweis: Ironie, Zynismus und Sarkasmus. Außerdem deutet auch selbstverletzendes Verhalten manchmal darauf hin.

Lokalzeit: Aber wenn sich Betroffene isolieren, dann können Außenstehende das doch gar nicht wahrnehmen, oder?

Lüdke: Richtig, Verhaltensänderungen stelle ich nur fest, wenn ich regelmäßig Kontakt mit einem Menschen habe. Genau das hat die Mutter in diesem Fall aber möglicherweise nicht gehabt. Dann kann man das als Außenstehender eigentlich fast gar nicht feststellen. Es ist ein Teufelskreis.

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Welche Hilfsangebote es gibt

Lokalzeit: Damit sich so eine traurige Tat nicht wiederholt: Was kann eine betroffene Frau, die in einer ähnlichen Situation ist, besser machen?

Lüdke: Der erste Weg sollte immer zum Hausarzt oder zur Frauenärztin gehen. Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Dort kann ich mich also in einem geschützten Raum anvertrauen, kann meine Sorgen mitteilen. Darüber hinaus haben alle bekannten großen caritativen Einrichtungen Schwangerschaftskonfliktberatungen - Caritas, Diakonie, AWO und Johanniter zum Beispiel. Auch auf der Internetseite des Bundesfamilienministeriums gibt es sehr gute, zuverlässige Quellen.

Lokalzeit: Und was kann man tun, wenn man mitbekommt, dass bei einer Schwangeren etwas nicht stimmt?

Lüdke: Dann ist es für mich Teil der Zivilcourage, diesen Menschen einfach anzusprechen. Auch auf die Gefahr hin, dass es peinlich ist. Ich gebe damit das Signal: Ich habe mitbekommen, dass in deiner Welt möglicherweise etwas nicht in Ordnung ist. Das kann manchmal Anlass sein, dann tatsächlich Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Lokalzeit: Sollte man nur die betroffene Person ansprechen oder auch Außenstehende zur Hilfe holen?

Lüdke: Im besten Fall kann ich die Betroffene persönlich ansprechen. Aber wenn ich den Eindruck habe, dass hier die Gesundheit oder Leib und Leben eines Menschen in irgendeiner Form in Gefahr ist, sollte ich mich im Zweifel immer an die Polizei, die Feuerwehr oder das Ordnungsamt wenden. Wenn es sich um eine schwangere Frau handelt, muss ich noch eher handeln. Denn dann geht es hier auch um den Schutz ungeborenen Lebens.