Ein Trupp Polizisten im Wald.

Warum sich Fremde in Vermisstenfälle einmischen

Wuppertal | Verbrechen

Stand: 07.10.2024, 17:02 Uhr

Im Jahr 1998 verschwindet in Wuppertal die 15-jährige Tanja spurlos. Jahre später behauptet ein Mann, Tanja lebe noch und er habe ein Kind mit ihr. Doch bevor er die Mutter der Vermissten trifft, taucht er wieder ab. Heute ist die Mutter sicher: Der Mann hat nur mit ihrer Hoffnung gespielt. Was treibt solche Trittbrettfahrer an? Kriminalpsychologin Lydia Benecke gibt Antworten.

Von Dana Marie Weise

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Der Fall Tanja Mühlinghaus

Am 21. Oktober 1998 wartet Elisabeth Kronauer in Wuppertal vergeblich nach der Schule auf ihre Tochter: Tanja, 15 Jahre alt, taucht nicht auf. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihr. Im Jahr 2011 spricht die Mutter in der Sendung Aktenzeichen XY über ihr vermisstes Kind. Hofft immer noch auf Hinweise. Und tatsächlich meldet sich ein Mann. Er behauptet, mit Tanja eine Tochter zu haben. Er sitzt zu dem Zeitpunkt eine Haftstrafe ab.

Kronauer glaubt dem Fremden und trifft ihn in der JVA. Daniel S. (Name geändert) scheint Details aus Tanjas Leben zu kennen. Die beiden verabreden sich. Denn Daniel S. wird nur wenige Wochen später entlassen. S. sagt zu, dann ein Treffen von Mutter, Tochter und Enkelin zu arrangieren. Einen Tag vor dem Termin lässt er das Treffen platzen und bricht den Kontakt zu Kronauer ab. Heute ist sie sicher: Er hat sie betrogen. Er kannte Tanja nie. Bis heute bleibt Tanja verschwunden. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

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Warum schalten sich Fremde in Ermittlungen ein?

Warum versuchen Menschen Teil von Kriminalfällen zu werden, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben? Unsere Autorin hat mit Kriminalpsychologin Lydia Benecke darüber gesprochen. Sie sagt: Ein Einzelfall ist das nicht.

Lokalzeit: Sollte Daniel S. Tanjas Mutter wirklich belogen haben - mit welchem Zweck?

Lydia Benecke: Ich habe nicht mit Daniel S. gesprochen, deshalb kann ich zu seinem konkreten Fall nichts sagen. Das allgemeine Phänomen, dass Menschen sich an Angehörige von Vermissten wenden und behaupten, sie hätten wichtige Informationen, obwohl sie diese nachweislich nicht haben, ist allerdings bekannt. Und je mehr Medienaufmerksamkeit ein Fall bekommt, desto größer ist die Chance, dass Familien von Vermissten oder auch getöteten Menschen solche Angebote bekommen. Ein Teil der Angebote behauptet, "übersinnliche" Informationen zu haben. Und dann gibt es den anderen Teil, der entweder behauptet, Informationen von tatbeteiligten Personen zu haben, also Insider-Informationen. Oder es wird behauptet, man sei in direktem Kontakt mit der vermissten Person gewesen.

Lokalzeit: Kennt man in der Psychologie Gründe dafür?

Benecke: Wenn kein finanzielles Motiv dahintersteckt, dann ist das Motiv eher in der Person selbst zu suchen. Und das ist sehr häufig: sich wichtig zu fühlen und Aufmerksamkeit zu erhalten. Die Person will relevant sein und sich mit diesem medienträchtigen Fall irgendwie assoziieren.

Lydia Benecke lächelt.

Kriminalpsychologin Lydia Benecke

Lokalzeit: Mediale Aufmerksamkeit soll ja eigentlich dabei helfen, vermisste Menschen zu finden. Offensichtlich kann das aber auch nach hinten losgehen. Was sagen Sie dazu?

Benecke: Je häufiger ein Fall in den Medien vertreten ist, desto größer ist die Chance, dass Menschen sich melden, die behaupten, sie hätten übersinnliche Fähigkeiten und aufgrund dieser Informationen, die relevant für die Lösung des Falls seien. Häufig behaupten diese Menschen, hellsichtig zu sein oder mit Geistern zu kommunizieren. Oftmals wenden sie sich direkt an die Familien, manchmal auch an die Polizei. Hierin liegt eine große Gefahr: Angehörige von vermissten Menschen sind selbstverständlich sehr verzweifelt. Wenn dann eine dubiose Person beispielsweise zu den Angehörigen sagt: "Ich stehe übersinnlich in Kontakt mit der vermissten Person. Sie ist tot, sie ist im Jenseits und redet mit mir" - dann kann eine solche Behauptung in der emotionalen Ausnahmesituation, in der sich die Angehörigen befinden, diese dazu bringen, sich auf das dubiose Angebot einzulassen. Angehörige können also aufgrund ihrer Verzweiflung leicht zu Opfern solcher Scharlatanerie werden. Manche Angehörigen sagen dann, sie wollten eben nichts unversucht lassen.

Lokalzeit: Was raten Sie Angehörigen in so einer Situation?

Benecke: An dieser Stelle ist es sehr wichtig, darüber aufzuklären, dass durch vermeintlich übersinnliche Angebote noch nie ein Vermissten- oder Mordfall gelöst wurde. Es gibt manchmal solche Behauptungen, diese halten einer rationalen Prüfung aber nie stand. Das bedeutet: Angehörige sollten sich keinesfalls auf unseriöse Angebote einlassen, die nachweislich niemals das bringen, was sie in Aussicht stellen, dafür aber schweren, mindestens emotionalen Schaden anrichten können.

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Wie gehen solche Personen vor?

Lokalzeit: Sollten Angehörige in so einem Fall zur Polizei gehen?

Benecke: Wenn Angehörige von solchen Menschen kontaktiert werden, sollten sie sofort Rücksprache mit der Polizei halten. Diese ist dann dafür zuständig, entsprechende Behauptungen zu prüfen. Denn manchmal irren sich Menschen, die solche Angaben machen und manchmal lügen sie ganz bewusst. Einige behaupten beispielsweise, mit tatbeteiligten Personen oder einer vermissten Person persönlich in Kontakt gestanden zu haben oder noch zu stehen. Hierbei kann es sich um einen Irrtum handeln. Beispielsweise könnten die Personen eine Person verdächtigen, die in Wirklichkeit nichts mit dem Sachverhalt zu tun hat oder eine Person treffen, die sie mit der vermissten Person verwechseln. Solche Angaben werden dann von der Polizei geprüft, sodass ein Kontakt zu Angehörigen ohnehin nicht erforderlich ist.

Lokalzeit: Kann man Motive vermuten?

Benecke: Es gibt Menschen, die ganz bewusst lügen. Manche wollen Angehörige finanziell ausbeuten und erfinden Sachverhalte, wegen derer vermeintlich Geld notwendig sei, um beispielsweise eine vermisste Person zu finden oder einen Kriminalfall aufzuklären. Anderen geht es tatsächlich nur um die Befriedigung ihrer persönlichen Motive wie dem Wunsch nach Aufmerksamkeit, wichtig zu sein oder auch Kontrolle über andere Menschen ausüben zu können.

Lokalzeit: So wie es Daniel S. vielleicht getan hat, beweisen lässt sich das allerdings nicht. Aber wie kann es sein, dass Trittbrettfahrer, die kaum etwas über den vermissten Menschen wissen, so überzeugend auf Menschen wirken, die die Person wirklich gut kennen?

Benecke: Da muss man psychologische Tricks kennen, die solche Personen leider nutzen. Beispielsweise den Barnum-Effekt nach dem Zirkusgründer P.T. Barnum: Er hat damals gesagt, er möchte jeder Person ein Angebot machen, das zu dieser Person passt. Bei diesem Effekt tätigt man relativ vage Aussagen, die meisten davon eher positiv. Auch Horoskope benutzen übrigens diesen Barnum-Effekt. Wenn ich sage: "Du verbringst gerne eine schöne Zeit mit Menschen, die du magst – aber manchmal, da brauchst du auch ein bisschen Ruhe und Zeit für dich." Und: "Du bist ein Mensch, der neugierig ist und sich gerne bildet, der kritisch denkt und sich nichts vormachen lässt." Oder: "Du bist jemand, der gerne neue Menschen kennenlernt, aber du bist dennoch vorsichtig und überlegst, wem du was sagst" – dann würden die meisten Menschen sagen: "Ja, beschreibt mich eigentlich ganz gut".

Lokalzeit: Können Sie genauer beschreiben, wie das funktioniert?

Benecke: Stellen wir uns vor, du vermisst eine angehörige Person. Und es kommt jemand daher und behauptet entweder: "Ich habe mit dem Geist der Person Kontakt". Oder es wird behauptet: "Ich hatte Kontakt mit der angehörigen Person und die hat mir etwas über Sie erzählt, und ich kann das beweisen" - dann kann so ein Mensch verzweifelte Angehörige mit solchen Barnum-Aussagen erstmal sehr beeindrucken. Angehörige denken dann: "Woher weiß diese Person das nur?" Weiterhin gibt es "Cold Reading": eine Technik, die beschreibt, dass man Barnum-Aussagen nutzt und außerdem die Reaktion des Gegenübers beobachtet. Wenn du auf etwas, das ich sage, unwillkürlich nickst, würde ich da weitergehen. Oder wenn du skeptisch guckst, würde ich das eher zurücknehmen. Es ist sehr leicht, Angehörige in solchen Ausnahmesituationen zu manipulieren. Deshalb sollte man sich als Betroffene auf keinen Fall auf eine solche Kommunikation einlassen.

Lokalzeit: Es wird also mit den Hoffnungen der Angehörigen gespielt?

Benecke: Genau das. Es geht um emotionale Manipulation der Familien, weil hier mit den Gefühlen der Angehörigen, mit der Verzweiflung, gespielt wird. Und das ist ganz besonders bösartig.

Lokalzeit: Wie geht man nun am besten mit solchen Personen in der Berichterstattung um?

Benecke: Viele Trittbrettfahrer suchen die Aufmerksamkeit der Angehörigen, der Ermittlungsbehörden oder der Medien – einige wenden sich sogar proaktiv an Medien. Man sollte ihnen auf gar keinen Fall das geben, was sie wollen: Aufmerksamkeit. Diese Leute tragen nie irgendwas Sinnvolles zu den Fällen bei, sondern behindern die Polizeiarbeit letztendlich durch Arbeitsaufwand und behelligen gleichzeitig die Familien. Ich bin der Meinung, medial sollte man vor diesen Strategien unbedingt warnen und diesen Menschen keinesfalls die Bühne geben, die sie wollen.