Eine Portraitaufnahme von Alfred Ehrlich als junger Mann mit zurückgekämmtem Scheitel.

Alfred Ehrlich: Der letzte Jude von Preußisch Oldendorf

Minden-Lübbecke | Heimatliebe

Stand: 16.01.2025, 10:44 Uhr

Vor dem Holocaust leben in der ostwestfälischen Kleinstadt Preußisch Oldendorf über 80 Juden. Nur ein Einziger von ihnen kehrt zurück. Dies ist die Geschichte des letzten Juden von Preußisch Oldendorf. Dies ist die Geschichte von Alfred Ehrlich.

Von Luca Peters

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Liebe im Pappkarton

"Ich hab da mal was für sie vorbereitet", meint Bärbel Jansen. Aus dem holzvertäfelten Wohnzimmerschrank ihrer kleinen Wohnung kramt die alte Dame einen Papierkarton hervor. Die 83-Jährige ist eine kleine Frau mit unerschütterlichem Gesichtsausdruck. Wo genau sie wohnt, möchte sie nicht im Internet lesen. Nun breitet sie ihre Erinnerungen auf dem Kaffeetisch aus. Es ist fast alles, was ihr von ihrem Mann geblieben ist. Und was sie hier nicht ausbreiten kann, trägt sie in ihren Gedanken mit sich herum. Seit 40 Jahren.

Eine ältere Frau mit rosanem Pullover und Brille blättert durch alte Unterlagen.

Für Bärbel Jansen war Alfred Ehrlich die wahre Liebe

Zwischen Kaffeetassen und Büchsenmilch liegen die Memoiren einer Leidenszeit. Ein Porträtfoto als Heranwachsender. Ein zerfledderter Führerschein. Und die Skizze eines Konzentrationslagers. Gedankenbilder, handgezeichnet kurz vor seinem Tod. Jansen hat alles aufbewahrt, was ihr von ihrem Mann geblieben ist. Alfred Ehrlich starb am 29.03.1984 im Alter von 74 Jahren. Bärbel Jansen ist seine Witwe.

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In der Todesfabrik

Das Konzentrationslager Bergen-Belsen im Frühjahr 1945. Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist nur noch wenige Tage entfernt. Hitlers "Tausendjähriges Reich" liegt in Trümmern. Und in Bergen-Belsen, knapp 50 Kilometer nördlich von Hannover auf dem platten niedersächsischen Land, herrscht die Hölle auf Erden. Die SS, die berüchtigte Schutzstaffel, die das Lager bewacht, hat den hoffnungslos überfüllten Baracken die Nahrungs- und Wasserversorgung gekappt. Männer und Frauen, die abgemagert zu Skeletten, apathisch im Lager herumirren. Die Zustände sind unbeschreiblich.

Zeichnung des Grundrisses eines Konzentrationslagers.

Alfred Ehrlich hat seine Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen dokumentiert

Der Ostwestfale Alfred Ehrlich ist Teil dieses Alptraums. Er arbeitet für ein Entsorgungskommando, das die Leichen des Völkermords in Massengräbern verschwinden lassen muss. Die Nazis wollen so ihre Verbrechen vertuschen. Tagelang schleppt der 34-jährige Ehrlich die Leichen durch das Lager, stapelt sie übereinander wie Holzscheite in einer Grube. Allein im März 1945 sterben in Bergen-Belsen über 18.000 Menschen. Als die Engländer Ehrlich und seine Mithäftlinge befreien, wiegt er noch 39 Kilogramm. Aber er überlebt.

Während Jansen über die Erinnerungen ihres Mannes aus dieser Zeit spricht, treten ihr die Tränen in die Augen. Sie ist vorbereitet, hat ein Papiertaschentuch in der Hand. Jansen weint still und redet einfach weiter. "Alfred war meine wahre Liebe. Ich glaube, so einen Mann gibt es heute gar nicht mehr", sagt sie.

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Vom Fleischer zum Geächteten

Alfred Ehrlich ist ein Mann, der fast alles verloren hat. Seine Familie, seinen Besitz, seine Unschuld. Nur das Leben können die Nazis ihm nicht nehmen. 1909 geboren, wächst er als Sohn einer gutbürgerlichen Fleischerfamilie im protestantisch geprägten Preußisch Oldendorf im nördlichen Ostwestfalen auf. Er ist ein angesehener Teil der Ortsgesellschaft, bekannt für seinen trockenen Humor, wer für den Sonntagsbraten einkauft, geht zu den Ehrlichs. 1933 ist es damit vorbei.

Alte Unterlagen von Alfred Ehrlich

Bis heute bewahrt Bärbel Jansen Alfred Ehrlichs Unterlagen auf

Mit der "Machtergreifung" Hitlers beginnt für Alfred Ehrlich und die circa 80 weiteren Juden aus Preußisch Oldendorf eine Zeit der brutalen Gewaltherrschaft, die fast alle von ihnen nicht überleben werden. Mehr und mehr Gesetze schließen die Juden aus der von den Nazis beschworenen "Volksgemeinschaft" aus. Alte Schulkameraden gehen auf der Straße grußlos an Ehrlich vorbei, die Fleischerei seiner Eltern leidet unter Boykottaufrufen.

Wer Jude ist und jetzt nicht auswandert, wird von den Nationalsozialisten gnadenlos drangsaliert. Regelmäßig zieht die Hitler-Jugend, antisemitische Lieder singend, an Ehrlichs Wohnhaus vorbei. "Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt", singen sie. 1938 hält Ehrlich es nicht mehr aus.

Wie die Ehrlichs von den Nationalsozialisten drangsaliert wurden

00:19 Min. Verfügbar bis 16.01.2027

Er ist der letzte Jude, der Preußisch Oldendorf verlässt, so hat er es selbst erzählt. Die Lokalpresse jubelt: "Die Stadt Pr. Oldendorf ist judenfrei!" Ehrlich flüchtet in ein "Judenhaus" nach Hannover, wird später in ein KZ im heutigen Lettland deportiert. Nachdem er Bergen-Belsen überlebt hat, erfährt er: Seine komplette Familie ist tot. 36 Menschen, darunter seine Eltern. Seine Schwester Irma, seine erste Frau Grete, sein einjähriger Sohn Gideon. Vergast im Vernichtungslager Auschwitz.

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"Muss ich denn zum Städtele hinaus?"

Auf dem jüdischen Friedhof von Preußisch Oldendorf liegen die Vorfahren von Alfred Ehrlich. Sebastian Schröder ist gut vorbereitet. Bevor der Historiker diesen tief im Wald versteckt liegenden Ort betritt, bevor er sein quietschendes schwarzes Eingangstor beiseiteschiebt, greift er in den Saum seines Mantels. Er hat sie dabei. Die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung. Es ist sein Zeichen der Ehrerbietung an diesem besonderen Ort. Hier soll der Historiker Schröder die Frage nach dem "Warum" beantworten. Warum kehrte Alfred Ehrlich, als einziger Jude des Ortes, nach Preußisch Oldendorf zurück? Diesen Ort, dessen Einwohner ihn an den Nationalsozialismus verraten hatten? Schröder glaubt, Ehrlichs Heimatliebe sei größer gewesen als die Furcht und Verachtung vor den Nachbarn von früher: "Als er Oldendorf verlassen hat, hat er ein Lied gesungen, das für ihn ausdrückte, dass er nun seine Heimat verlassen muss. Und als er wieder nach Oldendorf zurückgekehrt ist, hat er genau das gleiche Lied angestimmt."

Wie Ehrlich nach Preußisch Oldendorf zurückgekehrt ist

00:36 Min. Verfügbar bis 16.01.2027

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Der Letzte seiner Stadt

Zurück am Kaffeetisch von Frau Jansen. Die alte Dame will ihre Geschichte zu Ende bringen. Jansen lernt Alfred Ehrlich kennen, als sie als Verkäuferin in seiner Fleischerei arbeitet. 1973 heiratet sie einen Mann, der über 30 Jahre älter ist als sie. Doch das macht beiden nichts aus. Ehrlich bedient seine Kunden, als ob nichts dazwischengekommen sei. Heute meint seine Witwe, ihr Mann habe sich trotz seines Schicksals stets einen fast kindlichen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt. "Er hat sich nie aufgegeben. Jeder Tag, den er leben durfte, war für Alfred ein Geschenk."

Alfred Ehrlichs Grabstein.

Vor 40 Jahren starb Alfred Ehrlich - doch seine Geschichte lebt bis heute weiter

Als Ehrlich 1984 stirbt, kommen über 500 Menschen zu seiner Beerdigung. Bis heute gilt er als der letzte Jude, der je in Preußisch Oldendorf gelebt hat. Vor seinem Elternhaus im Ortszentrum hängt seit wenigen Jahren ein unscheinbares Schild, ein paar Worte, weiße Schrift auf schwarzem Grund. Es trägt den letzten Satz der Memoiren von Alfred Ehrlich: "Dass sich dies niemals wiederholen möge."

Über dieses Thema haben wir auch am 21.11.2024 im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.