Ivar Buterfas-Frankenthal sitzt an einem Tisch, vor ihm ein Mikro. Rechts neben ihm sitzt seine Frau.

Holocaust-Überlebender spricht in Lemgo

Bielefeld | Heimatliebe

Stand: 26.01.2024, 14:21 Uhr

Kurz vor der Machtergreifung der Nazis wird Ivar Buterfas-Frankenthal als Sohn einer christlichen Mutter und eines jüdischen Vaters geboren. Was der NS-Terror mit dem "Halbjuden" und seiner Familie gemacht hat, berichtet er im ostwestfälischen Lemgo.

Von Noah Brümmelhorst

Ivar Buterfas-Frankenthal erzählt: über sich, seine Familie, sein Erwachsenwerden. Mitten im wohl dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Es sprudelt nur so aus ihm heraus. Der 91-Jährige sitzt mit seiner Frau Dagmar, 90, auf der Bühne in der Aula des Marianne-Weber-Gymnasiums in Lemgo. Er trägt einen blauen Anzug, das weiße Hemd ist leicht aufgeknöpft und er hat eine Kette mit großem Kreuz umgelegt.

Buterfas-Frankenthal durfte nicht zur Schule

Er spricht laut, eindringlich und beginnt vor den etwa 500 Schülerinnen und Schülern verschiedener Lemgoer Schulen mit den Worten: "Von meinen Geschwistern, die alle nicht mehr leben, bin ich der einzige, der frei über die Zeit, die wir durchlebt haben, sprechen kann." Seine Mutter war Christin, sein Vater Jude. Buterfas-Frankenthal, der wenige Tage vor der Machtergreifung der Nazis in Hamburg geboren wurde, galt als Halbjude. Kurz nach der Einschulung 1938 ließ man ihn das unmissverständlich wissen: "Hör mal zu, Buterfas, dein Vater ist Jude und du bist auch Jude. Und du verschwindest sofort vom Schulhof", soll der damalige Schulleiter ihm vor allen Schülerinnen und Schülern zugerufen haben.

Ivar Buterfas-Frankenthal wurde von den anderen Kindern in seiner Schulzeit stark schikaniert.

00:45 Min. Verfügbar bis 25.01.2026

Buterfas-Frankenthal hat nie wieder die Schule besucht. Hier in Lemgo prallen zwei Welten aufeinander: Während der 91-Jährige erzählt, ist es still in der Aula. Die Jugendlichen hören zu. Was das alles für ihn bedeutet hat - für die Schülerinnen und Schüler ist es der Versuch, das Unvorstellbare zu verstehen. "Ich glaube, dass einem die Augen geöffnet werden für das, was passiert ist", sagt die 17-jährige Louisa Budde, Schülerin am Marianne-Weber-Gymnasium. Der 18-jährige Max Schäfer vom Hanse-Berufskolleg sagt: "Es ist so ein Extremfall. Man kann versuchen, sich in die Situation hineinzuversetzen, wie grausam das war, aber man kann sich natürlich niemals komplett einfühlen."

Zu sehen sind die Hinterköpfe einiger Schülerinnen und Schüler. Vorne auf der Leinwand wird das Spiegel-Cover gezeigt mit dem Schriftzug "WIr haben Angst".

Bei seinem Vortrag zeigt Buterfas-Frankenthal auch immer wieder Fotos aus seiner Kindheit. Im November war er auf dem Cover des SPIEGEL.

Ein Leben auf der Flucht

Buterfas-Frankenthal erzählt weiter, von seiner Kindheit, die keine war. Schon 1934 deportierten die Nazis den Vater ins Konzentrationslager Esterwegen. Er überlebte – schwer traumatisiert – konnte nie über die Zeit sprechen und verließ die Mutter und die acht Kinder kurz nach Kriegsende.

Holocaust-Überlebende in Deutschland

Weltweit leben einer aktuellen Zählung zufolge noch etwa 245.000 Überlebende des Holocaust. Fast die Hälfte von ihnen lebt in Israel, etwa 14.200 sind es in Deutschland. Das geht aus einer aktuellen Demografie-Studie der Jewish Claims Conference hervor. Das Durchschnittsalter der Überlebenden liegt bei 86 Jahren. 95 Prozent der heute noch lebenden Überlebenden gelten als sogenannte Child Survivors. Im Durchschnitt waren sie bei Kriegsende sieben Jahre alt.

Während des NS-Regimes zog Buterfas-Frankenthal regelmäßig um, wurde mit seiner Familie zwangsweise in sogenannten Judenhäusern untergebracht. Häuser in denen Jüdinnen und Juden wohnen mussten, um Wohnraum für die "deutschblütige Bevölkerung" freizumachen. Die restlichen Kriegsjahre verbrachte die Familie auf der Flucht. Sie versteckten sich in Westpreußen, wurden entdeckt, versteckten sich in einem Schrebergarten in Hamburg, wurden entdeckt, versteckten sich dann im Keller eines zerbombten Hauses. Wie durch ein Wunder überlebten sie.

Zu sehen ist Ivar Buterfas-Frankenthal als Kind. Er hat einen Hut auf und schaut schräg zur Seite.

Wie alt Ivar Buterfas-Frankenthal hier genau ist, weiß er nicht mehr, das Bild muss etwa 1938 aufgenommen worden sein.

"Nie wieder, heißt nie wieder.“

Und auch nach Kriegsende seien die Demütigungen weitergegangen. Erst 1961, also 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bekommt Buterfas-Frankenthal die deutsche Staatsbürgerschaft. Davor war er staatenlos, musste sich immer wieder auf dem Amt melden und seinen Fremdenpass verlängern lassen. Aber er lebt. Er gründet eine Familie, bekommt Kinder und Enkelkinder.

Tag des Gedenkens am 27. Januar

Bis Kriegsende töteten die Nazis etwa sechs Millionen Juden. Der Holocaust gilt als eines der grausamsten Menschheitsverbrechen der Geschichte. Seit 1996 wird in Deutschland am 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Das Datum ist dabei auf den 27. Januar 1945 zurückzuführen, der Tag, an dem Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau befreiten.

Im Jahr 2005 führten die Vereinten Nationen den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (International Holocaust Remembrance Day) am 27. Januar ein - am 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau.

Fast zwei Stunden erzählt der 91-Jährige von seinem Erwachsenwerden, antwortet auf Fragen der Schülerinnen und Schüler. Viele machen sich Sorgen und fragen nach seiner Einschätzung, ob Rechtsextremismus und Antisemitismus zurückkommen könnten. Der Zeitzeuge hat eine klare Meinung: "Nie wieder, heißt nie wieder."

Ivar Buterfas-Frankenthal blickt trotz allem hoffnungsvoll in die Zukunft.

00:41 Min. Verfügbar bis 25.01.2026

Buterfas-Frankenthal steht gebückt, etwas wackelig auf der Bühne. Eigentlich wollte er Ende Januar seine Schulbesuche beenden, es ist immerhin hier in Lemgo der 1.563. Aber er könne noch nicht aufhören, sagt er. Zu sehr würde seine Stimme in dieser Zeit gebraucht werden – auch wenn seine Kräfte schwinden. Unter großem Applaus verabschiedet sich der 91-Jährige mit seiner Frau Dagmar von der Bühne. Hand in Hand, mit kleinen, kurzen Schritten, verlassen sie die Aula. Was bleibt, ist eine Geschichtsstunde der besonderen Art.

Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR-Fernsehen am 23.01.2024: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.