Im Vordergrund ist unscharf eine Tafel auf der etwas geschrieben steht. Im Hintergrund sitzt eine Gruppe von Menschen am Tisch.

Tabuthema Suizid: "Wir müssen akzeptieren, was unsere Angehörigen getan haben"

Recklinghausen | Ehrenamt

Stand: 06.06.2024, 08:36 Uhr

Die Agus Selbsthilfegruppe für Suizid-Angehörige in Dorsten will das Thema Suizid endlich aus der Tabuecke verbannen. Angehörige können sich hier offen austauschen. Ein Besuch.

Von Melanie Klüting

Burkhard Möcklinghoff hat seinen Sohn Matthias verloren. 17 Jahre ist das her. Die Trauer ist immer da, aber sie verändert sich, sagt er und sitzt an einem der vielen aneinandergereihten Tische. Kerzen und Süßigkeiten stehen darauf, erst auf den zweiten Blick fallen die vielen Pakete Taschentücher auf. Hinter Möcklinghoff hängt ein großes Plakat. Darauf steht "Trauer". Zu jedem Buchstaben sind Gefühle und Emotionen geschrieben. Bei "E" zum Beispiel "Einsamkeit" und "erstarren". Möcklinghoff sitzt in einem Raum der Dorstener Ortsgruppe des Vereins Angehörige um Suizid, kurz Agus.

Burkhard Möcklinghoff erzählt, wie ihm die Gruppe geholfen hat

01:20 Min. Verfügbar bis 06.06.2026

Möcklinghoff ist von Anfang an in der Gruppe aktiv, besucht jedes Treffen. Für Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, ist es nicht immer einfach, über ihren Verlust zu sprechen. "Das Thema ist tabuisiert und mit Scham behaftet", sagt er.

Dabei ist Suizid kein Randthema der Gesellschaft. 2022 haben sich laut Statistischem Landesamt in NRW über 1400 Menschen das Leben genommen. Etwa vier Todesfälle pro Tag. Zum Vergleich: Im Straßenverkehr starben im selben Zeitraum 451 Menschen. "Betroffene müssen wahrgenommen werden, nicht gemieden", appelliert Möcklinghoff.

Tabuthema Suizid: Gemeinsames Erinnern in Selbsthilfegruppen

Wie schwer es ist, im privaten Umfeld über den Verlust zu reden, weiß auch Sabine Helmke. Vor fünf Jahren hat sie ihren Sohn Axel durch Suizid verloren. Helmke unterstützt ebenfalls die Agus-Gruppe in Dorsten. Im Januar wurde sie dafür sogar in Berlin bei Bundespräsident Steinmeier für ihr Engagement im Schloss Bellevue geehrt.

Vier Personen stehen vor einem Fenster mit Vorhang, rechts ist eine Flagge aufgestellt.

Sabine Helmke (3. von links) bei Bundespräsident Steinmeier

Heute ist sie nicht in den Räumlichkeiten des Vereins unterwegs, sondern draußen, an einem schönen See. Blauer Himmel, Sonnenschein. "Er hat sich einen Tag nach meinem Geburtstag das Leben genommen. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Als wir die Nachricht bekommen haben, es war einfach unfassbar“, erzählt sie, während Tränen über ihre Wange laufen. "Das ist das Schwere nach einem Suizid, dass man sich einfach nicht verabschieden kann."

Jeden zweiten Mittwoch treffen sich die Angehörigen im Gemeindehaus des Ambulanten Hospizdienstes in Dorsten. Die Anzahl der Teilnehmer schwankt von Treffen zu Treffen. Niemand ist zu irgendetwas verpflichtet. Alles, was erzählt wird, bleibt in der Gruppe. Unterstützt werden sie von einer Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin. Dorsten ist nicht die einzige Selbsthilfegruppe des Vereins, deutschlandweit gibt es mehr als 100, aber eine der wenigen mit Therapeutin. Gegründet wurde der Verein in den 1990er-Jahren von einer Lehrerin aus Bayreuth. Als Betroffene hatte sie erkannt, dass es kaum Angebote für Angehörige gibt. Also schuf sie selbst eines.

Akzeptieren, was die Angehörigen getan haben

Helmke steht am Ufer des Sees. Wegen der Sonne hat sie die Augen ein wenig zusammengekniffen. Das Licht ist das, was sie an ihren Sohn erinnert. Er mochte die Natur, die kleinen Dinge, erzählt sie. Ein Rotkehlchen lauscht bei Sabine Helmkes Erzählung. "Das hätte Axel gefallen." Helmke hat noch drei weitere Söhne, zwei von ihnen haben letztes Jahr geheiratet, die Bottroperin ist mittlerweile Oma. Es gebe auch viele schöne Momente. Trotzdem sei ihr Leben einfach ein anderes.

Eine Frau steht an einem Ufer und blickt auf einen See.

Sabine Helmke fühlt sich am See ihrem Sohn nahe

Von den vielen Treffen mit der Selbsthilfegruppe weiß Helmke, dass es immer Tage geben wird, die schwerfallen. Aber: "Ich habe in der Selbsthilfegruppe gelernt, dass wir akzeptieren müssen, was unsere Angehörigen getan haben. Das heißt nicht, dass wir das gutheißen. Definitiv nicht." Auch für Burkhard Möcklinghoff hat die Gruppe das Gedenken an seinen Sohn erleichtert: "Ich denke mit Wärme an ihn. Ich akzeptiere, dass er diesen Schritt gemacht hat. Die Erinnerung an meinen Sohn lässt sich leichter tragen."

Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR Fernsehen am 17.01.2024: Lokalzeit Ruhr, 19:30 Uhr.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer Suizidgedanken hat, dreht sich dabei innerlich meist im Kreis. Dadurch wirkt die Situation festgefahren, der Teufelskreis lässt sich aber durchbrechen. Anonyme und kostenlose Hilfe finden Betroffene zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123. Per Chat bietet die Telefonseelsorge auf dieser Webseite Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention listet hier Beratungsstellen für persönliche Gespräche auf.