Wie junge Paderborner mit E-Mails Leben retten

Wie junge Paderborner mit E-Mails Leben retten

Paderborn | Füreinander

Stand: 07.03.2024, 09:52 Uhr

In ihren Postfächern landen einige der dunkelsten Geschichten, die das Leben schreiben kann. Verzweiflung, Einsamkeit, Angst. Junge Krisenberater in Paderborn helfen Suizidgefährdeten dabei, am Leben zu bleiben, anonym per Mail. Ein Besuch.

Von Steven Hartig

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Ausnahmezustand als Normalität

Judith Gruß blickt fragend in die Gesichter ihrer Schützlinge. Sie möchte wissen, ob es heute "etwas Dringendes" zu besprechen gibt. Am Tisch herrscht Stille. Kein größerer Redebedarf. Danach sprechen sie eine Stunde lang darüber, was in den vergangenen Tagen in ihren E-Mail-Postfächern gelandet ist.

Die Gruppe der Krisenberater in einer Besprechung

Die Krisenberater kommen alle zwei Wochen zusammen

Es folgt, freundlich ausgedrückt, schreckliche Geschichte auf schreckliche Geschichte. Nachrichten über aufgeschlitzte Pulsadern; eine 13-Jährige, die nach einer schlimmen Erfahrung Drogen nimmt; eine 15-Jährige, deren Eltern sie schlagen; eine junge Frau, die schon zehnmal versucht hat, sich umzubringen. Um die Betroffenen zu schützen, sind alle Alters- und Berufsangaben in diesem Text verändert. In der Welt der Paderborner Krisenberater und -beraterinnen gelten ihre Fälle nur bedingt als "dringend". Der Ausnahmezustand ist in ihren Postfächern längst Normalität geworden.

Hier gibt es Hilfe bei Suizidgedanken

  • Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Die Telefonseelsorge auch einen Chat und eine E-Mail-Beratung an, ebenfalls anonym.
  • Das muslimische Seelsorgetelefon ist kostenfrei und anonym unter der Rufnummer 030/44 35 09 821 rund um die Uhr erreichbar.
  • Das Hilfetelefon Opfer von häuslicher Gewalt ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr unter 08000 116 016 erreichbar.
  • Der Weiße Ring bietet ebenfalls einen anonymen Telefondienst unter 116 006 sowie eine Online-Beratung.

Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zahlreiche Informationen zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und sozialpsychiatrischen Diensten aufgelistet, an die sich Suizidgefährdete und Angehörige wenden können, um Hilfe zu erhalten.

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Jung und gefährdet

Zehn der Krisenberater sitzen, wie jeden zweiten Montagabend, reihum in einem kleinen Konferenzraum der Paderborner Caritas. Woche für Woche beantworten sie neben Schule, Studium oder Beruf Nachrichten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die darüber nachdenken, ihr Leben zu beenden. [U25] heißt das Projekt, das Anfang der 2000er in Baden-Württemberg entstand. Zwei Jahrzehnte später arbeiten an insgesamt elf Standorten deutschlandweit über 300 gleichaltrige Berater, sogenannte Peer-Berater. In Paderborn leitet die 26-jährige Judith Gruß die Gruppe aus 27 Ehrenamtlichen hauptamtlich. Wie bedeutend ihre Arbeit ist, zeigt eine Statistik: Für Menschen zwischen 15 und 25 Jahren ist Suizid die häufigste Todesursache. Täglich sterben in Deutschland mindestens ein bis zwei Jugendliche durch Selbsttötung. Wie oft Suizidversuche scheitern und wie hoch die Dunkelziffer ist, ist unbekannt.

Judith Gruß leitet die Gruppe aus 27 Ehrenamtlichen

Judith Gruß leitet die Gruppe der Ehrenamtlichen

Das weiß auch Max Schulte, der eigentlich anders heißt, wenn er auf dem Laptop seine Nachrichten öffnet. Die Klienten, wie Schulte und seine Kolleginnen sie nennen, schreiben: "Ich möchte nicht mehr auf dieser Welt sein" oder "Es wäre besser, wenn ich nicht mehr hier wäre". Nur selten, aber auch das kommt vor, kündigen sie ihren Suizid konkret an, nennen eine Uhrzeit und wie sie sich töten möchten. "Das sind Nachrichten, bei denen du als Peer-Berater schluckst und nachdenkst."

An welche Herausforderung sich Max Schulte besonders erinnert

00:42 Min. Verfügbar bis 07.03.2026

Schulte ist darauf vorbereitet, so gut man auf Menschen, die sich töten möchten, eben vorbereitet sein kann. Um bei [U25] als Berater arbeiten zu dürfen, lässt er sich 2019 über 30 Stunden ausbilden. Schulte lernt damals, welche Arten von Klienten es gibt, wann und warum sie Hilfe suchen, welche psychischen Erkrankungen sie mitbringen, wie er am besten auf ihre Nachrichten reagiert. All das macht aus Schulte weder einen Therapeuten noch einen Notfallseelsorger. Als er Anfang 2020 seinen ersten Klienten übernimmt, ist er 23 Jahre alt, aufgeregt und hofft, keine Fehler zu machen.

Darüber zu sprechen, ist für Schulte heikel. Seine Worte wählt er sorgsam, spricht langsam, schweigt regelmäßig einen Moment um nachzudenken, als säßen ihm seine Klienten wachsam auf der Schulter. Einerseits möchte er offen sprechen, über seine Arbeit und die Jugendlichen, denen er versucht zu helfen. Andererseits will er eben diesen Jugendlichen, "nicht vor den Kopf stoßen", wie er sagt, mit zu vielen Details, die die Anonymität der Jugendlichen gefährden könnten.

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Hilfe zur Selbsthilfe

Über seinen ersten Klienten erzählt der heute 27-Jährige deshalb nur so viel: Zwei Jahre hat er mit der Person geschrieben, ein außergewöhnlich langer Kontakt. Mal täglich, mal wöchentlich, mal herrschte monatelang Funkstille, bis irgendwann gar keine Antwort mehr kam. "Vielleicht hat die Person festgestellt, dass die Beratung sie nicht mehr weiterbringt", sagt Schulte. Das muss nicht immer eine schlechte Nachricht sein. Manchen Klienten geht es schlichtweg wieder besser, andere haben neue oder professionellere Hilfe gefunden. Und die ist oft nötig.

Wenn eine Nachricht wieder hoffen lässt

00:40 Min. Verfügbar bis 07.03.2026

"Wir leisten vor allem Hilfe zur Selbsthilfe", sagt Schulte. Dafür nutzen die Krisenberater eine Strategie, die sie "Ressourcenorientierung" nennen. Wer an Suizid denkt, fühlt sich häufig alleingelassen, ohne Ausweg, wie in einem Tunnel ohne Licht am Ende. Krisenberater versuchen, dieses Licht anzuknipsen. Sie fragen nach Freunden, Eltern, Geschwistern, Lehrern, Kollegen und anderen Bezugspersonen. Wer kann die Betroffenen auf ihrem Weg unterstützen? Viele Klienten möchten nicht notwendigerweise sterben. So wie ihr Leben jetzt ist, möchten sie aber auch nicht leben.

Im Konferenzraum der Paderborner Caritas steht ein großer Tisch mit Chips, Gummibärchen, Schokolade, Tee und Limonade, die rege hin- und hergereicht werden. So schwer erträglich die Themen auf Außenstehende wirken mögen, die Gespräche der hauptamtlichen Leiterin Judith Gruß mit den ehrenamtlichen Krisenberatern sind kein Trauerkreis. "Geweint hat hier lange niemand mehr", sagt sie. Die Berichte über die Klienten wirken teilweise, als träfen sich gute Freunde zu einem geselligen Abend. "Die Kassiererin hat sich mal wieder gemeldet", erzählt jemand. Ihr gehe es aktuell wieder schlechter. "Die ist jetzt erstmal wieder mit ihrem Freund zusammen." Die Krisenberaterinnen schmunzeln, lachen sanft oder stöhnen. Mehrere Minuten sprechen sie über die Situation der Klientin und was ihr jetzt helfen könnte. Sie kennen weder Name noch Aussehen, weder Stimme noch Wohnort der Kassiererin, aber sie fühlen mit. Auf ihre eigene Weise.

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Ein prägendes Schicksal

Qual und Trost liegen in den E-Mails der Klienten manchmal nah beieinander. Das legt die Geschichte eines Mädchens nahe, das Judith Gruß mit ihren acht Jahren Erfahrung einen "ernsten Fall" nennt, und der sich in das kollektive Gedächtnis der Ehrenamtlichen eingebrannt hat. Ein junges Mädchen wird jahrelang in ihrer Familie missbraucht. Das Mädchen wendet sich an [U25]. Wie so oft, kann ihre Beraterin nur unterstützen, nicht einschreiten. Über Jahre bauen sie Vertrauen zueinander auf. In manchen Mails schildert das Mädchen ihrer Beraterin den jüngsten Übergriff, einen Absatz später schickt sie die neuesten Kochrezepte. Suizidprävention verläuft manchmal bizarr.

Wer sich erkundigt, wie sie das alles aushalten, Woche für Woche, Nachricht für Nachricht, als Laien, hört oft das Zauberwort Distanz. "Es ist gut, dass wir die Klienten nicht persönlich kennen und die Klienten uns nicht", sagt Max Schulte und gibt zu, auch er habe das erst lernen müssen. Zum Beispiel, indem er nur unter der Woche erreichbar ist und nur in absoluten Ausnahmefällen sofort antwortet. "Wir als Peer-Berater haben nicht die Verantwortung, wenn sich die Person wirklich suizidieren sollte. Das ist ganz wichtig, dass wir uns da keine Schuld zuweisen". Schulte hat selbst schon zwei Mails bekommen, in denen Klienten sehr konkret ihren Suizid ankündigen. "Dann ist es wichtig, dass wir überhaupt auf diese Nachricht reagieren. Nur die Entscheidung beeinflussen können wir letztlich wenig."

Wie läuft der E-Mail-Austausch ganz konkret ab?

00:52 Min. Verfügbar bis 07.03.2026

Aktuell betreut Schulte noch eine Klientin. Sie hat einmal versucht sich umzubringen, aber aktuell keine konkreten Suizidgedanken. Für Schulte wird es voraussichtlich sein letzter Fall sein. Mit 27 Jahren ist er bald zu alt, um noch auf Augenhöhe - als Peer - den jungen Menschen zu helfen. Künftig möchte er als Lehrer arbeiten, sein Studium hat er fast abgeschlossen. Schultes Berufswunsch hatte ihn 2019 überhaupt erst in dieses ungewöhnliche Ehrenamt getrieben. 

Psychische Belastungen haben bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen, schreiben Experten des Robert-Koch-Instituts im Februar 2023. Während der Pandemie waren deutlich mehr Kinder wegen eines Suizidversuchs in Krankenhäuser eingewiesen worden. "Vielen Leuten geht es nicht gut", beobachtet auch Schulte. Über vier Jahre mit suizidgefährdeten Menschen zu schreiben, hat seinen Blick auf sein Umfeld, seinen Alltag verändert. "Viel mehr Leute, als man denkt, haben schonmal über einen Suizid nachgedacht."

In wenigen Wochen starten sechs neue Krisenberater in Paderborn in die Ausbildung. Auch sie möchten helfen, bevor es zu spät ist.