MONITOR vom 08.12.2022

Verbotene Orte: Europas düstere Flüchtlingspolitik

Bericht: Shafagh Laghai, Julia Regis

Verbotene Orte: Europas düstere Flüchtlingspolitik Monitor 08.12.2022 11:33 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Shafagh Laghai, Julia Regis

Georg Restle: "Verbotene Orte, Geheimgefängnisse, wo Flüchtlinge misshandelt werden. Man kennt das aus Diktaturen, aber die Bilder, die wir Ihnen gleich zeigen werden, stammen aus Mitliedstaaten der Europäischen Union. Monatelang waren wir mit einem europäischen Rechercheteam solchen Orten auf der Spur. Orte wie diesem, in dem Menschen eingepfercht werden wie Tiere, ohne Toilette, ohne Essen, kaum Wasser. Es gibt einige solcher Orte in der EU, rechtsfreie Räume, in denen Beamte offenbar meinen, sie dürften Menschen alles antun, weil sowieso niemand zuschaut. Jetzt bekommt die europäische Öffentlichkeit diese Bilder zu sehen. Soll nachher niemand sagen, man hätte das alles nicht gewusst. Shafagh Laghai und Julia Regis."

Die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei, rund 260 Kilometer lang ist sie auf dem Festland. "Die bulgarische Mauer" wird der Drahtzaun genannt und soll die EU-Außengrenze schützen. Auf der anderen Seite des Zauns – in der Türkei – begegnen uns Menschen aus Syrien und Afghanistan. Auf der Flucht vor Krieg oder dem Terror der Taliban. Die bulgarischen Beamten seien äußerst gewalttätig, erzählen sie.

Mann (Übersetzung Monitor): "Die bulgarische Polizei hetzt Hunde auf uns, die uns beißen. Und sie schlagen uns. Sie sind sehr brutal. Sie schlagen uns mit Holzstöcken, bevor sie uns dann zurück in die Türkei schicken."

Ohne Prüfung, ob sie Anspruch auf Asyl haben, sind solche Zurückweisungen – Pushbacks genannt – illegal. Und die Männer erzählen uns noch etwas. Bevor sie zurückgetrieben wurden, seien sie gefangen gehalten worden.

2. Mann: "Wir wurden in einem furchtbaren vergitterten Verschlag gesperrt."

3. Mann: "Es stinkt dort, wie auf einer dreckigen Toilette. Es ist wie ein Käfig, alles ist dort schmutzig."

Verschläge, in denen Menschen eingesperrt werden? Rechtsfreie Orte? Die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Anhand der Beschreibungen der Geflüchteten machen wir uns auf die Suche. Und entdecken schließlich eine Station der bulgarischen Grenzpolizei, in einem kleinen Ort, rund eine Stunde von der Grenze zur Türkei entfernt. Auf dem Gelände eine verfallene Baracke. Darin Menschen, offenbar Flüchtlinge. Die Baracke ist vergittert. Wir können sehen, wie die Menschen hier – in der Kälte – festgehalten werden. Über zwei Monate suchen wir den Ort mehrmals auf. Jedes Mal sind Menschen hier eingesperrt. Die Baracke ist offenbar Teil eines Systems. Nach Erzählungen von Flüchtlingen werden sie hier teilweise tagelang eingesperrt. Ohne Essen, ohne Toilette, kaum etwas zu trinken. Dann würden sie zurück in die Türkei gebracht. Wir zeigen die Bilder dem Rechtswissenschaftler Constantin Hruschka. Für ihn ist klar, hier wird mehrfach gegen geltendes Recht verstoßen.

Constantin Hruschka, Rechtswissenschaftler, Max-Planck-Institut München:"Das eine ist die unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Und das zweite ist die rechtswidrige Freiheitsentziehung. Denn ich darf die Personen ohne Verfahren nicht einfach festhalten und ihnen die Freiheit entziehen. Insbesondere dann, wenn ich die Freiheitsentziehung dazu nutze, sie rechtswidrig über die Grenze zurückzubringen."

Rechtsfreie Räume in der EU. Gemeinsam mit europäischen Medienpartnern und der Recherche-Plattform Lighthouse Reports haben wir über Monate Zeugenaussagen dazu gesammelt, Koordinaten analysiert, Videos ausgewertet. Videos wie dieses: Bulgarische Grenzpolizisten – erkennbar an der Uniform – prügeln auf Menschen ein, offenbar Flüchtlinge. Ein anderes Video soll eine Praxis zeigen, von der uns viele berichten. Flüchtlinge werden teilweise entkleidet bis auf die Unterhose, bevor sie auf die türkische Seite zurückgeschickt werden. Massive Missachtung von Menschenrechten – mitten in der EU? Bulgarien ist EU-Mitglied. Geht es nach der EU-Kommission, soll das Land bald in den Schengen-Raum aufgenommen werden. Zur Begründung heißt es von der Kommission: Bulgarien habe bewiesen, dass es die "Achtung der Grundrechte", den "Zugang zu Internationalem Schutz" und den "Grundsatz der Nichtzurückweisung" gewährleiste." Weiß die EU nichts davon, dass Menschen in Bulgarien misshandelt und eingesperrt werden wie Tiere? Kaum vorzustellen, denn auf dem Gelände der Polizeistation – in Sichtweite des Verschlags – entdecken wir Autos von Frontex, der Grenzschutzagentur der Europäischen Union. Und nicht nur das, bei unseren Recherchen können wir Dokumente einsehen, aus denen hervorgeht, dass Beamte von Frontex in dem Ort in Bulgarien fest stationiert sind. Auf Nachfrage antwortet uns Frontex, sie wüssten nichts von dem Verschlag, würden es aber prüfen. Wie glaubwürdig ist das?

Wenzel Michalski, Human Rights Watch, Deutschland-Direktor: "Dadurch, dass Frontex vor Ort ist und wirklich auch nah dran am Geschehen, bekommt Frontex natürlich alles mit und wenn die das nicht verändern, die Polizistinnen und Polizisten dort, die von Frontex dazu abgestellt sind – was ihre Pflicht wäre – sondern darüber hinweg schweigen, dann machen sie sich mit schuldig."

Schwerste Menschenrechtsverletzungen werden auch hier seit Jahren dokumentiert. Die ungarische EU-Außengrenze zu Serbien ist besonders berüchtigt. Geflüchtete berichten von brutalen Grenzbeamten, von Schlägen, von Pushbacks und illegalen Gefängnissen. Eines unserer Rechercheteams macht sich in der Grenzregion auf die Suche und stößt auf diese Container. Wir können beobachten, wie Menschen zu einem der Container gebracht werden. Es ist zu sehen, wie Soldaten sie mit Schlagstöcken in Richtung der Container treiben. Was passiert dort? Alessandro Mangione von "Ärzte ohne Grenzen" berichtet, dass sie immer wieder Verletzungen behandeln müssten, die von Schlägen der ungarischen Polizei stammen. Und auch ihnen wird regelmäßig von den Containern erzählt.

Alessandro Mangione, "Ärzte ohne Grenzen" (Übersetzung Monitor): "Wir hörten immer öfter, dass Menschen bis zu zwölf Stunden in solchen Containern festgehalten wurden, bevor man sie gewaltsam nach Serbien zurückschickte. Oft bis zu 60 Personen in einem Container. Kamen neue Personen an, wurde Pfefferspray in die Container gesprüht, um Platz zu schaffen."

Selber überprüfen können wir das nicht. Wir suchen auf der serbischen Seite nach Menschen, die uns mehr über die Container erzählen können. Doch während wir vor Ort sind, werden Hunderte Menschen aus der Grenzregion weggebracht. Wir suchen weiter. Dann treffen wir diese Gruppe, die davon berichtet, dass sie in den Containern gefangen gehalten worden seien. Und dass die Beamten Pfefferspray hineingesprüht hätten. Aus Angst wollen sie nicht erkannt werden. Wir konfrontieren die ungarische Regierung mit den Vorwürfen über die Gewalt, die Container und die illegalen Pushbacks. Doch die wiegelt ab, die Grenzbeamten würden sich stets an EU-Recht halten. Dabei wurde Ungarn vom Europäischen Gerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits verurteilt.

Constantin Hruschka, Rechtswissenschaftler, Max-Planck-Institut München:"Was man auch sehen kann – vielleicht jetzt an diesen Containern – ist, dass es immer wieder neue Formen annimmt. Das heißt, es ist der Versuch, immer wieder zu warten, bis man verurteilt ist und dann eine neue Praxis zu machen, die weiterhin zum Ziel hat, rechtswidrige Pushbacks in irgendeiner Weise durchführen zu können."

Auch aus Kroatien – an der Grenze zu Bosnien – gibt es seit Jahren Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen. Hier hören wir immer wieder von solchen Kleinbussen – vergittert, ohne Fenster. Ihr Hauptzweck ist offenbar, Flüchtlinge aufzugreifen und ohne Verfahren zurück über die Grenze zu bringen. Aber nicht nur das. Jemand schickt uns ein Video aus dem Inneren des Transporters. Viele Kinder sind darin zu sehen. Es gehe ihnen schlecht, sagt er. Auch Diana war in einem dieser Busse. Stundenlang habe man sie darin festgehalten. Selbst im Sommer, bei extremer Hitze.

Diana (Übersetzung Monitor): "Der Bus hat Platz für acht Personen, aber sie setzen 20, mit Kindern, 25 Personen rein. Sie haben uns vier Stunden lang darin einfach nur festgehalten. Uns ging es immer schlechter. Dann fängt man an, sich im Bus zu übergeben. Und dann fahren sie los, sehr schnell. Wenn sie bremsen, fällt man übereinander, man erbricht sich aufeinander."

Eine solche Behandlung gilt als Foltermethode. Was sagt die EU-Kommission zu diesen Praktiken? Sie schreibt uns: Gewalt an den EU-Außengrenzen sei für sie "inakzeptabel". Tatsächlich? Erst im Herbst 2021 berichtete unsere Recherchekooperation über gewaltsame Pushbacks der kroatischen Grenzpolizei. Über Polizisten eines EU-Staates, die Menschen mit Schlagstöcken aus der EU treiben. Auch damals reagierte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson empört.

Ylva Johnansson, EU-Innenkommissarin, 20.10.2021 (Übersetzung Monitor): "Gewalt an unseren Grenzen ist inakzeptabel. Vor allem, wenn sie strukturell und organisiert ist."

Wenzel Michalski, Human Rights Watch, Deutschland-Direktor: "Das zeigt, dass die warmen Worte, die die Politiker immer dann finden, wenn solche Zustände wieder in die Öffentlichkeit gespült werden, dass dann die Aussagen Lippenbekenntnisse sind. Nichts anderes als Sonntagsreden, schöne warme Worte. Aber, dadurch, dass wir das schon jahrelang sehen, ja, müssen wir daraus folgern, dass der Wille nicht da ist. Man will es einfach nicht. Man möchte anscheinend, dass die Behandlung der Migrantinnen und Migranten an den Außengrenzen so abschreckend ist, dass die Menschen erst gar nicht auf die Idee kommen, nach Europa zu kommen."

Verborgene Orte an der EU-Außengrenze, inoffizielle Gefängnisse, rechtsfreie Räume – alles unter den Augen der EU.

Georg Restle: "Heute hat die EU beschlossen, Kroatien in den Schengenraum aufzunehmen. Auch weil das Land ein Garant für Menschenrechte sei im Umgang mit Geflüchteten. Klar, wenn man halt nicht so genau hinschauen will oder anders gesagt, wenn einem der gewaltsame Schutz der EU-Außengrenze am Ende eben doch wichtiger ist als die Einhaltung elementarer Menschenrechte."

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Kommentare zum Thema

  • Martin Behne 09.12.2022, 07:04 Uhr

    Wer Kapitalismus wählt, bekommt Kapitalismus: strukturelle und organisierte Gewalt.

  • Jessi 08.12.2022, 23:06 Uhr

    Mir wird schlecht wenn ich das sehe und wenn ich an die Zukunft denke. Wie massiv frontex gerüstet wird. Da geht es nicht mehr Abschreckung, sondern um Mord. Aber nein natürlich nicht wir leben ja in einer Wertegemeinschaft... Ich kann die genannten Werte nur leider nicht finden.

  • Anonym 08.12.2022, 22:24 Uhr

    Ich bin entsetzt, dass an europäischen Außengrenzen Menschen derart menschenunwürdig behandelt werden. Warum werden diese Länder, die der EU angehören nicht abgemahnt, bestraft oder ausgeschlossen, wenn dieses Verhalten nicht augenblicklich abgestellt wird. Was unternimmt Brüssel dagegen?