Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften
Monitor. 29.08.2024. 08:59 Min.. Verfügbar bis 30.12.2099. Das Erste. Von Till Uebelacker, Andreas Maus.
MONITOR vom 29.08.2024
Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften
Die Unterbringung von Asylsuchenden ist ein lukratives Geschäft, das längst private Unternehmen für sich entdeckt haben. Mit Niedrigpreisen gewinnen sie Ausschreibungen für das Betreiben der Unterkünfte und machen doch gute Gewinne. MONITOR-Recherchen zeigen, wie im Betrieb und beim Personal gespart wird – und wie Geflüchtete sich selbst überlassen werden.
Von Till Uebelacker, Andreas Maus
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Kommentieren [8]Georg Restle: "Der Anschlag in Solingen hat zu einem regelrechten Überbietungswettbewerb der Parteien geführt, bei der inneren Sicherheit und klar, auch in der Migrationspolitik. Heute hat die Bundesregierung eine Ausweitung bei Messerverboten beschlossen und Kürzungen bei den Leistungen für Asylbewerber, die über andere EU-Staaten eingereist sind. Ein Thema spielt bei alledem erstaunlicherweise überhaupt keine Rolle: Die Flüchtlingsunterkünfte nämlich, wo vor allem junge Männer regelmäßig sich selbst überlassen werden. Wo sich oft genug niemand wirklich kümmert, niemand wirklich hinschaut – wie in dieser Flüchtlingsunterkunft. Wochenlang lag hier die Leiche eines jungen Geflüchteten in seinem Zimmer, ohne das sein Tod irgendjemandem aufgefallen wäre. Und nein, das Schicksal dieses Mannes ist kein bedauerlicher Einzelfall, sondern das bittere Resultat eines systematischen Versagens. Eine gemeinsame Recherche von MONITOR und Süddeutscher Zeitung – Andreas Maus und Till Uebelacker. "
Ein unscheinbares Grab in Berlin-Pankow – zugewuchert, das Namensschild von der Friedhofsverwaltung. Sanoussy Barry kannte den Verstorbenen kaum. Aber er hat sich um seine Beerdigung gekümmert.
Sanoussy Barry: "Ist ein junger Asylant aus Guinea. Diallo ist gestorben in seinem Asylheim. Nach vier Wochen erst hat man festgestellt, dass er gestorben ist. Sehr tragischer Fall. Sehr traurig."
Vier Wochen unentdeckt, tot in einer Flüchtlingsunterkunft? Wie kann das sein? Unsere Recherchen beginnen hier, in Berlin Steglitz-Zehlendorf. Irgendwo in dieser Flüchtlingsunterkunft lebte Mamadou Diallo. Im Oktober letzten Jahres muss er hier in seinem Zimmer gestorben sein. Geblieben sind zwei Fotos des 24-jährigen. Spurensuche.
Reporter: "Du kannst Dich jetzt nicht erinnern, ihn gesehen zu haben?
Junger Mann: "Ich weiß nicht. Also es gibt mal Familie … hat einen Teil der Familie hier, aber hn habe ich nicht gesehen."
Entdeckt wurde Mamadou Diallo erst nach etwa vier Wochen – sein Leichnam war da schon stark verwest. Wie es dazu kommen konnte, fragen wir Sebastian Büchner von der Berliner Staatsanwaltschaft, die hat den Todesfall untersucht.
Sebastian Büchner, Staatsanwaltschaft Berlin: "Es ist keine Vermisstenanzeige erstattet worden. Es gab auch keine Meldung, dass da irgendwie jemand nicht im Zimmer sich befinden könnte. Es scheint auch offensichtlich in diesem verbliebenen Monat – zwischen dem letzten Mal sehen und dem Auffinden – jetzt niemand großartig danach geguckt zu haben, was mit ihm passiert ist."
Keine Vermisstenanzeige – keine Meldung. Könnte Mamadou Diallo noch leben, wenn Mitarbeiter der Unterkunft nach ihm geschaut hätten? Wer war für die Berliner Flüchtlingsunterkunft zuständig? Die Betreiber-Firma damals war ORS. Ein privates Unternehmen. Flüchtlingsunterkünfte werden längst nicht immer von Ländern oder Kommunen selbst geführt, meist wird der Betrieb ganz oder teilweise ausgeschrieben, oft bekommt der günstigste Bieter den Zuschlag – Bieter wie ORS. Hinter ORS steht ein milliardenschwerer Konzern – die Serco Group. Das britische Unternehmen gehört unter anderem Vermögensverwaltern wie Blackrock und macht weltweit über 5 Milliarden Pfund Umsatz – als Dienstleister für Militärs, Raumfahrt, Grenzschutz – als Betreiber von Gefängnissen und – Flüchtlingsunterkünften. Laut Selbstdarstellung bietet die Serco-Tochter ORS "beste Betreuungsdienstleistungen im Asylwesen." Ein großes Versprechen. Warum wurde dann Mamadou Diallos Leichnam über Wochen hier nicht entdeckt? Dienstleister wie ORS sind verpflichtet, den Aufenthalt von Geflüchteten regelmäßig zu dokumentieren. Wir bekommen Kontakt zu einer Bewohnerin – in der Unterkunft. Sie möchte unerkannt bleiben. An Mamadou kann sie sich nicht erinnern, aber an ORS. Deren Mitarbeiter seien oft gar nicht anwesend gewesen, sagt sie.
Bewohnerin der Unterkunft: "Bei denen war das Büro immer geschlossen, die Fenster, die Jalousien waren immer runter. Es waren sehr wenig Betreuer da und so, was Familien angeht, die halt auch sehr viel Probleme mit der Sprache haben. Die haben auch nicht so geholfen halt, so papierkrammäßig."
Zu wenig Personal, mangelnde Betreuung in der Sozialarbeit? Serco weist diese Vorwürfe zurück. Dem Personal sei es vertraglich nicht gestattet, ohne Zustimmung der Bewohner eine Wohnung zu betreten, schreibt man uns. Mitbewohner hätten gesagt, es sei alles in Ordnung. Sozialarbeit oder eine Beaufsichtigung der Bewohner habe nicht zu den vertraglichen Pflichten des Unternehmens gehört. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in Berlin teilt hingegen mit, zu den Aufgaben der Betreiber gehöre grundsätzlich auch "die Betreuung der Bewohner durch qualifizierte Sozialarbeiter und Sozialassistenten." Und wie sieht es in anderen ORS-Unterkünften aus? Wir fragen nach bei Behörden in anderen Bundesländern, wo ORS tätig ist. Und erfahren, auch hier setzte das Unternehmen in etlichen Unterkünften zu wenig Personal ein: zwei Regierungspräsidien – in Baden-Württemberg etwa – verhängten in den zurückliegenden Jahren deswegen insgesamt 35 Vertragsstrafen gegen ORS. Dann meldet sich ein ehemaliger Mitarbeiter von ORS. Er war Führungskraft in einer Unterkunft in Deutschland.
Ehemaliger Mitarbeiter ORS: "Wir haben die Anzahl, die erfordert wurde oder die vertraglich festgehaltene Anzahl der Mitarbeiter nie erreicht. Sei es in der Kinderbetreuung, in der Hausbetreuung selber oder Freizeitgestaltung, was auch gefordert wurde Die Unterbesetzung war schon 50 Prozent, teilweise auch drunter. Vor allem in den Nachtschichten war es extrem."
Seine Schilderungen decken sich mit internen Dokumenten aus dem Unternehmen, die MONITOR und der Süddeutschen Zeitung vorliegen. Diese Tabelle zeigt, dass ORS hohe Summen abgezogen wurden – offenbar wegen zu wenig Personal in mehr als zehn Unterkünften. Die Summe der Abzüge betrug allein in den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres über 760.000,- Euro. Auf unsere Nachfrage erklärt ORS die Unterbesetzung mit dem allgemeinen Fachkräftemangel in Deutschland. Weniger Betreuung in der Unterkunft? Weniger Angebote? Die Bewohner häufig auf sich allein gestellt? Die Stadt Berlin hat im März die Reißleine gezogen und den Vertrag mit ORS für drei Unterkünfte außerordentlich gekündigt. Man habe "gravierende Mängel” und "umfangreiche strukturelle Probleme” festgestellt. ORS weist auch das zurück. Es habe zuvor keine Beanstandungen gegeben, die die Kündigung rechtfertigen würden. Anderswo in Deutschland boomt das Geschäft mit den Unterkünften weiter. Der britische Konzern Serco kaufte nach der Übernahme von ORS letztes Jahr auch den deutschen Betreuungsdienstleister European Homecare (EHC). Damit ist Serco mit rund 130 Einrichtungen jetzt der größte private Anbieter in diesem Bereich. Eine Entwicklung, die der Betriebswissenschaftler Werner Nienhüser mit Sorge betrachtet. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Privatisierung von Flüchtlingsunterkünften und den Folgen.
Prof. Werner Nienhüser, Universität Duisburg-Essen: "In erster Linie geht es darum, Gewinne zu erzielen, gute Renditen zu erzielen und sichere Renditen zu erzielen. Wenn ich Dienstleistungen anbiete, wo der Kunde letztlich der Staat ist, habe ich immer einen sicheren Kunden, einen zahlungskräftigen Kunden. Und die Renditen in diesem Bereich sind außerordentlich hoch. Und darum geht es."
Serco weist den Vorwurf zurück. Die Gewinnmarge liege nur im einstelligen Bereich, das Hauptaugenmerk liege auf dem Wohlbefinden der anvertrauten Menschen und der Mitarbeiter. Sanoussy Barry sieht das anders. Der Tod von Mamadou Diallo, sagt er, sollte ein Weckruf sein.
Sanoussy Barry: "Die Menschen leiden hier, weil die keinen Ansprechpartner haben in diesen Asyleinrichtungen, habe ich das Gefühl. Ich möchte, also ich wünsche mir von Herzen, dass die Sozialarbeiter – die sind ja vor Ort – mit Menschen zu reden und zu helfen, aber das fehlt. Das fehlt viel in Deutschland momentan."
Georg Restle: "Und diese Frage stellt sich dann eben auch, wenn es schon nicht auffällt, dass der Leichnam eines Geflüchteten wochenlang in seinem Zimmer verwest, wie soll es dann irgendjemandem auffallen, wenn junge Männer sich in solchen Unterkünften radikalisieren? Aber klar, mehr Personal kostet eben viel Geld – Messerverbote sind da deutlich billiger."
Stand: 29.08.2024, 22:15 Uhr
8 Kommentare
Kommentar 8: Stefan Zimmermann schreibt am 30.08.2024, 14:02 Uhr :
Wenn 90 % der Wähler dafür sorgen, dass Geld die Welt regiert, muss man sich über die Folgen (siehe alle Berichte von "Monitor") nicht wundern.
Kommentar 7: Aga Bellwald schreibt am 29.08.2024, 22:38 Uhr :
Danke für den Bericht. Das war schon 2018 in der Schweiz ein Problem, in Basel oder Zürich. Die Stadt Zürich inzwischen den Vertrag mit der ORS gekündigt. Heute ist die AOZ, "Asylorganisation Zürich" für die Unterbringung zuständig. Betreuung von geflüchteten Menschen gehört NICHT in private profitgierige Hände.
Antwort von Holm , geschrieben am 29.08.2024, 23:28 Uhr :
Richtig, die Betreuung und Finanzierung geflüchteter Menschen die hier illegale Einwanderer sind gehört in die Hände derer die diese Leute hier so gern haben möchten.
Kommentar 6: Holm schreibt am 29.08.2024, 22:18 Uhr :
Was ist denn mit Kirchen, NGOs, Grünen, Roten und anderen die "Platz haben" ? Warum kümmern die sich nicht ? Die sehe ich in der Verantwortung. Alle einladen, wir haben Platz, das Boot kann nicht voll sein, wir sind reich und dann solche Zustände ? Scheinheilig, verantwortungslos und schäbig das Ganze.
Antwort von Setzfehler , geschrieben am 30.08.2024, 01:58 Uhr :
Haben Sie selbst jemals Verantwortung für andere Menschen übernommen? Nein? Nun, wer genau ist dann eigentlich verantwortungslos?
Kommentar 5: Karl Heinz schreibt am 29.08.2024, 18:23 Uhr :
Eine britische Firma? Weil die Briten für ihren beispielhaft sozialen Umgang mit Flüchtlingen bekannt sind? Man, man, man … So geht staatlicher Rassismus.
Kommentar 4: Jürgen Albrink schreibt am 29.08.2024, 17:03 Uhr :
Wenn man unser Land über Jahre mit Millionen von Migranten flutet, muss man sich nicht wundern wenn dann auch einige die Situation der Gemeinden ausnutzen und abkassieren. Mal bei denen Nachfragen, die gar nicht genug kriegen können von der MIgration - z.B. Frau Göring-Eckhard
Antwort von Setzfehler , geschrieben am 30.08.2024, 01:53 Uhr :
Ich sehe hier keinen rechten Zusammenhang. Was haben Geflüchtete damit zu tun, dass „auch einige die Situation der Gemeinden ausnutzen und abkassieren“? Und warum gerade Frau Göring-Eckhardt fragen, die sich übrigens mit „dt” schreibt?
Kommentar 3: Jansen schreibt am 29.08.2024, 11:28 Uhr :
Da kann man sehen wo das Geld der Steuerzahler bleibt und wer das nicht will ist rechts ?
Antwort von Setzfehler , geschrieben am 30.08.2024, 02:01 Uhr :
Ja, mindestens, zumal solche Leute auch noch eine „Partei“ wählen, die als „gesichert rechtsextrem“ gilt!
Kommentar 1: Holm schreibt am 28.08.2024, 14:37 Uhr :
Dänemark hat diese Probleme nicht.