MONITOR vom 27.09.2018

Gebrochenes Versprechen: Wie syrische Flüchtlinge in der Türkei am Abgrund leben

Bericht: Lara Straatmann

Gebrochenes Versprechen: Wie syrische Flüchtlinge in der Türkei am Abgrund leben Monitor 27.09.2018 08:16 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

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Georg Restle: „Die Frage ist also, warum dieses ganze Staatsbankett, roter Teppich, Staatsempfang überhaupt stattfindet? Eine Antwort: Weil der türkische Präsident ein Druckmittel in der Hand hat, und das heißt Flüchtlingsdeal. Über dreieinhalb Millionen syrische Kriegsflüchtlinge hat die Türkei immerhin aufgenommen und hält sie davon ab, nach Europa zu kommen. Dafür gibt’s sechs Milliarden Euro von der EU, auch damit die Flüchtlinge menschenwürdig untergebracht werden. Aber nur eine Minderheit von gut 200.000 lebt in solchen staatlichen Flüchtlingslagern. Viele andere vegetieren unter erbärmlichen Umständen in notdürftigen Zeltlagern wie diesem, die im Winter lebensgefährlich werden können. Ein klarer Bruch des Flüchtlingsdeals, doch das scheint niemanden zu kümmern - fast niemanden. Lara Stratmann hat einen sehr engagierten jungen Türken in Izmir begleitet.“

Izmir, Westküste der Türkei - eine Stadt, die viele deutsche Touristen anzieht. Aber auch Zehntausende Flüchtlinge. Die einen hoffen noch, es irgendwie übers Meer nach Griechenland zu schaffen, andere hat die Küstenwache schon wieder zurückgebracht. Serkan Eren kennt viele von ihnen. Der ausgebildete Lehrer aus Stuttgart leitet die deutsche Hilfsorganisation Stelp. Sie helfen vor allem syrischen Flüchtlingen im Kampf ums tägliche Überleben - und um ihre Würde. In den Straßen immer wieder Flüchtlingskinder, anscheinend sich selbst überlassen - diese beiden schnüffeln Klebstoff, das betäubt den Körper - und die Seele. Serkan Eren stößt auf den kleinen Mohammed. Er sammelt Plastikmüll, um etwas Geld zu verdienen. Etwa ein Kilo hat er jetzt zusammen, umgerechnet bringt das 5 Cent.

Serkan Eren, Hilfsorganisation Stelp e. V.: „Also jetzt sind wir in Basmane. Basmane ist ein Armenviertel, hier leben ca. … also ein Drittel der Bevölkerung ist hier mit Sicherheit … sind hier  syrische Flüchtlinge. Beispielsweise den Jungen, den wir eben getroffen haben, er hat seine beiden Eltern im Krieg verloren und nahezu auf sich allein gestellt ist und irrt hier vor sich hin.“

In einer Seitenstraße besucht Serkan die Familie Hasan. Amber Hasan kam mit ihrem Sohn und vier Enkeln aus Aleppo. Nur eines der Kinder geht zur Schule, ein anderes ist schwerbehindert. Aber sie sind froh, ein sicheres Dach über dem Kopf zu haben; sie hatten Glück. Denn Amber Hasan bekommt Geld aus den Fördermitteln des EU-Türkei-Abkommens, umgerechnet 100,- Euro im Monat. Das reicht für kaum mehr als die Miete. Ambers Sohn sammelt jeden Tag Müll, um Essen für die Familie kaufen zu können.

Amber Hasan (Übersetzung Monitor): „Wir überleben mit dem kleinen Geld was wir haben, warten jeden Tag auf das, was mein Sohn verdient, leben von Tag zu Tag.“

Serkan Eren, Hilfsorganisation Stelp e. V.: „Ja, da wird es einem schon anders, wenn man überlegt, in was für Verhältnissen wir leben und aufwachsen und über was wir uns beschweren. Dann sitzt man hier und ist doch schon ziemlich fassungslos.“

Dabei hat die Familie Glück, dass sie überhaupt Hilfe erhält. Das müsste eigentlich die Regel sein. Insgesamt sechs Milliarden Euro überweist die EU, damit sie die Türkei die Flüchtlinge von Europa fernhält. Grundlage des Deals ist aber die Einhaltung der EU Menschenrechtskonvention. Also auch der Zugang zu staatlichen Leistungen, Schutz vor Obdachlosigkeit und Ausbeutung - für alle Flüchtlinge. Inzwischen sind es vier Millionen. Wir fahren rauf aufs Land, finden unzählige kleinere Zeltlager. Kamerateams waren hier noch nie. Serkan Eren nimmt uns mit in eines dieser Camps. Mit den Behörden vor Ort komme er gut zurecht, erzählt er. Wichtig, um überhaupt helfen zu können. Mit Planen und Pappe haben sich die Menschen ihr Zuhause geschaffen. Auf dem bloßen Erdboden; bei Sonne und Hitze oder Kälte und Regen. 150 Flüchtlinge leben hier. Keine Toilette, keine sanitären Einrichtungen. Krankheiten breiten sich schnell aus.

Serkan Eren, Hilfsorganisation Stelp e. V.: „Wir laufen hier auf … auf getrocknetem Schlamm rum. Wenn es hier regnet und Winter ist, dann ist das ein Alptraum. Die Zelte sind nicht wasser- oder winddicht, man sieht hier oben die Löcher. Im Winter ist es ein einziger Alptraum.“

Wenn es regnet, waten die Menschen hier im Schlamm. Die Kinder haben oft nicht einmal Schuhe, bekommen häufig Lungenentzündungen und schlimmeres. Im Winter gefriert das Wasser, das aus einem alten Schlauch fließt. Kein Trinkwasser, aber etwas anderes haben sie nicht. Der alte Ofen muss fürs ganze Camp reichen - 150 Menschen. Im Winter muss er sie alle warm halten. Die Familien sind offiziell registriert. Für umgerechnet 70 Cent pro Stunde arbeiten die Männer auf einem Feld in der Nähe. Der Bauer streicht fast die Hälfte ihres Lohns für den Zeltplatz, Strom und Wasser ein. Serkan besucht Amse Ellenhuz. Sie ist allein mit ihren drei Kindern, 48 Jahre alt, vom Leben gezeichnet. Irgendwie versucht sie, die Kinder durchzubekommen. Doch seit der Wirtschaftskrise sind die Preise durch die Decke gegangen, das Essen fast unbezahlbar. Also arbeiten ihre Söhne stundenlang auf dem Gemüsefeld. Sie sind 12 und 14 Jahre alt.

Amse Ellenhuz (Übersetzung Monitor): „Sie arbeiten von 5 Uhr morgens bis 5 Uhr abends auf der Plantage, doch sie bekommen nur die Hälfte des Lohns eines Erwachsenen.“

Kinderarbeit statt Schule? Eigentlich verboten. Wir machen uns auf die Suche. Und tatsächlich, in diesen Gemüseplantagen werden die Gurken auch durch Kinderhände geerntet. Diese Mädchen sind 12 und 14 Jahre alt. Sie kommen aus Aleppo und arbeiten hier täglich. Dass Flüchtlingskinder in der Türkei arbeiten müssen, ist auch der EU bekannt.

Serkan Eren, Hilfsorganisation Stelp e. V.: „Einerseits muss man dazu sagen, dass überall, wo Armut herrscht, Kinder relativ früh zur Arbeit gezwungen werden. Dass aber die EU das bewusst in Kauf nimmt, dass Kinder wirklich an der Grenze, wirklich 100 Kilometer weit weg von der, von einer europäischen Außengrenze wirklich stundenlang auf Feldern arbeiten müssen, ist für mich unerträglich.“

Kinderarbeit, Hunger, Familien, die Sommer wie Winter kein festes Dach über dem Kopf haben. Wir zeigen die Bilder der Völkerrechtlerin Nora Markard. Wenn Menschen so leben müssen, sagt sie, seien die Grundlagen des EU-Deals mit der Türkei erschüttert.

Nora Markard, Völkerrechtlerin, Universität Hamburg: „Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet die unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht hat klargemacht, wenn man Asylsuchende völlig auf sich gestellt lässt und sie sind obdachlos und sie haben gar keinen Zugang zu staatlichen Leistungen, wenn sie mittellos sind, sie sind Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt, dass dann diese ganz grundlegende menschenrechtliche Garantie verletzt ist. Und wenn wir jetzt die Bilder aus der Türkei sehen, dann weist alles drauf hin, dass auch dort eine solche Situation gegeben ist, dass auch dort ganz grundlegende menschenrechtliche Garantien verletzt sind; und zwar auf strukturelle Weise. Und der EU-Türkei-Deal setzt voraus, dass diese menschenrechtlichen Überstellungen in die Türkei unproblematisch sind. Und wenn das aber in der Türkei die Situation ist, dann ist damit auch der EU-Türkei-Deal am Ende.“

Wir haben die Bundesregierung angefragt. Auch ihr sind die Zustände bekannt, sagt sie. Doch man verweist auf EU-Projekte, um die Lage zu verbessern. Und auch die Türkei bemühe sich mit Hochdruck, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Doch nun steht der Winter vor der Tür. Erst kommt der Schlamm, dann gefriert der Boden. Serkan ist in Sorge, denn für die Kleinsten im Zeltlager geht es dann ums Ganze.

Serkan Eren, Hilfsorganisation Stelp e. V.: „Wir haben hier immer wieder Lungenentzündungen, kranke Kinder. Wir haben oft erlebt, dass wir, dass wir hier waren und eine Woche später gekommen sind und Kinder, die wir eine Woche vorher versorgt haben, nicht mehr, nicht mehr da waren, tot waren.“

Das Elend vieler Flüchtlinge in der Türkei, es wird seit Jahren in Kauf genommen. Es geht schließlich um Wichtigeres - für die Türkei, für Europa, für Deutschland.

Georg Restle: „Ganz genau. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben dort, wo sie sind.“

Kommentare zum Thema

  • Schneider 23.10.2018, 16:00 Uhr

    Es schwebt mir in Erinnerung dass unsere Führungspolitiker und Journalisten, als der türkische Präsident Erdogan noch gut Freund wegen den Flüchtlingen sein sollte, die Türkei immer wieder besonders lobten. Es war wohl wieder einmal rein populistisch um die Bevölkerung zu manipulieren. Die deutsche Bevölkerung, welche die Politiker auch damals schon davor warnte der Türkei einfach so Milliarden von unserem erarbeiteten Geld zu überweisen. Was war unser Land ein für andere Länder angenehmes Land als sich unsere Politiker noch nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder mischten, und als unsere kriegsvergessenen Nachkriegspolitiker nicht auf Anweisung eines anderen Staates an Angriffskriege gegen Bevölkerungen anderer Länder beteiligte (Afghanistan, Syrien usw.). Die derzeitige Form von geführter Politik unserer Spitzenpolitiker führt und geradewegs wieder in eine totale kriegerische Zerstörung. Ein Krieg zu entfachen ist einfach, ein Krieg zu beenden sehr schwer.

  • Lydia 07.10.2018, 15:42 Uhr

    Sie könnten doch nach Hause gehen, Syrien ist frei.

  • Jan 30.09.2018, 16:40 Uhr

    Die syrischen Kriegsflüchtlinge könnten ja wieder zurück nach Syrien und helfen das Land aufbauen. Inzwischen hat die syrische Armee, trotz Bekämpfungen der NATO-Koalition, Syrien wieder zum großen Teil von den ausländisch unterstützten Kriegern „befreit“. Leider noch nicht in dem Teil des Landes welcher von der Türkei und den Kurden militärisch besetzt wurde, sowie der Teil des Landes in welchen die USA unerlaubt militärische Stüttpunkte errichtet hat. Ach, Entschuldigung, den ehrenwerten Titel „Befreier“ steht selbstverständlich nur Ländern der „Westlichen Wertegemeinschaft“ zu.