MONITOR vom 24.09.2015

Allein gelassen: Keine Hilfe für traumatisierte Flüchtlingskinder

Bericht: Andrea Miosga, Jana Heck

Allein gelassen: Keine Hilfe für traumatisierte Flüchtlingskinder

Monitor 24.09.2015 09:55 Min. Verfügbar bis 24.09.2999 Das Erste

Georg Restle: „Vor wenigen Minuten ist in Berlin der Flüchtlingsgipfel zu Ende gegangen. Wieder mal ein Gipfel, der über das Schicksal Hunderttausender Flüchtlinge entscheidet. Um viele Details wurde gerungen, vom Taschengeld bis zur Gesundheitskarte. Was dabei oft vergessen wird, unter diesen Flüchtlingen befinden sich immer mehr Kinder. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist ihre Zahl auf fast 58.000 angestiegen. Viele von ihnen haben Furchtbares erlebt, im Krieg und auf der Flucht. Bilder, die sich tief in ihre Köpfe und Seelen eingegraben haben, und die nicht allein deshalb verschwinden, weil sie plötzlich in Sicherheit sind. Die Folge sind oft schwere psychische Traumata, Erkrankungen, die dringend behandelt werden müssten, für die in diesem Land aber kaum Hilfe da ist. Andrea Miosga und Jana Heck haben Familien besucht, für die die Schrecken von Krieg und Flucht noch lange nicht vorbei sind.“

Mit Plastik-Dinosauriern spielen, wie ganz normale Jungen. Vor vier Monaten wollte Arif das nicht. Er konnte nicht spielen. Der Bürgerkrieg in Syrien und zwei Jahre Flucht mit seiner Familie haben bei dem Sechsjährigen Spuren hinterlassen.

Mosap Nazal (Übersetzung Monitor): „Arif hat schon sehr viel Blut gesehen, viele sterbende Menschen. Als wir weggerannt sind - man kann es sich nicht vorstellen - da rannten wir zwischen umherliegenden Körpern her. Er sieht in seinen Träumen Hände und Beine. Er hat mir erzählt, ich spiele mit Händen, Beinen und blutigen Sachen. Manchmal will er, dass ich im Badezimmer schlafe, in unserer Wohnung. Er schläft auch gern im Badezimmer.“

Reporter: „Warum?“

Mosap Nazal (Übersetzung Monitor): „Weil wir in Syrien im Badezimmer schlafen mussten, wenn wir uns vor den Bomben versteckt haben. Er denkt, es ist sicher.“

Das Badezimmer war der einzige fest betonierte Raum. Als ihr Dorf bei Damaskus von der syrischen Armee zerstört wurde, flohen sie zunächst in den Libanon, von dort aus in die Türkei. Schlepper brachten sie nach Bulgarien und ließen sie dort zurück, mitten im Wald. Nach vier Tagen mit kaum Wasser und Nahrung griff die Polizei sie auf. Arif spricht ungern darüber, die Erlebnisse haben ihn traumatisiert. Er erinnert sich an die Polizeihunde.

Arif (Übersetzung Monitor): „Ich sehe den Wolf.“

Mosap Nazal (Übersetzung Monitor): „Und was noch?“

Arif (Übersetzung Monitor): „Und Licht. Ich möchte keine Angst mehr haben.“

Der Vater wurde von den Polizisten geschlagen, die Familie ins Gefängnis gesperrt, weil sie die Grenze illegal überschritten hatten. Erst nach fünf Monaten konnten sie nach Deutschland weiterreisen.

Mosap Nazal (Übersetzung Monitor): „Ich weiß noch, als ich meine Kinder hier zum ersten Mal zum Kindergarten gebracht habe, sahen wir einen Polizisten, der Kinder über die Straße führte. Arif hatte solche Angst! Ich habe ihm gesagt, die Polizei hier ist anders!“

Hier, im psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge in Düsseldorf bekommen sie Hilfe. Ein Glücksfall, denn das Zentrum ist seit Monaten völlig überlaufen. Arif und sein Bruder Omar sollen sich beim Spielen an die Erlebnisse erinnern, und nichts verdrängen.

Arif: „Guck mal, das geht hier rein!“

Spielen, um das Trauma zu überwinden. Ein Trauma, das einen sonst einen Leben lang begleiten kann - mit unterschiedlichen Folgen.

Diana Ramos Dehn, Psychotherapeutin: „Bettnässen, Aggressivität, weil wenn die getriggert werden, können die auch aggressiv werden, weil sie dann sich schützen wollen, verteidigen wollen, das ist natürlich. Und wenn man denn im Kindergarten und in der Schule dann sagt, das Kind ist ja auffällig aggressiv und nicht versteht, woher das kommt, dann ist das schwierig.“

Nach einer aktuellen Studie der TU München sind mehr als 40 Prozent der syrischen Flüchtlingskinder psychisch auffällig, 20 Prozent leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Nur schätzungsweise 5 Prozent der Betroffenen werden behandelt.

Prof. Volker Mall, Kinderzentrum München: „Grundsätzlich sind wir bei diesen posttraumatischen Belastungsstörungen erst mal bereits in einem Bereich, wo chronische, dauerhafte psychische Symptome vorliegen. Die Sorge ist, wenn man sie nicht behandelt, dass sie eine Integration in unsere Gesellschaft, was ja unser Hauptziel ist, diese Kinder und Jugendlichen integrieren, und der Integrationswille dieser Familien ist sehr groß, und das bedeutet, dass wir sie bei der Behandlung eben auch unterstützen müssen.“

Und zwar so früh wie möglich. Doch es passiert das Gegenteil: Flüchtlingskinder haben in den ersten 15 Monaten in Deutschland gar keinen Anspruch auf eine Psychotherapie. Eigentlich wollte die Bundesregierung das ändern. In einem Gesetzentwurf vom 14. September, der Monitor vorliegt, heißt es:

Zitat: „Schutzbedürftigen Personen werden (...) die erforderlichen Hilfen zur Gesundheit gewährt.“

Und später:

Zitat: „Hierzu zählt etwa die notwendige psychotherapeutische Behandlung.“

Doch sieben Tage später, nach der Abstimmung zwischen einzelnen Ressorts, wurde diese Passage für den neuen Entwurf komplett gestrichen. Einen Anspruch auf Therapie gibt es weiterhin frühestens nach 15 Monaten.

Prof. Volker Mall, Kinderzentrum München: „Es kann nicht sein - und das ist in der Vergangenheit zu viel der Fall gewesen - dass wir psychische Erkrankungen erst dann in den Blick nehmen, wenn andere Dinge geregelt sind, zum Beispiel der Asylantrag genehmigt ist. Das ist zu spät. Zu diesem Zeitpunkt haben sich Dinge chronifiziert, ist wichtige Zeit verschenkt worden.“

In Deutschland gibt es ohnehin zu wenige Therapieplätze für Kinder. Was will die Politik tun? Anfragen dazu beantworten weder das zuständige Bundesinnenministerium noch das Bundesgesundheitsministerium. Einzige direkte Anlaufstelle für Flüchtlinge bleiben also die psychosozialen Zentren. Immerhin - einige Bundesländer fördern sie. Und künftig sollen sie sogar einzelne Therapien mit den Kassen abrechnen können. Aber auch nur dann, wenn der Patient schon länger als 15 Monate in Deutschland ist. Und - die Zentren sind längst überlaufen.

Elise Bittenbinder, Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge e. V.: „Ich kann es eigentlich nicht verstehen, denn es gibt diese Expertise und es gibt sie seit 30 Jahren und eigentlich hätte man schon vor einigen Jahren sehen müssen, dass man das dringend unterstützen und weiter fördern und ausbauen muss, damit es eben so etwas wie eine flächendeckende Versorgung gibt. Diese gibt es ja im Moment überhaupt gar nicht.“

Denn trotz steigender Flüchtlingszahlen wurden die Zentren für traumatisierte Flüchtlinge seit Jahren kaum ausgebaut. 2010 waren es 21, heute sind es nur sechs mehr. An vielen Orten arbeitet nur ein Therapeut. Im ganzen Bundesland Sachsen gibt es für die Flüchtlingskinder nur eine halbe Stelle in Leipzig. Die Notunterkunft Spree-Hotel Bautzen liegt 170 km weit davon entfernt. Für die Menschen hier ist es deshalb fast unmöglich, psychotherapeutische Hilfe zu bekommen. Die Sozialarbeiter kümmern sich nach Kräften um die Flüchtlinge. Familie Sheikh aus Syrien ist seit drei Wochen hier. Mit vier Kindern sind sie über das Mittelmeer geflohen. Die Kinder haben Angst, können nie alleine sein. Deshalb schlafen sie alle jede Nacht zu sechst in einem Zimmer.

Vater (Übersetzung Monitor): „Vor dem Krieg waren wir glücklich. Es ging uns gut. Mit dem Krieg kam die Angst. Bombardierung, Anschläge.“

Mutter (Übersetzung Monitor): „Am meisten Angst haben sie in der Nacht. Besonders meine Tochter. Sie sagt immer, ich habe IS gesehen, wie sie jemanden abschlachten. Dabei hat sie das gar nicht gesehen, wir haben das verhindert. Sie hat aber Angst davor in ihren Träumen. Sie hat Angst davor, dass Menschen abgeschlachtet werden.“

Obwohl die Familie hier in Sicherheit ist, tobt der Krieg weiter - in ihren Köpfen.

Steffen Grundmann, Sozialpädagoge: „Für die Familie ganz speziell würde ich auch einen Psychologen mir wünschen, der wirklich die Zeit hat, das Wissen hat und eben auch die sprachliche Kompetenz, um das wirklich eindeutig zu diagnostizieren, was ist da im Vorfeld passiert und was bräuchten die Kinder, was bräuchte die Familie da auch an professioneller Hilfe.“

Dass sie eine solche professionelle Diagnose und Therapie erhalten, ist in Sachsen unwahrscheinlich. Zurück zu Familie Nazal in Nordrhein-Westfalen: Arif hat Glück - und wird behandelt. In den vergangenen vier Monaten hat er sich sehr verändert.

Yousra Alkousa (Übersetzung Monitor): „Arif kam nicht als richtiger Mensch nach Deutschland. Du spürst, das Kind hat keinen Bezug zur Wirklichkeit. Jetzt, nachdem er behandelt wurde, ist es besser geworden. Er hat wieder Liebe zum Lernen, Liebe zum Leben.“

Georg Restle: „Ja, ganz sicher gibt es auch deutsche Kinder, die lange auf eine Therapie warten müssen. Aber vielleicht wäre das ja die wichtigste Aufgabe von Politik: Zu verhindern, dass wir in Zukunft Verteilungskämpfe gerade bei denen erleben, die sich am wenigsten dagegen wehren können.“

Stand: 22.09.2015, 14:40 Uhr