MONITOR vom 30.07.2020

Freiheitsberaubung? Wie Tönnies-Beschäftigte grundlos in Quarantäne gehalten werden

Bericht: Herbert Kordes, Traian Danciu

Freiheitsberaubung? Wie Tönnies-Beschäftigte grundlos in Quarantäne gehalten werden Monitor 30.07.2020 12:08 Min. Verfügbar bis 30.07.2099 Das Erste Von Herbert Kordes, Traian Danciu

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Georg Restle: „Es müssen nahezu gespenstische Szenen gewesen sein, in der Nacht des 17. Juli im Kreis Gütersloh. Als Ordnungskräfte ausschwärmten, um massenhaft Briefe zu verteilen, die bei den Adressaten Angst und Verunsicherung auslösten – und jede Menge Wut. Guten Abend und willkommen bei MONITOR.

Was da tatsächlich geschah im Kreis Gütersloh, konnten wir zunächst auch nicht glauben. Dass Beschäftigte des Fleischunternehmens Tönnies mitten in der Nacht Briefe erhalten, in denen ihnen mitgeteilt wird, dass sie wegen Corona nach vier Wochen Quarantäne für weitere Wochen eingesperrt bleiben. Das allein wäre sicher noch kein Skandal. Wenn in diesen Briefen aber reihenweise falsche Positivtests oder Krankheitssymptome stehen, die es nie gegeben hat. Wenn Menschen in Quarantäne geschickt werden, ohne dass es dafür irgendeinen Grund gibt, dann wird das Vorgehen unter Umständen auch strafrechtlich relevant. Freiheitsberaubung nennt sich das dann. Und das ist längst noch nicht alles. Herbert Kordes und Traian Danciu.“

Rheda-Wiedenbrück, 17. Juli, bis kurz vor Mitternacht. Ordnungskräfte sind mit hunderten Briefen in der Stadt unterwegs. Die Adressaten: Tönnies-Beschäftigte, zumeist aus Osteuropa. Die Zusteller müssen sich beeilen, denn um Mitternacht läuft die vom Land NRW angeordnete allgemeine Quarantäne aus – die Menschen könnten nach vier Wochen wieder raus aus ihren Unterkünften. Doch in den Briefen wird ihnen auf Deutsch mitgeteilt, sie müssen weiter in Quarantäne bleiben. Weiter in Quarantäne, nachdem sie bereits vier Wochen in ihren Wohnungen festsaßen? Die betroffen Menschen sind verzweifelt, sprechen von Albtraum und Gefangenschaft ohne Urteil. Wir fahren in den Kreis Gütersloh. Wir wollen wissen, werden Menschen hier reihenweise zu Unrecht in ihren Wohnungen festgesetzt, weil Behörden versagen?

Rückblick, Montag, 15. Juni: Bei Deutschlands größtem Schlachter – Tönnies in Rheda-Wiedenbrück – steigen die Corona-Infektionen unter den meist osteuropäischen Beschäftigten plötzlich an. Zwei Tage später wird die Schließung des Betriebs verfügt. Die Beschäftigten werden unter Quarantäne gestellt und die Zahlen steigen weiter. Am 20. Juni sind bereits mehr als 1.000 Menschen infiziert. Der Kreis Gütersloh erlässt eine sogenannte Allgemeinverfügung: Alle Tönnies-Beschäftigten müssen für zwei Wochen in Quarantäne. In Verl wird eine ganze Siedlung mit Bauzäunen abgeriegelt. Infizierte und Nicht-Infizierte sind allerdings weiterhin zusammen untergebracht.

Mittwoch, 1. Juli: Nach zwei Wochen Quarantäne verfügt die Landesregierung, die Beschäftigten bleiben für weitere zwei Wochen in ihren Wohnungen eingesperrt. Erst jetzt ist die strikte Trennung von Infizierten und Nicht-Infizierten vorgeschrieben.

17. Juli: Es ist der letzte Tag der Quarantäne für alle – nach vier Wochen. Bis auf die letzte Minute werden die Briefe verteilt.

Madalin (Übersetzung Monitor): „Um 23:30 kam die Polizei und brachte diese Briefe. Sie kamen nicht einmal rein, sondern gaben sie einem Kollegen hier im Haus, der sie weiter verteilte.”

Hunderte dieser Briefe wurden im Kreis Gütersloh verteilt – viele liegen noch Tage später ungeöffnet in den Hausfluren herum – die Adressaten leben längst nicht mehr hier, erfahren wir. Doch falsch adressierte Briefe scheinen hier das kleinste Problem. Wir sind auf dem Weg zu einem Paar aus Rumänien – die beiden leben in Rietberg bei Gütersloh und haben am 17. Juli ebenfalls den Brief bekommen. Mit der Aussicht auf eine gute Arbeit und einen guten Verdienst bei Tönnies hatte man sie erst vor kurzem nach Deutschland gelockt. Nun sitzen sie seit gut vier Wochen in ihrer feuchten, dunklen Wohnung fest – und sollen jetzt weiter hier ausharren. In dem Schreiben heißt es zur Begründung:

Zitat: „Bei Ihnen ist eine Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus (...) auf der Grundlage einer Laboranalytik nachgewiesen worden.“

Ein positives Testergebnis? Davon hatten sie zuvor noch nie gehört. Doch das Behördenschreiben geht noch weiter:

Zitat: „Sie haben telefonisch mitgeteilt, dass Sie weiterhin Symptome einer Erkrankung mit dem neuartigen Corona-Virus (...) haben.“

Und schließlich heißt es:

Zitat: „Zu der Maßnahme“ – gemeint ist die Verlängerung der Quarantäne – „wurden Sie telefonisch gehört und waren mit dieser einverstanden.“

Nichts davon sei wahr, erzählen sie uns.

Andrej (Übersetzung Monitor): „Wir haben nicht zugestimmt, unsere Quarantäne zu verlängern. Das Gespräch möchte ich hören! Es gab kein solches Gespräch mit mir. Ich habe auch niemandem gesagt, dass ich Symptome hätte oder gar das Coronavirus.”

Falsche Behauptungen in amtlichen Schreiben? Wir treffen bei unseren weiteren Recherchen auf Tönnies-Arbeiter, die mit 20 Leuten in einem Haus leben. Sie möchten nicht gezeigt werden. Alle haben den gleichen Brief bekommen wie das Paar. Auch sie sind demnach Corona-positiv. Auch sie sollen über Symptome geklagt und mit der Verlängerung der Quarantäne einverstanden gewesen sein. Alle bestreiten das. In uns keimt ein Verdacht auf: Werden Tönnies-Beschäftigte hier systematisch mit falschen Begründungen in Quarantäne gehalten? Einer der Männer, Costel, erklärt sich schließlich zu einem Interview bereit. Er spricht – wie alle hier – kein Deutsch und sei entsetzt gewesen, als er endlich verstanden habe, was in dem Brief steht.

Costel (Übersetzung Monitor): „Als ich erfahren hatte, dass ich positiv getestet sein soll, hat es mich sehr besorgt. Ich will nicht, dass sich meine Frau zu Hause Sorgen macht. Dass sie glaubt, ich sei erkrankt und mir könnte etwas Schlimmes passieren.”

Wir haken mit Costels Einverständnis beim Gesundheitsamt des Kreises nach, wollen wissen, ob er wirklich Corona-positiv ist. Es dauert mehrere Stunden, dann steht fest, Costel ist nie positiv getestet worden.

Costel (Übersetzung Monitor): „Ich habe die gute Nachricht bekommen, dass ich negativ bin.”

Reporter: „Erleichtert?”

Costel (Übersetzung Monitor): „Ja, sehr erleichtert und gleichzeitig sehr froh.”

Die Hinweise verdichten sich weiter. Wir fragen deshalb auch für zwei seiner Kollegen nach, und bekommen dasselbe Ergebnis. Auch sie wurden nie positiv auf das Corona-Virus getestet – und wurden vom Kreis Gütersloh demnach zu Unrecht weiter in Quarantäne gehalten. Costel kann es nicht fassen. Er und seine Mitbewohner werden mit offensichtlich falschen Behauptungen weiter zu Hause festgesetzt.

Costel (Übersetzung Monitor): „Ich habe das Gefühl, wir wurden unserer Freiheit beraubt. Und etwas ist nicht in Ordnung mit diesen Papieren, die man uns überreichte. Es ist doch nicht normal, dass sie uns nach vier Negativ-Tests plötzlich mit einem Brief kommen, in dem man uns sagt, wir seien positiv.”

Allein in Rietberg sind rund 80 Briefe vom Ordnungsamt der Stadt verteilt worden. Inhaltlich sei der Kreis Gütersloh verantwortlich, sagt die Stadt. Der Kreis habe Musterschreiben zur Verfügung gestellt. Gleichlautende Musterschreiben? Da, wo jeder Einzelfall geprüft werden müsste? Wir zeigen die Briefe Volker Brüggenjürgen vom Caritas-Verband für den Kreis Gütersloh. Auch er kann nicht fassen, was er da liest, und was er von unseren Recherchen hört.

Volker Brüggenjürgen, Caritasverband für den Kreis Gütersloh e. V.: „Das was, was Sie hier haben, das, das habe ich noch überhaupt noch nie gesehen. Das ist für mich völlig neu und das wär noch mal eine ganz andere Dimension. Wenn man nach vier Wochen eine Familie noch mal länger in Quarantäne schickt, dann finde ich, haben die Menschen ein Anrecht darauf, dass das verwaltungstechnisch sorgfältig durchgeprüft ist, ob das ein rechtlich einwandfreier Grund ist, die Menschen länger in ihren Wohnungen einzusperren.”

Julian Jakobsmeier, Fachanwalt für Medizinrecht: „Wenn jemand zu Unrecht in Quarantäne genommen wurde, der beispielsweise überhaupt nicht infiziert war oder auch keinen Kontakt zu Infizierten hatte und dann über Tage oder Wochen in Quarantäne war, denke ich schon, dass da Schadensersatzansprüche durchaus denkbar sind.”

Niemand vom Kreis Gütersloh will vor die Kamera. Bezogen auf die offensichtlich falsch begründeten Quarantäne-Anordnungen schiebt die Kreisverwaltung die Schuld auf die Stadt Rietberg.

Zitat: „In dem von Ihnen angesprochenen Fall scheint es zu einem Missverständnis gekommen zu sein und es wurden die falschen Vordrucke verwendet.“

Quelle: Kreisverwaltung Gütersloh

Das wiederum weist die Stadt Rietberg zurück. Falsche Vordrucke? Missverständnisse? Je länger wir unterwegs sind, desto mehr Belege finden wir für unrechtmäßige Quarantäne-Anordnungen, nicht nur in Rietberg. In Rheda-Wiedenbrück treffen wir Madalin, 25 Jahre, ebenfalls aus Rumänien. Er hat die Infektion schon überstanden und hatte sogar schriftlich, dass er nicht mehr in Quarantäne bleiben müsse. Doch auch er bekam den Brief mit der angeordneten Quarantäne-Verlängerung. Die Begründung:

Zitat: „Sie hatten Kontakt zu einer mit dem neuartigen Corona-Virus (...) infizierten Person.”

Madalin hält die Begründung für absurd. Er hängt sich ans Telefon, er ist sicher, die Anordnung ist falsch, da er bereits vor Wochen infiziert und genesen war. Nach unzähligen Anrufversuchen, Sprachproblemen mit der Hotline des Kreises und mehreren Stunden Zeitaufwand steht fest, die Behörde hatte auch ihn zu Unrecht wieder in Quarantäne geschickt.

Madalin (Übersetzung Monitor): „Ich darf rausgehen, ich bin frei. Mir wurde gesagt, ich solle die

Benachrichtigung zerreißen und es nicht berücksichtigen.”

Auf unsere detaillierten Fragen zu diesen Fällen schreibt uns das Kreis-Gesundheitsamt nur lapidar, es müsse

Zitat: „der jeweilige Einzelfall betrachtet werden.”

Quelle: Kreisverwaltung Gütersloh

Hunderte Einzelfälle? Allein in Rheda-Wiedenbrück wurden mehr als 700 Briefe verteilt. Und das könnte sogar strafrechtlich relevant sein.

Prof. Sebastian Kluckert, Professor für öffentliches Recht, Bergische Universität Wuppertal: „Wenn so etwas vorsätzlich geschieht, also zumindest billigend in Kauf genommen wird, dass Personen, dass Betroffenen die Freiheit entzogen wird, obwohl die Voraussetzungen des Infektionsschutzgesetzes gar nicht vorlagen, in einem solchen Fall liegt eine Freiheitsberaubung im Sinne des Strafgesetzbuches vor.“

Die Quarantäne zehrt an den Nerven, die Menschen sind verunsichert. Florin und seine Frau Felicia etwa, auch sie arbeiten bei Tönnies. Sie wollten eigentlich längst nach Hause fahren nach Rumänien. Seit einem Jahr haben sie ihren 10-jährigen Sohn nicht gesehen. Er lebt bei den Großeltern. Geht aber nicht, wegen der nicht enden wollenden Quarantäne.

Florin (Übersetzung Monitor): „Fünf Wochen in Quarantäne eingesperrt sein, ist hart. Diejenigen, die das entschieden haben, sollten sich mal in unsere Lage versetzen. Ich glaube nicht, dass es ihnen gefallen würde.“

Felicia erzählt, dass sie Angst habe, depressiv zu werden, wenn sie nicht bald aus der Quarantäne herauskommt.

Florin (Übersetzung Monitor): „Wir haben unseren Sohn…”

Felicia (Übersetzung Monitor): „...der uns sehnsüchtig zuhause erwartet.”

Je länger unsere Recherchen dauern, umso mehr stellen wir uns die Frage, hätten die Behörden sich eigentlich genauso verhalten, wenn es sich um deutsche Arbeitnehmer gehandelt hätte?

Volker Brüggenjürgen, Caritasverband für den Kreis Gütersloh e. V.: „Ich glaube nicht, dass man 400 Familien Brüggenjürgen – wenn Sie so – oder Meier, Müller, Schulze heißen würden, dass die solche Bescheide bekommen haben, ich glaub das nicht. Weil das Risiko, dass man da dann juristisch gegen vorgeht, ist doch viel zu groß.”

Madalin und Costel sind fest entschlossen, sich das nicht bieten zu lassen. Sie lassen sich jetzt anwaltlich beraten und überlegen, gegen die Behörden vorzugehen.

Madalin (Übersetzung Monitor): „Ich werde weiterkämpfen. Ich wurde gedemütigt, weil ich ungerechtfertigt im Haus eingesperrt wurde. Ich will, dass man die Fehler sieht, die hinter diesen Entscheidungen stecken und wer sie gemacht hat, so dass man sieht, wer von denen, die mächtiger sind als wir, dahintersteckt, auch aus der Politik.”

Insgesamt sechs Wochen ist es jetzt her, seit Tausende osteuropäische Tönnies-Beschäftigte in ihren Wohnungen eingesperrt wurden. Offenbar kümmert das die Verantwortlichen im Kreis Gütersloh relativ wenig.

Georg Restle: „Erst werden sie ausgebeutet, dann kümmert sich niemand um ihre Gesundheit und jetzt werden sie ihrer Freiheit beraubt. Ja, ganz sicher, wenn die betroffenen Menschen Müller, Maier oder Schmidt heißen würden, dann würden sich vermutlich mehr Menschen in diesem Land dafür interessieren.“

Kommentare zum Thema

  • Rainer Sänger 02.08.2020, 08:27 Uhr

    Sehr geehrte Damen und Herren, sie finden einen China-Kracher und zünden ihn. Sehr gut. Es knallt ein bißchen. Daneben lag eine Bombe, aber die war irgendwie nicht sichtbar?! Denn wer macht wohl solche abstrusen Vorgaben für die Ämter und Städte. Zamperoni läßt grüßen. MfG Rainer Sänger

  • Thomas L. 01.08.2020, 13:40 Uhr

    Vom krampfhaften Wegsehen zum demonstrativen Aktionismus in Nullkommanix geht die Fehlerquote zwangsläufig durch die Decke. Im EU-Wettbewerb der niedrigsten Löhne und Renten brauchen wir Ausbeutung. Ob wir die EU mit einen gemeinsamen Markt brauchen, in dem die Mindestlöhne von 1,84 bis 12,83 reichen und damit Lohndumping zum zwangsläufigen Geschäftsmodell wird, das ist eine andere Geschichte. Da die EU unantastbar ist brauchten wir das krampfhafte Wegsehen, das jetzt mit dem krampfhaften Hinsehen bei Corona kollidiert ist. Ich kenne nicht das südosteuropäische Äquivalent zu Müller, Maier oder Schmidt aber beim demonstrativen Schikanieren von Behörden um von Kernproblemen abzulenken gibt es bestimmt keine Diskriminierung von Ausländern. Um von kaputten Arbeitsmarkt nach Schröders Reformen abzulenken werden Müller, Maier oder Schmidt in sinnlose Maßnahmen der Arbeitsagenturen genötigt damit sie aus der Statistik verschwinden. Auch die Arbeitsagenturen beauftragen Subunternehmen.

  • Arno Nym 31.07.2020, 23:07 Uhr

    Was denkt ihr, warum sie das gemacht haben ? Man muss ja wissen, dass Unternehmen, insbesondere Konzerne in Deutschland mit Behörden, an einem Strang, gegen die Bevölkerung ziehen. Also ist logisch, dass man die ausländischen Arbeiter hat nicht ausreisen lassen, weil Tönnies sonst zwar geöffnet hätte aber keine Arbeiter gehabt hätte. Daher musste der Herr Landrat Adenauer, guter Freund von Herrn Tönnies, diese Menschen am ausreisen hindern. Meine Meinung, denn diese Leute machen nichts zufällig oder aus Dummheit. Da ist alles bis ins kleinste Detail geplant, auch die Rückversicherung, wie aus den Schreiben hervorging, dass diese Menschen, angeblich mit ihnen telefoniert und einer Quarantäne zugestimmt hätten. Das ist Gütersloh, wie man es als Gütersloher nicht anders kennt!