Tod einer Journalistin: Warum starb Shireen Abu Akleh?

Monitor 11.05.2023 12:07 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lara Straatmann, Shafagh Laghai

MONITOR vom 11.05.2023

Tod einer Journalistin: Warum starb Shireen Abu Akleh?

Am 11. Mai 2022 wurde die bekannte Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh bei einer Razzia des israelischen Militärs im Westjordanland getötet – obwohl sie als Journalistin erkennbar war. Niemand wurde bislang dafür zur Verantwortung gezogen. Israel sieht keine Anzeichen für eine Straftat. Kritiker hingegen sprechen von einer gezielten Tötung. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die erneute Eskalation des Nahostkonflikts. MONITOR-Reporterinnen begaben sich auf eine Spurensuche in Israel und im Westjordanland.

Von Lara Straatmann, Shafagh Laghai

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Georg Restle: "An diese Frau hier wollen wir heute erinnern: Eine der weltweit bekanntesten Journalistinnen, die auf den Tag genau heute vor einem Jahr im von Israel besetzten Westjordanland erschossen wurde. Für die gesamte arabische Welt war Shireen Abu Akleh eine Ikone; ihr Tod ein Schock – nicht nur für ihre Angehörigen und Kollegen. Die Bilder von ihrem Sarg, eingezwängt zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten gingen damals um die ganze Welt. Ein Jahr später ist ihr Tod immer noch nicht aufgeklärt. Für das israelische Militär gilt der Fall als abgeschlossen – trotz zahlreicher Hinweise auf eine gezielte Tötung. Unsere Autorinnen Shafagh Laghai und Lara Straatmann haben sich monatelang mit diesem Fall beschäftigt. Ihre Recherchen werfen dabei auch ein Schlaglicht auf einen Konflikt, der gerade wieder eskaliert und in dem immer wieder auch Journalisten und Journalistinnen in die Schusslinie geraten."

Jenin im Westjordanland. Es ist der 11. Mai 2022. Schüsse sind zu hören. Einer davon trifft die Reporterin Shireen Abu Akleh – tödlich. Ihr Tod sorgt international für Bestürzung und Empörung. Shireen Abu Akleh war Palästinenserin, US-Bürgerin und eine der wichtigsten Journalistinnen der arabischen Welt; bekannt für ihre Reportagen aus den von Israel besetzten Gebieten. Bilder und Graffitis erinnern am Tatort noch heute an sie. Für die Palästinenser war sie eine Ikone.

Eitan Diamond, Diakonia International Humanitarian Law Centre (Übersetzung Monitor): "Shireen Abu Akleh war die Stimme Palästinas, ein Symbol. Ihr Tod löste bei vielen Menschen weltweit und natürlich bei den Palästinensern Empörung und große Trauer aus. Und es gab die Erwartung, dass in diesem Fall wegen der öffentlichen Reaktionen auf ihre Tötung eine ernsthafte Untersuchung eingeleitet würde."

Doch bis heute sind viele Fragen zu den Umständen ihres Todes ungeklärt. Warum wurden mehrere Schusssalven auf die Journalisten abgegeben? Und wer ist dafür verantwortlich? Wir reisen nach Israel und ins besetzte Westjordanland, begeben uns auf eine monatelange Spurensuche. Sie beginnt mit einem Besuch bei Shireen Abu Aklehs Bruder. Er ist überzeugt, dass das israelische Militär für den Tod seiner Schwester verantwortlich sei.

Anton Abu Akleh, Bruder von Shireen Abu Akleh (Übersetzung Monitor): "Ich bin mir sicher, dass sie ins Visier genommen wurde. Wenn sie jemanden verscheuchen wollen, würden sie ein oder zweimal schießen, aber 16 Schüsse. Sie werden nicht in der Lage sein, es zu vertuschen."

Schwere Vorwürfe. Wir wollen wissen, was genau geschah am 11. Mai 2022? Versuch einer Rekonstruktion. Es ist früh am Morgen in Jenin im Westjordanland, als das israelische Militär versucht, mutmaßliche Terroristen aufzuspüren. Originalbilder ihrer Bodycam. Wie so oft kommt es zu Gefechten mit palästinensischen Milizen. Mehr als eine Stunde nach diesen Aufnahmen trifft sich Shireen Abu Akleh mit anderen Journalisten in der Nähe. Es kommt es zu den tödlichen Schüssen. Auch ein Kollege wird angeschossen – er überlebt. Wir treffen ihn in der Straße, wo alles passierte. Ein Ort, von wo aus Journalisten schon mehrmals berichtet hätten, sagt er, in sicherer Entfernung der Militäroperation.

Ali Al Samoudi, Freier Journalist in Jenin (Übersetzung Monitor): "Wir sind langsam gelaufen. Unser Ziel war, dass die Armee uns sieht und als Journalisten erkennt und uns erlaubt, die Operation zu filmen. Als wir losliefen war es ruhig, dort, wo wir waren."

Das Lagebild: Das israelische Militär befand sich etwa 200 Meter entfernt von den Journalisten am anderen Ende der Straße. Shireen Abu Akleh und Ihre Kollegen bewegten sich langsam in Richtung des Militärs. Dann die Schusssalven. Einer der Schüsse trifft Shireen Abu Akleh genau unterhalb des Helms. Sie bleibt regungslos liegen. Ein Mann in weißem T-Shirt will helfen, Abu Akleh aus der Schusslinie holen. Doch wieder fallen Schüsse – er muss in Deckung gehen. Wir treffen Sharif-al-Azab am Tatort. An dem Tag war er gerade auf dem Weg zur Arbeit, erzählt er uns.

Sharif al-Azab, Augenzeuge (Übersetzung Monitor): "Ich wollte Shireen so weit wie möglich von der Armee wegbringen. Als ich versuchte, ihr zu helfen, schossen sie auf mich."

Schüsse auf einen Helfer? Es gelingt ihm, sie wegzuziehen. Im Krankenhaus wird Shireen Abu Akleh nur wenig später für tot erklärt. Das israelische Militär legt nur Stunden nach dem Vorfall nahe, Palästinensische Milizen könnten sie erschossen haben. So heißt es:

Zitat: "Die IDF untersucht den Vorfall und prüft die Möglichkeit, dass die Journalisten von palästinensischen Bewaffneten getroffen wurden."

Doch an dieser Version gibt es bereits früh erhebliche Zweifel. Forensische Untersuchungen und journalistische Recherchen kommen nach dem Vorfall zu dem Ergebnis, die tödlichen Schüsse auf Shireen Abu Akleh wurden von den israelischen Soldaten abgegeben. Auch er hat den Fall untersucht: US-Forensiker Steven Beck.

Steven Beck, Audio-Forensiker (Übersetzung Monitor): "Ich habe herausgefunden, dass der Schütze zwischen 180 und 201 Meter entfernt gewesen sein muss. Das ist ein sehr starker Beweis dafür, dass es sich bei dem Schützen um die IDF handeln musste."

Die israelische Militärführung ändert ihre Argumentation. In einer Stellungnahme vier Monate nach dem Vorfall erklärt sie: Abu Akleh sei höchstwahrscheinlich

Zitat: "… versehentlich …"

erschossen worden.

Zitat: "... während eines Schusswechsels, bei dem lebensgefährliche, weitreichende und wahllose Schüsse auf IDF-Soldaten gefeuert wurden."

Und

Zitat: "... auch aus dem Gebiet abgegeben wurden, in dem sich Frau Shireen Abu Akleh aufhielt."

Gab es tatsächlich einen Schusswechsel unmittelbar vor den tödlichen Schüssen? Ein uns vorliegendes Video zeigt die gesamte Situation vor der Tötung. Wir stellen fest, Minuten vor dem Angriff des Militärs ist kein einziger Schuss zu hören. Also kein Schusswechsel, wie es das Militär behauptet. Nur ein einzelner Schuss fällt – allerdings mehr als zwei Minuten vorher. Könnte es sich bei diesem Schuss um einen Angriff von Palästinensern gehandelt haben? Auch dies lassen wir untersuchen.

Steven Beck, Audio-Forensiker (Übersetzung Monitor): "Es gibt starke Beweise dafür, dass das israelische Militär hier in Richtung der Journalisten geschossen hat. Sie sagen zwar, dass sie angegriffen wurden. Wir sehen nur keinerlei Beweise dafür, dass es eine unmittelbare Bedrohung für sie gab."

Bleibt eine entscheidende Frage: War Shireen Abu Akleh als Journalistin erkennbar? Schoss das Militär gar gezielt auf sie? Die Londoner Wissenschaftler von Forensic Architecture haben gemeinsam mit der Organisation Al Haq die Situation visualisiert und die Sicht des Schützen rekonstruiert. Das Visier des Schützen ermöglicht eine vierfache Vergrößerung. Nach ihren Analysen seien die Journalisten für den Schützen trotz der Entfernung klar als solche zu erkennen gewesen. Die Unabhängigkeit der Untersuchung wurde jedoch angezweifelt, weil der palästinensischen Organisation Al Haq fehlende Objektivität vorgeworfen wird. Wir wollen die Ergebnisse daher mit eigenen Drohnenaufnahmen überprüfen lassen. Mit Hilfe der Daten lassen wir das Geschehen von einem Institut für digitale Forensik rekonstruieren. Die Analyse von Professor Dirk Labudde und seinem Team ist eindeutig.

Prof. Dirk Labudde, Forensiker, Hochschule Mittweida: "Sowohl unsere Modellierung und Nachstellung als auch das Modell, was durch Forensic Architecture erstellt wurde, kommt zu der gleichen Aussage, dass also die Person ist beobachtbar. Die Weste ist beobachtbar, der Schriftzug, der Schriftzug ist beobachtbar und auch die Möglichkeit, einen Schuss abzugeben, der zur Tötung führt, in beiden Studien als positiv beurteilt."

Schüsse auf Journalisten, die als solche erkennbar waren? Wer trägt dafür die Verantwortung? Der einzelne Soldat oder die israelische Militärführung? Wir treffen einen ehemaligen israelischen Unteroffizier in Tel Aviv. Früher war Avner Gvaryahu Scharfschütze. Heute will er gemeinsam mit anderen ehemaligen Soldaten aufklären: über die zivilen Opfer der Militäreinsätze. Die Tötung Abu Aklehs ist für ihn Ausdruck einer verschärften Einsatzpraxis.

Avner Gvaryahu, Co-Direktor "Breaking the Silence" (Übersetzung Monitor): "Wir haben gesehen, dass sich die Regeln für den Schusseinsatz bei Soldaten geändert haben. Was wir aus den Aussagen von Soldaten verstehen können, ist es nicht nur einfacher für Soldaten geworden zu schießen, auch Rechtfertigungen für Schüsse und der Gebrauch der Waffe sind viel weitgehender. Die Folge davon ist, dass in Fällen, in denen Palästinenser erschossen werden, fast nie jemand dafür verantwortlich ist."

Niemand verantwortlich – auch nicht im Fall Shireen Abu Akleh? Wir konfrontieren das israelische Militär mit unseren Recherchen.

Zitat: "… beachten Sie unsere endgültigen Schlussfolgerungen …"

heißt es nur. Endgültige Schlussfolgerungen? Also der Fall abgeschlossen? Das Militär sieht keine Anzeichen für eine Straftat. keinen Anlass für Disziplinarmaßnahmen oder Strafverfolgung. Für den israelischen Völkerrechtler Eytan Diamond ist das schwer nachzuvollziehen.

Eitan Diamond, Direktor Diakonia International Humanitarian Law Centre (Übersetzung Monitor): "Es scheint, dass hier jemand eindeutig als Journalistin identifizierbar war und zu diesem Zeitpunkt keinerlei unmittelbare Bedrohung darstellte. Unter diesen Umständen ist die Anwendung potenziell tödlicher Gewalt gegen eine solche Person eine vorsätzliche Tötung, die nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. Wenn es zwingende Beweise dafür gibt, dass dieses Verbrechen begangen wurde, man aber nicht richtig ermittelt und die Täter nicht zur Rechenschaft zieht, vermittelt das eine Botschaft der Gleichgültigkeit gegenüber diesen grundlegenden internationalen Regeln. Und das ist sehr gefährlich."

Ein Jahr nach der Tötung von Shireen Abu Akleh untersucht inzwischen auch das amerikanische FBI den Fall – das israelische Militär unterstützt diese Untersuchung ausdrücklich nicht.

Georg Restle: "Insgesamt 20 Journalisten und Journalistinnen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten laut dem New Yorker Komitee zum Schutz von Journalisten von israelischen Militärs getötet. In keinem einzigen Fall wurde demnach irgendjemand dafür angeklagt oder zur Verantwortung gezogen."

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Stand: 11.05.2023, 22:15 Uhr

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4 Kommentare

  • 4 Anonym 11.05.2023, 22:33 Uhr

    SWRs Nadja Odeh Beitrag zum Thema sollten Sie sich anhören: https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/tod-einer-ikone-die-journalistin-shirin-abu-akleh-swr2-feature-2023-04-28-100.html

  • 3 Aga Bellwald 11.05.2023, 22:25 Uhr

    Vielen Dank an die beiden Autorinnen für diesen starken Bericht. Was er zeigt, geht seit Jahren so. Sehr gut ist, dass ein Vertreter der Soldatenorganisation BTS zu Wort gekommen ist. Er bestätigt das, was auch andere Aktivist*innen feststellen über die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ich hoffe sehr, dass der internationale Druck auf die "moralischste" Armee der Welt endlich zunimmt. Und dass Journalist*innen endlich frei und gefahrlos über das berichten können, was in den besetzten Gebieten Palästinas plus Gaza TATSÄCHLICH tagtäglich passiert. Ich wünsche mir mehr solcher Berichte.

  • 2 H. Beck 10.05.2023, 12:52 Uhr

    Eskalation in Nahost ? Worum geht es denn da ? Was funktioniert da nicht ?

    • Holm 12.05.2023, 11:39 Uhr

      Es geht um Vielfalt, Multikulti usw..

  • 1 Jörg 09.05.2023, 23:52 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)