MONITOR vom 30.03.2017
Martin Schulz und die Krankenschwester: Soziale Gerechtigkeit à la SPD
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Kommentieren [11]Bericht: Achim Pollmeier, Lutz Polanz, Gitti Müller
Martin Schulz und die Krankenschwester: Soziale Gerechtigkeit à la SPD
Monitor. 30.03.2017. 06:35 Min.. Verfügbar bis 30.12.2099. Das Erste.
Georg Restle: „Was hat der Kanzlerkandidat der SPD Martin Schulz mit einer Krankenschwester zu tun? Eine ganze Menge. Eine Krankenschwester repräsentiert nämlich wie kaum eine andere Person die Mitte dieser Gesellschaft. Ihr Einkommen liegt ziemlich genau im Durchschnitt - und doch kann sie davon kaum eine Familie ernähren. Das muss sich ändern, verspricht Martin Schulz. Und verschweigt dabei, dass gerade die SPD wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass auch Krankenschwestern heute kaum mehr verdienen als vor knapp 20 Jahren. Lutz Polanz, Gitti Müller und Achim Pollmeier haben da mal ganz genau nachgerechnet.“
Martin Schulz: „Wir wollen, dass es in unserem Land gerechter zugeht … Das ist die Aufgabe der SPD für Gerechtigkeit zu sorgen … Also Leute, lasst uns anpacken, lasst uns unser Land gerechter machen.“
Unser Land gerechter machen. Ein Ruck geht durch die SPD - Zeit für Martin Schulz, heißt es. Zeit für mehr Gerechtigkeit, vor allem für die hart arbeitende Mittelschicht.
Martin Schulz: „Die Menschen, die in diesem Lande Busse fahren … die Leute, die in Krankenhäusern arbeiten … die Polizistin und der Feuerwehrmann … dass sie sich auf uns verlassen können.“
Aber worauf soll sie sich verlassen? Isabell Franke ist seit 26 Jahren Krankenschwester, eine von denen, über die Martin Schulz ständig spricht. Eine Frau, die jeden Tag hart arbeitet, aber das Gefühl hat, ihre Leistung werde nicht genug gewürdigt.
Isabell Franke, Krankenschwester: „Wenn ich jetzt überlege, was in manchen Berufen verdient werden kann. Und wenn ich überlege, welche Verantwortung man in diesem Beruf dafür hat, ist das mit Sicherheit nicht gerechtfertigt.“
Aber warum? Der Tariflohn für eine Krankenpflegerin steigt jedes Jahr deutlich. 1998 zum Beispiel waren es umgerechnet noch 2.171,- Euro brutto für eine erfahrene Kraft. 2015 3.023,- Euro, fast 40 Prozent mehr. Und selbst wenn man die Inflation abzieht, ist das noch ein ordentliches Plus - aber nur auf den ersten Blick.
Isabell Franke, Krankenschwester: „Also wenn man nur von den Zahlen ausgeht, dann sieht das nach mehr aus. So wird das einem dann auch gezeigt, klar. Aber ich sag jetzt mal gefühlsmäßig würde ich sagen, es ist ungefähr gleich geblieben.“
Das Gefühl trügt nicht. Denn in den letzten 20 Jahren sind noch etliche Belastungen für sie hinzugekommen. Dabei hat ihr schon damals jemand mehr Gerechtigkeit versprochen.
Gerhard Schröder, 10.11.98: „Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der Krankenschwester, der Ingenieure, als Leistung der Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren. Auf die kommt es nämlich an in dieser Zeit und in diesem Land.“
Krankenschwestern und Facharbeiter entlasten. Seit diesem Versprechen war die SPD insgesamt 15 Jahre in der Regierung, stellte die Arbeits- und Sozialminister und baute das Steuer- und Sozialsystem massiv um. Es wurden Zuzahlungen erhöht, neue Abgaben eingeführt, Leistungen gestrichen oder gekürzt. Zum Beispiel die Riester-Rente: SPD-Minister Walter Riester kürzte die Renten drastisch - die Altersvorsorge wurde teilprivatisiert, vor allem zu Lasten der Mittelschicht. Gleiches gilt für die höheren Arbeitnehmeranteile an der Krankenversicherung. Eingeführt ausgerechnet von SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Arbeitnehmer werden seither zusätzlich zur Kasse gebeten. Besonders ins Gewicht fällt auch die Mehrwertsteuererhöhung. Gegen die eigenen Wahlversprechen hob SPD-Finanzminister Peer Steinbrück die Steuer 2007 von 16 auf 19 Prozent an. Wie sich all diese Reformen ausgewirkt haben, hat Stefan Bach in einer umfangreichen Studie ermittelt. Dazu wurde erstmals die Gesamtbelastung aus allen Steuern und Sozialabgaben für verschiedene Einkommensgruppen verglichen. Der Trend ist eindeutig.
Stefan Bach, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: „In den letzten 20 Jahren ist die Umverteilungswirkung des Steuersystems zurückgegangen, denn wir haben die hohen Einkommen entlastet, wir haben die Kapitaleinkommen entlastet, die Unternehmen entlastet, die Vermögenssteuer wird nicht mehr erhoben. Die indirekten Steuern wurden angehoben, das belastet eher die unteren und mittleren Einkommen. Und zugleich wurden ja im Rahmen der Sozialreformen auch Leistungen gekürzt. Leistungen, die natürlich bei Leuten mit geringem Einkommen eine viel größere und höhere Bedeutung haben als bei höheren Einkommen.“
Rechnet man die Privatisierung der Altersvorsorge und der Gesundheitsausgaben mit ein, stieg die Gesamtbelastung der durchschnittlichen Krankenschwester von 50,5 auf 54,3 Prozent. Ganz anders bei den oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher: Ihre Gesamtbelastung wurde sogar massiv gesenkt: von 53 Prozent auf 47,3 Prozent. Was sagt dazu eine Krankenschwester, der die SPD seit 20 Jahren mehr Gerechtigkeit verspricht?
Isabell Franke, Krankenschwester: „Das wusste ich gar nicht. Das macht mich jetzt echt … ja … ähm, ja … was soll man dazu sagen? … sprachlos.“
Eine Krankenschwester oder Altenpflegerin leistet nicht weniger als ein Unternehmensführer, sagt Martin Schulz. Doch was verspricht er ihr konkret? Details eines Hundert-Tage-Programms kündigte er am Wochenende in der Bild am Sonntag an: Managergehälter begrenzen, Arbeitslosengeld 1 reformieren, gleiche Löhne für Männer und Frauen.
Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Also die bisherigen Ankündigungen von Martin Schulz bewegen sich doch weitestgehend im Bereich der kosmetischen Korrekturen. Wenn man wirklich mehr Gerechtigkeit herstellen will, dann muss man ganz klar Vorschläge machen, wo und wofür wollen Sie im oberen Einkommensbereich mehr Geld wieder für die Umverteilung nach unten abzweigen. Und das scheut man wie der Teufel das Weihwasser.“
Seit 1999 sitzt Martin Schulz im Parteivorstand der SPD. Dass ausgerechnet seine Partei in dieser Zeit die Wohlhabenden entlastet hat - auf Kosten der Mittelschicht - dazu sagt Schulz bisher nichts.
Georg Restle: „Kann er aber noch nachholen. Im Juni will die SPD ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl vorlegen. Spätestens dann werden wir sehen, wie ernst es Martin Schulz tatsächlich meint mit sozialer Gerechtigkeit.“
Stand: 28.03.2017, 15:14 Uhr
11 Kommentare
Kommentar 11: Agelstein schreibt am 03.04.2017, 13:54 Uhr :
Kurz vor der Wahl haben unsere etablierten Parteien wieder an die Wähler gedacht und wollen ihnen wieder einiges versprechen, was sie dann nach den Wahlen wieder vergessen haben, was sie ihnen alles versprochen haben, bzw. war nicht umsetzbar, weil Mehrheiten nicht zustande kamen. Ist es gerecht, dass auf Hotelübernachtungen, Blumen, Hudefutter nur 7% Mehrwertsteuer anfallen, für Strom, Kleidung, Windeln Versicherungen aber 19% verlangt werden. Ist es gerecht, dass Sprachkurse für Flüchtlinge aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung bezahlt werden anstatt aus Steuermitteln, ist es gerecht? (Beamte, Freiberufler, Notare, Abgeordnete bezahlen keine Arbeitslosenversicherung und leisten dadurch auch keinen Beitrag zu den erwähnten Sprachkursen ). Ist es gerecht, dass das Rentenniveau auf jetzt 48% gesenkt wurde und weiter sinkt. Pensionäre aber immer noch mit 72% ihres letzten Gehaltes rechnen können. Ist es gerecht, dass die Angleichung der Ost- an die Westrenten zum Teil und d ...
Kommentar 10: matthias schreibt am 02.04.2017, 17:10 Uhr :
man sollte weder Frau Merkel noch herr schulz eine weitere Chance geben, sie haben genug Chancen bekommen. wem soziale Gerechtigkeit wichtig ist, der wählt jetzt endlich mal die linke, nur eine starke linke kann die zwei große treiben. reente wie in Österreich oder der schweiz, wo alle ins rentensystem einzahlen, sowas muss jetzt kommen.
Kommentar 9: Agelstein schreibt am 02.04.2017, 11:31 Uhr :
Jetzt kurz vor der Wahl versprechen Politiker wieder viel und nach der Wahl heißt es dann, war leider nicht umsetzbar, weil sich für das Vorhaben keine Mehrheit im Bundestag fand. Ist es gerecht, dass die Mütterrente von den Beiträgen in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt werden? Aber alle Berufsgruppen (Ärzte, Notare, Apotheker, Steuerberater, Künstler, Selbstständige, Beamte) nicht beteiligt werden, da diese alle nicht verpflichtet sind, in die gesetzliche Rente einzuzahlen, ist es gerecht, dass private Altersvorsorge auch für früher bereits abgeschlossene Verträge im nachhinein in der Auszahlphase mit den vollen Beitrag für die Krankenversicherung und Pflegeversicherung belastet werden? (Hier zahlt für die private Altersvorsorge der Arbeitnehmer die Beiträge für die erwähnte Versicherung alleine. Österreich hingegen hat in ihrem Land die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt. Die bekommen 80% ihres letzten Nettogehalts als Rente. Warum kann oder will man nichts vom Nac ...
Kommentar 8: Michael schreibt am 01.04.2017, 11:18 Uhr :
Guter Bericht. Kein bisschen einseitig! Wer meint das sich mit einer neuen Regierung etwas ändert ,soll das ruhig glauben.
Kommentar 7: Marina Heckmann schreibt am 01.04.2017, 00:14 Uhr :
"Meinen Respekt hat Herr Schulz/SPD". Die SPD kehrt zu ihren Wurzeln zurück, der Arbeiterpartei. Das funktioniert aber nur mit einer absoluten Mehrheit. Was kann er davon umsetzen? Ich bin da realistisch. Denn... Innenpolitik hängt auch mit Außenpolitik zusammen (was kommt noch von einem Trump, Putin und Erdo"wahn", Brexit, Flüchtlingskrise?) Hat Frau Merkel CDU/CSU all die Jahre sich z. B. um die o.g. Krankenschwester gekümmert? Nein, nur um Lobbyisten!!! ...Übrigens, meiner Tochter bleibt in der Geldbörse auch nicht viel mehr (seit 20 Jahren Alleinerziehend, 2 Kinder, Busfahrerin in Vollzeit, und jedes 2. Wochenende und in den Ferien Reisebus!!!)...Eine AfD ( teilweise schon braun und mit Sammelgut) wähle ich "never"!!!
Kommentar 6: Ralle schreibt am 31.03.2017, 21:38 Uhr :
Es kann ja sein, dass Herr Schulz dass auch weiß und wenn er gewählt werden sollte, sich für Verbesserungen für Krankenschwestern und anderen Menschen die Menschen dienen einsetzen würde. Man sollte ihm die Chance geben. Zwölf Jahre CDU geführte Regierungen mit frau Merkel, hat ja nicht zu Verbesserungen beigetragen. Und so lange "Schwarze Nullen" angestrebt werden, wird sich auch für Krankenschwestern & Co nicht viel ändern.
Kommentar 5: Agelstein schreibt am 31.03.2017, 18:12 Uhr :
Super Beitrag. Ich wünsche mir innigst, dass die Bürger unsere Landes nicht vergessen haben, welche Kürzungen und zusätzliche Abgaben uns unsere Abgeordneten im Bundestag seit 15 Jahren aufgebrummt haben. Aber die christlichen Parteien (CDU, CSU )sind nicht besser. Im Gegenteil, Merkel ist fast 12 Jahre Bundeskanzlerin, warum hat diese Partei nicht schon längst einige Gesetze rückgängig gemacht oder korrigiert? z. B. die Einführung der Riester oder Rürup Rente. Das beste Beispiel ist hier Österreich. Das Nachbarland hat die gesetzliche Rente in ihrem Land gestärkt. Dort liegt das Rentenniveau bei satte 80% des letzten Nettolohnes. Oder dass die private Zusatzrenten in der Auszahlphase die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge voll also ca 17,5% alleine zahlt. Also weder die Rentenversicherung noch der Versicherungsträger die Hälfte des Versicherungsbetrages zahlt. Im Gegenteil, es ist erwiesen, dass diese private Altersvorsorge für den Arbeitnehmer ein Draufzahlgeschäft ist. ...
Kommentar 4: Oyana schreibt am 31.03.2017, 09:41 Uhr :
Ein sehr einseitiger Bericht, der ja deutlich zeigt, in welche Richtung der Monitor tendiert. Ja, damals liefen viele Dinge falsch, nur frag ich mich warum dann ein Regierungswechsel auf Kohl nicht an der sozialen Ungerechtigkeit geändert hat? Zeit genug hätte er ja gehabt. Schon lustig, wie man sich gegenseitig jetzt wieder Schuld gibt, und wie eine CDU auf die SPD schimpft, obwohl sie so lange Zeit zum regieren hatte. Nein, Schulz wird auch keine Wunder vollbringen, nur ist für mich die Zeit gekommen, es anders anzugehen, und eine neue Regierung zu haben. Wir werden sehen. Das schreibt eine Krankenschwester, die lustigerweise zufrieden ist, und selbst etwas ändern kann an ihrer Situation.
Kommentar 3: Margarete Gallmann schreibt am 31.03.2017, 07:30 Uhr :
Ich und mein Mann waren in den letzten 3-4 Jahren öfter im Krankenhaus. Wie sich die Krankenschwestern für die Patienten die Haken abrennen und alles tun, daß die Patienten gut versorgen zu können. Nachts und an den Wochenenden sind oft nur 2 Pfleger für eine Station mit 50 Patienten zu versorgen. Frau Nahles und Co. versprechen nur und sollten selbst einmal diese Arbeit tun.
Kommentar 2: Ilona cross schreibt am 30.03.2017, 22:13 Uhr :
Vielen Dank, das gleiche gilt für Erzieher /innen . Ich arbeite seit über 40 Jahren als Erzieherin, davon seit 1988 direkt am Kottbusser Tor in Brennpunkt von Berlin. Wir Erz./innen werden schlicht vergessen. Für Bildung und freie Kitaplätze wird ,, viel getan" das ist Heuchelei Was ist mit uns? Wir werden ausgetauscht , Belastung nimmt zu LG
Kommentar 1: Peter Kühn schreibt am 30.03.2017, 22:03 Uhr :
Was ich auch einen schlimmen Fehler, der Schröderzeit finde, ist die Abschaffung der Allgemeineverbindlichkeit der Tarifverträge. Das hat in großem Maße dazu geführt, das sich Arbeitgeber einfach auskoppeln aus den Tarifverträgen. Das hat auch Herr Schulz mit zu verantworten. Mich wundert, das es in dem Beitrag und auch sonst niemals ein Thema ist. Ein Schelm der Böses denkt.