MONITOR vom 28.05.2020

Sterben im Mittelmeer: Europas Rückzug bei der Seenotrettung

Bericht: Lara Straatmann, Andreas Maus

Sterben im Mittelmeer: Europas Rückzug bei der Seenotrettung Monitor 28.05.2020 06:53 Min. UT Verfügbar bis 28.05.2099 Das Erste Von Lara Straatmann, Andreas Maus

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Georg Restle: „Während sich ganz Europa mit den Folgen der Corona-Pandemie beschäftigt, spielen sich vor den Toren des Kontinents Dramen ab, die kaum noch jemand zur Kenntnis nimmt – draußen auf dem Mittelmeer. Dabei scheint es fast so, als benutze die Europäische Union die Corona-Krise als Vorwand, um Flüchtlinge, die in Seenot geraten, nicht mehr retten zu müssen. Mit tragischen Folgen: Immer noch ertrinken und verdursten Menschen auf dem Mittelmeer, weil ihnen jede Hilfe verweigert wird. Menschen, die Gesichter und Geschichten haben. Lara Straatman und Andreas Maus.“

Dies ist die Geschichte einer Irrfahrt auf dem Mittelmeer. Die Geschichte vom Tod von zwölf Menschen. Und einem EU-Staat, der offenbar Recht bricht, anstatt Menschenleben zu retten. 11. April, zentrales Mittelmeer, internationales Gewässer. Mehrere Boote wie dieses sind in Seenot geraten. An Bord insgesamt mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder. Die Flüchtlinge setzen Notrufe ab – Tage vergehen. Dies ein Originalnotruf von einem der Boote.

Notruf (Übersetzung Monitor): „Ist da jemand der uns helfen kann? Hier sind zwei Menschen gestorben. Das Kind ist krank, es geht ihm nicht gut. Es gibt zwei Personen, die tot sind. Das Kind ist krank, es ist nicht okay … Kommen Sie und helfen Sie uns.”

Malta ist für die Koordinierung der Rettung verantwortlich und dafür, dass die Menschen an einen sicheren Ort kommen. Die Notrufe der Boote landen zunächst hier, bei der Organisation Alarmphone. Sie informieren die zuständigen Behörden. Doch es passierte nichts. Tage vergehen – ohne Rettung.

Britta Rabe, AlarmPhone: „Wir haben Malta pro Fall ungefähr 20 E-Mails geschrieben und haben sie alle paar Stunden angerufen und eigentlich ist niemand drangegangen oder wir sind in die Warteschleife geschickt worden. Und, also wenn irgendwann Sie … es tut keiner mehr was.”

Keiner tut etwas? In Schlauchbooten sind die Menschen am 10. April aus Libyen geflüchtet, berichten Hilfsorganisationen, in Richtung Malta. Hier die letzte bekannte Position eines der Boote am 13. April. Rund 60 Flüchtlinge sind an Bord. Vier Tage treiben die Menschen da bereits im Meer, ohne Wasser, ohne Nahrung. Während Alarmphone weiter vergeblich Hilfe anfordert, spielen sich auf dem Boot dramatische Szenen ab. Davon erzählen Fotos und die Sprachnachricht einer Überlebenden, die von den Ereignissen auf See berichtet.

Sprachmemo Überlebende (Übersetzung Monitor): „Da kam ein großes Schiff. Wir versuchten sie zu stoppen. Aber sie kamen nicht, um uns zu helfen. Zwei von uns sagten, die werden nicht kommen. Sie sprangen ins Wasser, um Hilfe zu holen und eine Minute später waren sie verschwunden.”

Zwei Menschen sterben. Und es werden nicht die einzigen bleiben. Europäische Staaten wie Malta und Italien machen im April ihre Häfen dicht für Flüchtlinge. Begründung: die Corona-Pandemie. Deswegen forderte die Bundesregierung die Rettungsorganisationen schon Anfang April schriftlich auf:

Zitat: „(…) derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen (…).”

Gorden Isler, Vorsitzender Sea-Eye: „Das hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass man sowas mal von einem deutschen Ministerium bekommt, so eine Aufforderung, dass man die Rettung tatsächlich einstellen soll. Und das in der gleichen Zeit, wo auch die gleichen Politiker, der Bundesinnenminister nicht müde wird, immer wieder zu sagen, wie wichtig es doch jetzt in dieser Zeit gerade ist, Freiheitseinschränkungen hinzunehmen und rücksichtsvoll zu sein in der Corona-Krise, um jedes Menschenleben zu schützen. Das ist schon ein Ausblick darauf, dass hier bewertet wird, welches Menschenleben schützenswert ist und welches Menschenleben eben nicht.“

Keine zivilen Seenotretter mehr auf dem Mittelmeer: Die beiden Rettungsschiffe Alan Kurdi und Aita Mari, die noch im Einsatz waren, werden von italienischen Behörden festgesetzt. Begründung: technische Mängel. Und auch die Europäische Union will das Retten von Flüchtlingen offenbar unbedingt vermeiden. Anfang Mai startete die europäische Marinemission IRINI. Angekündigt mit imposanten Bildern. Deutschland beteiligt sich mit bis zu 300 Soldaten. Die Mission soll im zentralen Mittelmeer dafür sorgen, dass keine Waffen nach Libyen gelangen. Flüchtlinge aus Seenot retten? Das soll offenbar mit allen Mitteln verhindert werden, um keine Flüchtlingsboote anzulocken. Die Strategie: Das Operationsgebiet von IRINI. Sollten sich Flüchtlingsboote verstärkt in Richtung der Schiffe der EU-Mission bewegen, sollen diese bis zu acht Tage in ein anderes Einsatzgebiet verlegt werden können.

Frank Schwabe, Menschenrechtspolitischer Sprecher, SPD Bundestagsfraktion: „Es bedeutet, dass Schiffe abgezogen werden und Schiffe eben Menschenleben nicht retten sollen, weil die Sorge von einigen zu groß ist, dass dann weitere Menschen folgen, die gerettet werden müssten und letztendlich ist der Preis, Menschen sterben zu lassen und das ist natürlich zynisch und menschenverachtend.“

Schwere Vorwürfe. Das Auswärtige Amt antwortet uns, man setze sich für eine nachhaltige Lösung auf europäischer Ebene ein, zur Verteilung von aus Seenot Geretteter. Und man erwarte die Einhaltung geltenden Völkerrechts. Einhaltung des Völkerrechts? Malta geht da offenbar andere Wege. Anstatt die Flüchtlingsboote im Mittelmeer zu retten, beauftragte der EU-Staat Mitte April auch dieses Fischerboot, um die Flüchtlinge zurück nach Libyen zu bringen. Eine Überlebende berichtet.

Sprachmemo Überlebende (Übersetzung Monitor): „ Wir fragten sie, wohin fahren wir? Und wir sagten ihnen, dass wir niemals mehr nach Libyen zurück wollen. Warum bringt ihr uns nach Libyen zurück?“

Dieses Foto soll die Geflüchteten an Bord im Hafen von Tripolis zeigen. Zwölf Menschen haben die Odyssee, laut Hilfsorganisation, nicht überlebt. Eine illegale Rückführung mit Hilfe eines privaten Fischerboots, organisiert vom EU-Staat Malta? Das wäre eine neue Qualität, sagt Lotte Leicht von Human Rights Watch.

Lotte Leicht, EU-Direktorin Human Rights Watch (Übersetzung Monitor): „Im Auftrag Maltas und offenbar auf direkte Anordnung des Büros des Premierministers wurde dieses Boot nicht nur abgefangen und gerettet, sondern die Menschen nach Libyen zurückgebracht. Das verstößt gegen das Völkerrecht und die völkerrechtlichen Verpflichtungen Maltas. Und diese Verstöße haben möglicherweise zum Tod von Menschen geführt.“

Zum Tod von zwölf Menschen. Menschen, die Gesichter und Namen haben. Die Spur derer, die überlebt haben, verliert sich hier, in einem der berüchtigten Flüchtlingslager Libyens. Mitten im Bürgerkrieg, schwer traumatisiert, verzweifelt.

Sprachmemo Überlebende (Übersetzung Monitor): „Uns geht es sehr schlecht, unsere Körper zittern immer noch. Weil wir mit ansehen mussten, wie unsere Brüder und Schwestern auf dem Meer gestorben sind. Wir sind wieder eingesperrt – ohne Hoffnung.“

Georg Restle: „Hoffnungslos. Es gibt eine neue Schätzung der UN-Migrationsbehörde, wonach seit 2014 mehr als 20.000 Flüchtlinge im Mittelmeer umgekommen sind. Und nein, das sind keine Opfer einer Naturkatastrophe, sondern 20.000 Menschenleben, von denen man die allermeisten hätte retten können, wenn man es politisch nur gewollt hätte.“

Kommentare zum Thema

  • Anonym 18.09.2020, 15:13 Uhr

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  • Freier Kurde 10.09.2020, 23:58 Uhr

    Schlimm was hier zu lesen ist . Humanismus und Nächstenliebe , haben in manchen Köpfen keinen Platz mehr . Schön das die Evangelische Kirche ihrem Namen gerecht wird . Traurig das hier so viele Kalte verirrte Seelen, Menschen verachtende Meinungen äußern . Mach jetzt erst mal Urlaub , nach dem Schock . Zum Glück gibt es auch ein paar Gerechte .

  • Freier Kurde 10.09.2020, 23:46 Uhr

    Alle die Länder die nicht bereit sind , sich an einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge zu beteiligen ,sprich Flüchtlinge aufzunehmen ,sollten wir aus der EU ausschließen . Die Aufnahme und Hilfe von Flüchtlingen sehe ich als Humanist und Demokrat als grundsätzliche Pflicht eines jeden EU Staates . Wir sollten ernsthaft über die Statuten der EU neu verhandeln . Wer nicht helfen will muss gehen ,für mich ist das nichts anderes als purer Rassismus und der hat in der EU nicht zu suchen . Eine Frage; wenn wir in Deutschland vor der AFD in unserem humanitären handeln zurückschrecken, dann haben wir verloren . Selbiges wird auf EU Ebene schon viel zulange geduldet.