MONITOR vom 07.11.2019

Waffengewalt gegen Seenotretter: Rechtsfreier Raum Mittelmeer

Bericht: Lara Straatmann, Nikolaus Steiner

Waffengewalt gegen Seenotretter: Rechtsfreier Raum Mittelmeer

Monitor 07.11.2019 07:08 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lara Straatmann, Nikolaus Steiner

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Georg Restle: „Flüchtlinge in Seenot. Irgendwie scheint das kein großes Thema mehr zu sein in deutschen Medien – aus den Augen, aus dem Sinn. Dabei sollten wir sehr genau hinschauen, was sich da gerade abspielt. Denn offenbar entwickelt sich das Mittelmeer gerade zu einem völlig rechtsfreien Raum, in dem wild um sich schießende libysche Milizen Menschenleben gefährden und Flüchtlinge sogar aus europäischen Rettungszonen nach Libyen zurückgebracht werden. Dorthin, wo ihnen schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen. Nikolaus Steiner und Lara Straatmann.“

26. Oktober. Aufnahmen der deutschen Rettungsorganisation Sea-Eye. Mehr als 90 Menschen sind im zentralen Mittelmeer in Seenot. Plötzlich nähern sich zwei Schnellboote mit libyscher Flagge – mit einem Maschinengewehr ausgerüstet. Einer der Männer ist maskiert. Sie fahren zwischen den Seenotrettern und Geflüchteten hin und her.

Detlev Suhr, Rettungsorganisation Sea-Eye: „Sie haben massiv versucht zu verhindern, dass wir die Rettung durchführen. Also ich hatte das Gefühl, die haben sich einen Spaß draus gemacht, ein Machtspiel mit Menschenleben veranstaltet.“

Doch es bleibt nicht nur bei Drohgebärden, schließlich wird scharf geschossen. Ins Wasser und in die Luft, berichten Augenzeugen. Die Rettung muss unterbrochen werden.

Joshua Wedler, Einsatzleiter Rettungsschiff „Alan Kurdi“: „Die wollten mit ihren Maschinengewehren die Leute hindern, ins Wasser zu springen, wollten dann uns auch erst nicht gestatten, die Leute mit an Bord zu nehmen oder aus dem Wasser zu holen. Hätten wir zu diesem Zeitpunkt nicht schon jedem eine Rettungsweste austeilen können, wären auf jeden Fall Leute ertrunken.”

Die Libyer nehmen auch Menschen an Bord. Doch einige von ihnen springen zurück ins Wasser.

Roland, Geflüchteter aus Nigeria (Übersetzung Monitor): „Wir haben geschrien, wir wollen nicht zurück, wir wollen nicht zurück nach Libyen. Ich bin zuerst gesprungen. Ich habe eine Menge Wasser geschluckt und fast mein Leben verloren.”

In Panik drängen die Menschen auf das deutsche Rettungsschiff. Eine Frau ist schwer verletzt, eine Person wird vermisst, berichten die Helfer. Reines Glück, dass nicht mehr passierte. Die Schnellboote ziehen sich schließlich zurück. Die Bundesregierung verurteilt die Aktion der Libyer. Die libysche Küstenwache distanziert sich später von dem Vorfall. Nur, wer steckt hinter der libyschen Miliz? Wir stoßen auf einen Facebook-Post vom selben Tag. Darin wird beschrieben, dass die sogenannte „Küstensicherheit von Zuwara” am 26. Oktober in der Region im Einsatz war. Auf derselben Seite stoßen wir auch auf Fotos von Schnellbooten. Wir entdecken identische Merkmale: Rostflecken, Beulen – wie die eines der Boote, das bei dem Vorfall mit den deutschen Seenotrettern dabei war. Dieselben Schiffe? Die gleiche Miliz? Für Gordon Isler, Vorsitzender von Sea-Eye ist klar: Die Milizen kamen im staatlichen Auftrag. Denn Sea-Eye hatte zuvor die libyschen Behörden informiert, sagt er.

Gordon Isler, Rettungsorganisation Sea-Eye: „Diese Koordinaten haben wir ja dort an die Rettungsleitstelle, so wie es von uns verlangt wird, hin übermittelt und gesagt, wir fahren da jetzt hin, da gibt’s einen Seenotfall. Wir informieren die Behörde so, wie es sein muss und dann schicken die uns auf einmal so eine bewaffnete Miliz, die sich dort verhält, also, wie eine räuberische Bande.”

Der Bundesinnenminister wird ein paar Tage später auf den Vorfall mit der libyschen Miliz angesprochen. Er fordert nun einen Verhaltenskodex – aber nicht für die Libyer, sondern für deutsche Seenotretter.

Horst Seehofer (CSU), Bundesinnenminister, 29.10.2019: „Ich finde, zum Verhaltenskodex gehört schon auch, dass sie nicht indirekt das Geschäft der Schleuser besorgen.”

Ein Verhaltenskodex für deutsche Seenotretter?

Ruben Neugebauer, Rettungsorganisation Sea-Watch: „Das ist absolut absurd, dass jetzt ein Verhaltenskodex von den Seenotrettern gefordert wird. Was wir brauchen ist ein Verhaltenskodex für staatliche Akteure, und den haben wir im Prinzip auch schon. Das ist das internationale Seerecht, das sind die Menschenrechtskonventionen, das ist die Genfer Flüchtlingskonvention. Es sind die europäischen Staaten, die hier auf täglicher Basis das Völkerrecht brechen.”

Gebrochenes Völkerrecht? Offenbar auch an anderer Stelle. In der maltesischen Rettungszone ist eigentlich Malta für die Koordination der Einsätze verantwortlich. Menschen, die hier gerettet werden, sollen grundsätzlich an einen sicheren Ort nach Europa gebracht werden. Nun aber fangen offenbar libysche Küstenwächter Flüchtlinge auch in der maltesischen Rettungszone ab – koordiniert von einer europäischen Behörde.

18. Oktober, maltesische Such- und Rettungszone. Ein Holzboot wie dieses mit etwa 50 Menschen an Bord gerät in Seenot. Malta ist für die Koordination der Rettung in dieser Zone verantwortlich. Und dafür, dass die Menschen an einen sicheren Ort kommen. Um 14:39 Uhr meldet die Organisation „Alarmphone” den Notruf und die Koordinaten des Schiffs an die Malteser. Es vergehen Stunden. Immer wieder schickt „Alarmphone“ aktuelle Koordinaten. Doch es passiert: Nichts. Nach MONITOR-Informationen waren zu dieser Zeit auch mehrere zivile Schiffe in der Gegend unterwegs. Aber offenbar wurde keines von den Maltesern zu Hilfe gerufen.

Maurice Stierl, „Alarmphone“: „Und dann haben sie einfach gar nicht mehr reagiert auf unsere Anrufe, auf unsere E-Mails. Sie wollten uns keine Auskunft geben über den Status, ob eine Rettung eingeleitet worden ist oder nicht.”

Gegen 21.30 Uhr, knapp sieben Stunden nach dem ersten Notruf, hätten die Malteser schließlich geantwortet.

Telefonmitschnitt (nachgesprochen, (Übersetzung Monitor)): „Guten Abend, hier spricht Watch the Med Alarmphone. Ich rufe Sie an, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie Informationen über den Fall haben, den wir Ihnen übermittelt hatten. Das blau-rote Holzboot.”

Weitere Person (Übersetzung Monitor): „Mit 50 Personen, 10 Frauen und 5 Kindern?”

Erste Person (Übersetzung Monitor): „Ja.”

Weitere Person (Übersetzung Monitor): „Ich habe die Bestätigung, dass dieses Boot von der libyschen Küstenwache gerettet wurde.”

Dieses Schiff der libyschen Küstenwache fängt unter den Augen Maltas die Flüchtlinge in der maltesischen Such- und Rettungszone ab - und bringt sie zurück ins Bürgerkriegsland.

Prof. Alexander Proelß, See- und Völkerrechtler, Universität Hamburg: „Wenn jetzt Malta zwar die Menschen nicht selbst zurückführt nach Libyen, sondern einfach wartet, bis ein anderer Akteur – konkret die libysche Küstenwache – in die maltesische Search- and Rescue-Zone hineinfährt, um die Menschen zurückzuführen, dann ist das meines Erachtens ein Unterlaufen, ein Unterwandern der eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen Maltas. Und das ist hochproblematisch.”

Ruben Neugebauer, Rettungsorganisation Sea-Watch: „Das ist ein staatliches Entführungsszenario. Das muss man so drastisch sagen. Dass mittlerweile sogar aus der maltesischen Such- und Rettungszone Menschen von libyschen Milizen zurück in die Folterlager gebracht werden, zeigt, dass Europa hier im Prinzip Migrationsverhinderung um jeden Preis durchführt.”

Die maltesischen Behörden wollten sich dazu nicht äußern. Offenbar hat Europa das Mittelmeer längst zur rechtsfreien Zone erklärt.

Georg Restle: „Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat jetzt die Bundespolizei mit Ermittlungen zu den Schießereien im Mittelmeer beauftragt. Man kann nur hoffen, dass das auch aufgeklärt wird. In einem anderen Fall kann von Aufklärung nämlich keine Rede sein.“

Stand: 07.11.2019, 22:15 Uhr

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