Migrationskrise? Eine Gemeinde zeigt, wie es geht
Monitor. 12.10.2023. 09:44 Min.. UT. Verfügbar bis 30.12.2099. Das Erste. Von Julius Baumeister, Herbert Kordes.
MONITOR vom 12.10.2023
Migrationskrise? Eine Gemeinde zeigt, wie es geht
Die Migrationsdebatte läuft seit Wochen auf Hochtouren. Und immer wieder heißt es: Die Kommunen sind überfordert. Alle Kommunen? Keineswegs: Eine kleine Gemeinde bei München beherbergt viel mehr Geflüchtete, als sie eigentlich müsste. Und gibt sich keineswegs überfordert. Eine Reportage aus einem Ort, von dem Deutschland viel lernen kann.
Von Julius Baumeister, Herbert Kordes
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Kommentieren [12139]Georg Restle: "Gegenüber dem Leid der Menschen in Israel und Gaza wirken manche Diskussionen in Deutschland geradezu kleinlich – und das gilt auch für die Migrationsdebatte. Dabei sind es Bilder wie dieses, die den Volkszorn nähren. Bilder von Turnhallen, die für die Unterbringung von Geflüchteten herhalten müssen. Die Politik kennt auf diese sogenannte Migrationskrise fast nur eine Antwort: Abschotten, einsperren, abschieben. Dabei ginge es auch ganz anders, wie diese kleine Gemeinde in Oberbayern zeigt. Wo viel mehr Geflüchtete aufgenommen werden als gefordert und wo sich kaum einer davor fürchtet oder gar überfordert fühlt. Woran das liegt? Herbert Kordes und Julius Baumeister haben sich in Hebertshausen bei München umgeschaut und umgehört."
Vergangene Woche in Hebertshausen bei München. Wir sind unterwegs mit Bürgermeister Richard Reischl von der CSU in seiner Gemeinde. Viele Einfamilienhäuser, fünf Kindergärten und Kitas, zwei Schulen. Gut 6.000 Menschen leben hier und – viele Geflüchtete. An diesem Donnerstag kommt wieder ein Bus mit 50 Geflüchteten: Zwei Wochen sollen sie in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben und dann auf andere Orte verteilt werden. Doch weil sich die Verteilung regelmäßig verzögert, bleiben sie oft länger als geplant in der provisorischen Unterkunft. Trotzdem ist Richard Reischl entspannt.
Richard Reischl (CSU), Bürgermeister Hebertshausen: "Ich habe keine Angst. Diese Menschen machen mir auch keine Angst, auch nicht, wenn sie zu dritt vielleicht spätnachts vom Bahnhof heimgehen. Ganz im Gegenteil, die grüßen uns eher, ja. Es sind vielleicht eher immer Vorurteile, die solche Ängste erzeugen."
Vorurteile, diffuse Ängste gibt es – wie vielerorts – auch in Hebertshausen; dass zu viele kommen könnten. Und tatsächlich leben in den drei Flüchtlingsunterkünften im Ort viel mehr Geflüchtete als geplant. Eigentlich müssten sie hier nur 45 Menschen unterbringen – aktuell sind es rund 230, hauptsächlich aus afrikanischen Ländern, Syrien oder Afghanistan.
Richard Reischl (CSU), Bürgermeister Hebertshausen: "Ich glaube, man muss auch schon ein bisschen an die Zukunft denken."
Der Bürgermeister und die Menschen in Hebertshausen haben sich vorgenommen anzupacken, Flüchtlinge zu integrieren. Regelmäßig treffen sich die ehrenamtlichen Helfer, tauschen sich aus, besprechen Probleme, planen Aktionen. Einer von ihnen ist Peter Barth. Fast täglich radelt der 76-Jährige hoch zur Flüchtlings unterkunft. Barth hilft, etwa bei Behördengängen. Vor allem will er die Menschen aber in Arbeit bringen. Das ist nicht immer leicht, denn die Asylbewerber dürfen in der Regel erst nach neun Monaten eine Arbeit aufnehmen. Turyale Perzadah kommt aus Afghanistan und arbeitet inzwischen als Altenpflegehelfer. Perzadah darf hierbleiben, solange die Taliban in Afghanistan herrschen. Dass er arbeiten darf, sieht er als großes Glück.
Turyale Perzadah, Geflüchteter: "Wenn du zu Hause bleiben immer, das ist kommt immer Stress und was du sollst machen, wenn du den Tag hier zu Hause bleiben."
Peter Barth hat ihm die Stelle besorgt; ihm und vielen anderen. Er hält es für völlig unsinnig, dass viele zum Teil jahrelang nicht arbeiten dürfen.
Peter Barth, Koordinator Helferkreis Hebertshausen: "Es ist Gift für die Integration; das heißt, wer nicht arbeiten darf, der wird nicht integriert. Deswegen müssten wir von Arbeitsverboten wegkommen."
Besonders in der Bäckerei zeigt sich der Erfolg der Integrationshelfer. Aliou Diallo kam vor zehn Jahren nach Deutschland und darf jetzt wenigstens eine Ausbildung zum Bäcker machen. 90 Menschen arbeiten hier – aus 14 Nationen. Seniorchef Thomas Polz und sein Sohn Simon nehmen Startschwierigkeiten in Kauf, wenn sie dafür geeignete Arbeitskräfte finden.
Simon Polz: "Am Anfang ist einfach – sind sprachliche Hürden – meistens. Aber im Handwerk da kann man ja mit den Augen lernen. Der ist eine Woche da und dann weiß er schon mal …"
Thomas Polz: "Brezen, drehen…"
Simon Polz: "Die meisten Handgriffe weiß er dann. Und so geht es dann Stück für Stück. Der wächst hier einfach mit hinein. Uns würde es gar nicht mehr geben, wenn wir nicht so viele Leute aus anderen Ländern beschäftigen würden."
Dass die Zugewanderten nur die deutschen Sozialkassen plündern wollten, stimme nicht, sagt Thomas Polz. Er ist froh.
Thomas Polz: "Weil uns die wirklich zur Seite stehen. Wenn jemand ausfällt oder was, ist keiner dabei, der sagt: ,Ich komme jetzt nicht, weil ich morgen frei hab‘, sondern den ruft man an und dann ist der … steht der um eins auf der Matte."
Simon Polz: "Ja."
Aliou Diallo macht den Job, den viele hierzulande wegen der nächtlichen Arbeitszeiten gar nicht mehr machen wollen. Für ihn ist das kein Problem. Er hat früher als Fischer gearbeitet.
Aliou Diallo, Geflüchteter: "Für mich ist es nicht schwierig, weil in Afrika ich hab, meine Arbeit ist immer in der Nacht gearbeitet. Aber meine Arbeit in Afrika oft – das ist ganz, ganz schwer – anders, wie diese Arbeit. Ich kann diese machen, immer, ohne Problem."
Als Arbeiter auf dem örtlichen Bauhof, beim Landwirt, beim Autolackierer – an vielen Stellen arbeiten Geflüchtete in Hebertshausen mit regulären Arbeitsverträgen. Für Bürgermeister Reischl ist es das A und O, um die Leute zu integrieren. Das Verbot, zu arbeiten, helfe da gar nicht.
Richard Reischl (CSU), Bürgermeister Hebertshausen: "Es gibt so viel Arbeit. Und es würde auch uns deutlich entlasten. Die Akzeptanz im Volk würde schlagartig größer werden, weil dieses Argument wegfällt, die liegen uns ja nur auf der Tasche."
Aber was ist mit Menschen wie Sane Sadibou? Er kommt aus dem Senegal, einem „sicheren Herkunftsland“. Er darf deshalb nicht arbeiten. Auch dafür finden sie in Hebertshausen Lösungen. Freitagabend – Übung der Freiwilligen Feuerwehr. Sane Sadibou ist mittendrin. Heute übt er mit den anderen die Rettung eines Schwerverletzten, der unter einem Lkw eingeklemmt ist. Wir wollen wissen, warum zur Feuerwehr?
Sane Sadibou, Geflüchteter: "Hause, die brennt, weil da Feuer oder so. Die Feuerwehr immer die gehen, die helfen Leute raus. Unfall – die helfen die Leute."
Sane Sadibou spricht noch immer schlecht Deutsch. Weil er aus einem sicheren Herkunftsland kommt und hier nur geduldet ist, hatte er bislang auch keinen Anspruch auf Sprachkurse. Die Verständigung sei anfangs schwierig gewesen, sagt der Feuerwehr-Kommandant; es werde aber besser.
Johannes Fallmann, Freiwillige Feuerwehr Hebertshausen: "Er ist auf jeden Fall kameradschaftlich, ist ein Teil der Mannschaft, er macht Spaß, er ist mit Freude dabei, das merkt man. Das merken auch andere, die machen dann auch wieder mehr mit, wenn man sieht, wie Leute begeistert dabei sind."
Weil er nicht regulär arbeiten darf, pflegt Sane Sadibou den Waldfriedhof im nahegelegenen Dachau. Fünf Tage pro Woche "Gemeinnützige Arbeit" – für 80 Cent pro Stunde. Auch das mit Unterstützung aus der Gemeinde. Die intensive Integrationsarbeit hier ist mühselig und zeitraubend, aber sie scheint sich auszuzahlen. Die Kriminalität im Ort sei sogar gesunken – trotz der vielen Geflüchteten, sagt der Bürgermeister. Und viele Menschen, die wir auf der Straße ansprechen, erzählen von durchweg guten Erfahrungen.
Mann auf der Straße: "Die Leute sind anständig, sie wissen, was sich gehört. Gehen auf der Straße, gehen auch mal auf die Seite, wenn einer kommt."
Frau auf der Straße: “Die Leute, die ich beim Einkaufen treffe, die sind höflich und freundlich. Und mich hat auch schon ein paar Mal – ich bin ja schon ne ältere Frau – Leute vorgelassen, weil ich nicht viel hatte."
2. Frau auf der Straße: "Die, die schon ganz lange da sind, die haben sich zum Teil ganz gut integriert. Die kennen wir auch schon, also die haben Fahrräder, die fahren mit den Fahrrädern, die halten bei uns."
Richard Reischl kann es nicht verstehen: Statt Zuwanderung konstruktiv zu nutzen, werde auch in seiner Partei – der CSU – Stimmung gegen Geflüchtete gemacht. Ebenso wie bei der Union im Bund.
Richard Reischl: "Mich stört, mit Angst Stimmen zu fangen. Fakt ist, Friedrich Merz gelingt es genauso wenig wie Markus Söder, die Zahlen der AfD zu reduzieren, sondern ganz im Gegenteil. Die Zahlen werden immer mehr – ja, bundesweit, genauso wie in Bayern."
Momentan werden der Gemeinde keine zusätzlichen Flüchtlinge zugewiesen. Und wenn sich das ändert? Richard Reischl fährt mit uns zur Turnhalle, um uns zu zeigen, dass er sie auf keinen Fall belegen würde.
Richard Reischl (CSU), Bürgermeister Hebertshausen: "Bevor ich die Turnhalle belegen würde für die Unterbringung von Asylbewerbern, würde ich hier – auf dieser Fläche – Container aufstellen lassen, weil wir wollen verhindern, dass die Unterbringung von Menschen auf der Flucht plötzlich Vorurteile schürt bezüglich, unserer Bevölkerung wird etwas weggenommen."
Bislang scheint sich Reischls Politik auszuzahlen. Die Landtagswahl in Bayern vergangenen Sonntag war auch für ihn ein Stimmungstest. Im Ort regiert die CSU immerhin noch mit absoluter Mehrheit. Die AfD spielt hier keine Rolle. Nach der Auszählung der Stimmen kommt die AfD in Hebertshausen nur auf rund zehn Prozent. Das schlechteste Ergebnis im Landkreis Dachau, deutlich unter dem Landesschnitt. Reischl sieht darin eine Bestätigung. Peter Barth, der Chef des Helferkreises, radelt weiterhin fast täglich den Hügel zur Flüchtlingsunterkunft hinauf. Aufhören, sagt er, wolle er erst dann, wenn er hier nicht mehr hochkomme.
Georg Restle: "Geflüchtete schnell in Arbeit zu bringen, damit sie nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Schon das würde einige Probleme beseitigen – und fast alle würden davon profitieren. Morgen trifft sich der Bundeskanzler mit Ministerpräsidenten – auch zu diesem Thema. Dass all die unsinnigen Arbeitsverbote dann auch tatsächlich fallen werden, damit ist allerdings kaum zu rechnen."
Stand: 10.10.2023, 18:00 Uhr
12139 Kommentare
Kommentar 12139: Anonym schreibt am 24.10.2023, 17:42 Uhr :
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Kommentar 12137: Anonym schreibt am 21.10.2023, 12:59 Uhr :
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Kommentar 12134: M. Weber schreibt am 19.10.2023, 22:29 Uhr :
Hallo Herr Restle, paar Worte zu Neukölln wären nett. Funktioniert die Bayrische Idylle und Vorzeigegemeinde dort auch? Wäre nett hierzu auch eine Meinung von ihnen zu haben. Gruss und Danke
Kommentar 12133: Martin Burholt schreibt am 17.10.2023, 15:45 Uhr :
Danke für diesen Bericht! Endlich zeigt mal jemand wie wir mit den Flüchtlingen umgehen sollten. Mein Respekt gilt vor allem dem Team vor Ort in Hebertshausen . Leute die sich ehrenamtlich einsetzen und den Menschen, die zu ihnen kommen, beim Start in ein (neues) Leben helfen. Dadurch entsteht eine Gewinn-Gewinn-Situation. Tolles Projekt!
Kommentar 12131: Anonym schreibt am 16.10.2023, 12:39 Uhr :
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Kommentar 12130: Holm schreibt am 14.10.2023, 18:11 Uhr :
Da gibt es sicherlich auch jede Menge Platz wenn demnächst ganz viele Flüchtlinge aus Gaza kommen.
Kommentar 12129: Wilfried Bersch schreibt am 13.10.2023, 21:01 Uhr :
Endlich mal ein positiver und objektiver Bericht. Ich war 4 Jahre in einem Helferkreis und kann die im Bericht gezeigten positiven Charaktereigenschaften von Migranten nur bestätigen. Sie sind fast ausnahmslos mutig und wollen nur hier arbeiten und Geld verdienen. Dass sie nur Sozialleistungen kassieren wollen, sind nur Klischees, die in die Welt gesetzt werden, um negative Stimmung zu machen. Typische Methode der Parteien, um Menschen vor der Wahl Angst zu machen. Mein Facit: Gebt den Menschen gleich eine Aufenthaltserlaubnis (zuerst 1 Jahr), dann können sie sofort arbeiten. In unserem Land werden im Moment so viele Arbeitskräfte gebraucht (Pflegekräfte, Gastronomie, usw.). Dann spart man die Kosten für die Rückführungsflüge und die Schmiergelder in MRD-Höhe an Tunesien und Marokko. Dafür könnte man allen eine fundierte Ausbildung finanzieren. Packen wir es an, anstatt nur zu nörgeln.
Kommentar 12127: Mever Hans schreibt am 13.10.2023, 17:33 Uhr :
Was doch ein wenig verwundert das eine Partei mit 10,46 % laut Meinung der ÖR „absolut“ keine Rolle mehr in der Politik spielt. Zwei der Ampelparteien lagen deutlich unter 10%. Aber wenn es die ÖR sagen, wird es wohl stimmen.
Kommentar 12125: Anonym schreibt am 13.10.2023, 17:26 Uhr :
Der Film sollte als Pflichtprogramm in allen Schulen und politischen Gremien gezeigt werden.
Kommentar 12122: Heidi Heller schreibt am 13.10.2023, 08:36 Uhr :
Diesen Bericht sollte man allen Bürgermeister in Deutschland zur Verfügung stellen als Handlungsleitfaden im Umgang mit Flüchtlingen. Mit viel Herz und Mut hat der Bürgermeister unbeirrbar sein Ziel verfolgt: die Vorurteile in der Gemeinde zu beenden. Danke dafür.
Antwort von Anonym , geschrieben am 16.10.2023, 12:40 Uhr :
Vorurteile gibt es hier genauso, auch nicht völlig grundlos. Wurde im Bericht nur ignoriert. Nicht alles glauben, was die Medien zeigen.
Kommentar 12121: Smilla Heller schreibt am 13.10.2023, 00:38 Uhr :
Es freut mich wirklich, dass die Integration in dem gezeigten Ort gut läuft! Und dass alle mitmachen und man die jungen Männer arbeiten lässt! Davon profitieren wir natürlich als Gesellschaft auch. Aber echte Integration erschöpft sich eben nicht mit einer Arbeitsstelle! Wie reagieren z.B. die mehrheitlich muslimischen Migranten z.B auf offen gelebte Homosexualität? Wie kommen sie mit der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft klar? Alle diese Aspekte gehören zu echter Integration dazu. Und hier gibt es in der Realität nun mal viele Probleme. Und die nehmen die Menschen, die Wähler, wahr. Sie bekommen auch mit, wenn die Probleme der Heimatländer der Zuwanderer immer mehr in unsere Gesellschaft getragen werden. Und das bedroht unsere Gesellschaft durchaus. Ich habe übriges seit 2015 selbst syrische Flüchtlinge betreut, mit zwei Familien bin ich heute noch befreundet. Und ich bin kein AfD-Wähler.