Migrationsdebatte: Notlage oder Hysterie? Monitor 19.09.2024 09:40 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lara Straatmann, Herbert Kordes

MONITOR vom 19.09.2024

Migrationsdebatte: Notlage oder Hysterie?

Als Reaktion auf die Migrationsdebatte hat die Bundesregierung die Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt. Die Wirksamkeit dieser Politik ist genauso umstritten wie ihre Notwendigkeit. MONITOR-Reporter*innen waren an der Grenze zu Österreich unterwegs, wo 2015 Zehntausende ins Land kamen. Wie lebt es sich heute mit den Grenzkontrollen – und vor allem mit der Migration?

Von Lara Straatmann, Herbert Kordes

Georg Restle: "Ja, das Thema Migration als großer Wahlkampfschlager: Das gilt nicht nur für CDU, CSU und AfD. Auch die Ampelparteien sind längst Getriebene einer Debatte, die nur noch eine Richtung zu kennen scheint: Grenzen dicht, möglichst niemand mehr rein. Humanität? Mitgefühl? Das Grundrecht auf Asyl? Alles Begriffe, die kaum noch zu hören sind in einer immer aufgedrehteren Diskussion, die den Flüchtling fast nur noch als Feind zu kennen scheint, weil wir angeblich alle überfordert sind. Nur, wovon eigentlich? Das wollten wir mal genauer wissen und sind an einen Ort gefahren, der wie kaum ein anderer weiß, was Überforderung heißt. Dieses Bild hier hinter mir stammt aus dem Jahr 2015, aufgenommen wurde es in Simbach am Inn, an der Grenze zu Österreich. Dort kamen 2015 so viele Geflüchtete an, wie an kaum einem anderen Ort in Deutschland. Was uns interessiert hat, was denken die Menschen dort über die Debatte heute? Wovor haben sie Angst? Und was hat sich dort eigentlich geändert seit 2015? Lara Straatmann und Herbert Kordes."

Der Verkehr rollt – trotz angekündigter, verschärfter Kontrollen. An der Grenze zu Österreich in Niederbayern; Bundespolizisten durchsuchen Lieferwagen nach Migranten und Flüchtlingen. Kontrolliert wird hier bereits seit Jahren. Jetzt soll noch genauer hingeschaut werden – so will es die Bundesregierung. Doch viele Autos werden auch heute direkt durchgewinkt. Wer die Grenze von Österreich aus überquert, kommt nach Simbach am Inn, 10.000 Einwohner hat die Kleinstadt. Was halten sie hier von den verstärkten Grenzkontrollen?

Ehepaar: "Wir empfinden es nicht als Einschränkung, darum kann ich es jetzt auch nicht negativ beurteilen."

Mann: "Ja, auf alle Fälle richtig!" – "Warum?" – "Ja einfach, wenn man da schaut, was da alles rüberkommt. Wenn man da schaut an der alten Grenze in Simbach, da sind schon viele ausländische Kennzeichen dabei – viele."

Zu viele Ausländer? Wir treffen den zweiten Bürgermeister und örtlichen CSU-Chef von Simbach, Bernhard Großwieser. Seit 20 Jahren ist er in der Kommunalpolitik für die CSU aktiv. Für ihn führt die Debatte über Grenzkontrollen und Zurückweisungen in die falsche Richtung.

Bernhard Großwieser (CDU), Zweiter Bürgermeister, Simbach am Inn: "Ich denke, es ist auch sowas zu fordern, und auch nur ansatzweise zu meinen, das umzusetzen, ist eigentlich ein Scheitern mit Ansage, weil es nicht funktionieren wird. Und ich frage mich natürlich dann, wie soll das weitergehen, was fordert man dann? Will man dann massive Grenzeinrichtungen haben, Zäune oder sonst irgendwas, man liest ja so einen Unsinn zum Teil in den Medien. Wie will man das abkapseln?"

Abkapseln; das funktioniert schon in Simbach nicht. Wer will, kommt hier unkontrolliert über einen zweiten Grenzübergang – die Innbrücke. Ein einsamer Polizist im Regen (…). Auf der anderen Seite der Innbrücke liegt das österreichische Braunau – die Brücke hat eine besondere Vergangenheit. Vor neun Jahren sah es hier ganz anders aus. An kaum einem Ort kamen damals mehr Flüchtlinge über die Grenze nach Deutschland, manchmal Tausende täglich. Stundenlang harrten sie auf der Brücke aus. Eine dramatische Situation für Geflüchtete und Behörden – Kontrollverlust. Und heute? Kaum Betrieb auf der Brücke. 2024 sei nicht 2015, sagt der Bürgermeister.

Bernhard Großwieser, Bürgermeister: "Ich denke, dass wir nicht wirklich einen Kontrollverlust haben. Wir gehen ja heute davon aus, wenn man die Zahl hochrechnet für das ganze Jahr, dann sind wir irgendwo bei 250.000 Asylbewerbern. Letztlich sind wir eigentlich in dem Bereich, den man selber mal als akzeptable Obergrenze ausgerufen hat. Ja, ähm, ich sehe jetzt da die Notwendigkeit nicht, in Katastrophenstimmung zu verfallen oder in Panik zu verfallen, auch in der Politik."

Alles im Griff also? Wie sieht es heute in den Unterkünften aus? In diesem Holzhaus leben seit 2016 Geflüchtete, damals vor allem Syrer, heute Menschen aus der Ukraine. Die Kapazität musste nie erhöht werden. In der Nähe des Bahnhofs leben nochmal gut hundert Menschen, vor allem aus Syrien. Mehr als 20 Betten sind frei, von Notlage spricht hier niemand. Gelassene Stimmung auch beim Tag der offenen Tür des örtlichen Sportvereins. Wo heute Kinder in der Sporthalle herumtoben, standen im September 2015 dutzende Feldbetten. Ausnahmezustand: Weil die Turnhalle sehr voll war, mussten viele Flüchtlinge auf der Wiese campen.

Stephan Gaisbauer, Vorsitzender TSV Simbach am Inn: "Die ganze Halle war voller Feldbetten. Die Leute sind auf den Betten, neben den Betten, sonst irgendwo gelegen. Man hat versucht, eine Infrastruktur zu machen, im Sinne von, dass wir halt … dass die Getränke geliefert wurden, dass da was zum Essen, Wurstsemmel oder weiß ich nicht was."

Lange her, der Ausnahmezustand vorbei. Wie ist die Situation heute?

Frau: "Ich sehe die Zuwanderer nicht als Belastung. Kommt bei mir nicht so an und ich habe jetzt auch nicht den Eindruck, dass unsere Stadt belastet ist."

Mann: "Ich merke halt schon, dass es sehr viele andere Kräfte gibt, die sehr oberflächlich das ganze Thema betrachten. Aber im Grundsatz kann ich jetzt in Simbach nichts Schlimmes bemerken."

Mann: "Ich arbeite in der Pflege in leitender Position. Hier in der Nähe leite ich drei Pflegeeinrichtungen. Bei uns arbeiten Menschen mittlerweile auch mit Flüchtlingshintergrund. Das sind Menschen, die wirklich vollständig integriert sind, die letztendlich gar nicht mehr wegzudenken wären."

Menschen wie Ali Hossaini.

Ali Hossaini: "Wie geht es Ihnen heute?"

Vor zehn Jahren floh er als Minderjähriger allein aus Afghanistan. Heute hat er eine Vollzeitstelle im Betreuten Wohnen in Simbach.

Alte Dame: "Der Ali ist einmalig, der heitert uns alle auf. Er ist wirklich wunderbar in seiner ganzen Art."

Ali Hossaini: "Ich bin so froh, dass ich Arbeit habe. Ich bin selbstständig, ich bekomme kein Geld vom Staat. Natürlich bin ich froh, mit meiner Arbeit den Leuten zu helfen und da sehe ich, ich liebe meinen Job."

Auch Ali verfolgt die Nachrichten und fürchtet, dass die Stimmung generell gegen Flüchtlinge umschlagen könnte.

Ali Hossaini: "Bisschen schon – ja – ich mache mir Sorgen wegen all dem."

Reporter: "Was macht Ihnen da Sorgen?"

Ali Hossaini: "So einfach Angst, so. Das Problem ist, wenn etwas Schlimmes (…) passiert mit Migranten – die Politiker in Deutschland schmeißen alle in eine Schüssel."

Pauschale Urteile. Aber wie sieht es beim Thema Wohnraum aus in Simbach? Nehmen Geflüchtete hier anderen Mietern günstige Wohnungen weg?

Bernhard Großwieser (CDU), Zweiter Bürgermeister, Simbach am Inn: "Wir fahren jetzt in eine Siedlung älterer Mehrfamilienhäuser, die so aus den 50er Jahren etwa stammen, die etwas günstigeren Wohnraum bieten."

Es gebe durchaus einen Verdrängungswettbewerb, erklärt uns der CSU-Ortsvorsitzende. Die Stadt wachse schließlich – um zehn Prozent in den letzten fünf Jahren. Geflüchtete seien hier aber nicht das eigentliche Problem.

Bernhard Großwieser (CDU), Zweiter Bürgermeister, Simbach am Inn: "Dieses Bevölkerungswachstum, das wir hier in Simbach haben, sind ja nicht in erster Linie Geflüchtete, sondern das sind in erster Linie andere Bürger, vielfach auch Deutsche, auch aus dem europäischen Nachbarland, aus Österreich. Ich denke nicht, dass das Problem, bezahlbaren Wohnraum zu finden, sich deutlich verringern würde, wenn jetzt Geflüchtete nicht in der Stadt wären."

Und trotzdem, auch in Simbach wächst die Angst vor zu vielen Fremden.

Mann: "Heutzutage ist es schon so, ja, wenn man auch gewisse Menschengruppierungen sieht, da wähle ich lieber einen anderen Weg oder gehe jetzt mal nicht da durch die enge Gasse, weil ich ja nicht weiß, wie es ausgeht."

2. Mann: "In der Nacht, wenn es dunkel ist – da, oder am Bahnhof oben, eine Frau geht da nicht mehr durch. Die haben Angst."

Begründete Ängste? 65 nichtdeutsche Verdächtige von Gewalttaten hat die Polizei 2023 in Simbach ermittelt. Der stellvertretende Bürgermeister will die Probleme nicht verschweigen, aber er warnt vor zu einfachen Lösungen.

Bernhard Großwieser (CDU), Zweiter Bürgermeister, Simbach am Inn: "Es ist klar, dass wir rund um die Migrationsbewegung Probleme haben. Wir haben sicher soziale Probleme, wir haben allgemein soziale Probleme, das ist natürlich alles mühsam und es lässt sich natürlich auch am Stammtisch nicht so gut verkaufen mit einer Parole, aber das wäre nachhaltiger hier ranzugehen als jetzt einfach nur zu sagen: ,Grenzen dicht‘. Das löst das Problem nicht."

Hier an der Grenze zählt das erstmal nichts. Die Bundespolizisten suchen weiter nach Migranten und Flüchtlingen – im ersten Halbjahr 2024 haben sie an der gesamten österreichischen Grenze gut 4.000 Menschen zurückgewiesen.

Startseite Monitor

Kommentare zum Thema

  • Albers 21.09.2024, 14:46 Uhr

    Die Komunen die noch irreguläre Einwanderer aufnehmen und versorgen wollen können sich ja melden dann bekommen sie was sie wollen und das Thema ist schnell durch. Und dann ? Wenn niemand mehr aufnehmen will bzw. kann ? Was dann ?

  • First Brigitta 21.09.2024, 11:07 Uhr

    Die Ampel hat das Migrationsproblem nicht im Griff. Paradoxer geht es nicht. Man schafft einen weiteren Bürokratieteufel. Es wird dabei nichts gelöst, nur verschlimmert. „Alle die an unseren Grenzen einen Asylantrag stellen, sollen daraufhin überprüft werden, ob ein anderer EU-Mitgliedstaat für das Verfahren zuständig wäre“? Zitat. Es folgen Befragungen, Anhörungen, Datensammlung, Datenübermittlung. Dabei sind sehr viele Asylbewerber in der dafür nötigen Datenbank gar nicht registriert“. Die Union wird kritisiert, weil sie Einwände macht? Was würde die SPD, FPD die Grünen machen, wenn sie in der Opposition wären? Sie streiten schon ewig und kommen selbst miteinander nicht zurecht. Damit dreht sich der Politikwurm ewig dahin. Die Grünen sind oft der Hemmschuh für Lösungen, auch beim Migrations- Problem. Wie ein Elefant im Porzellanladen zeigt sich die Ampel. Dazu müsste jede Partei bereit sein, dass das Asylgesetz der jetzigen Zeit angepasst wird, sonst ändert sich nie was.

  • Anonym 20.09.2024, 13:35 Uhr

    1000 Hungertote pro Stunde außerhalb Europas sind schon eine Notlage. Aber unsere Mitbürger, die Milliardäre sind, haben alles im Griff. Also kein Grund zur Hysterie. Hauptsache, die Ausländer bleiben uns als Wahlkampfthema Nummer Eins erhalten.