MONITOR vom 06.10.2022

"Sozialtourismus": Friedrich Merz und die Kreml-Propaganda

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Bericht: Lara Straatmann, Herbert Kordes

"Sozialtourismus": Friedrich Merz und die Kreml-Propaganda

Monitor 06.10.2022 09:32 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lara Straatmann, Herbert Kordes

Georg Restle: "Ein tiefer Graben mitten durch die Gesellschaft, der jetzt noch weiter zu wachsen droht. Politischer Sprengstoff auch für die Demokratie im Land. Aber anstatt hier gegenzusteuern, wird lieber weiter gezündelt; zum Beispiel vom Vorsitzenden der größten Oppositionspartei im Land. Das böse Wort vom "Sozialtourismus" hat CDU-Chef Friedrich Merz zwar mittlerweile wieder einkassiert; in der Sache aber erhebt er seinen Vorwurf weiter, dass Flüchtlinge aus der Ukraine oder anderen Staaten massenweise in die deutschen Sozialsysteme flüchten würden. Kremlnahe Medien in Deutschland und Russland haben die Kampagne von Merz begeistert aufgenommen, deutsche Rechtsextremisten jubilierten. Nur für all die Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, war das böse Wort ein tiefer Schlag in die Magengrube. Und ist es immer noch, denn auch das gehört zu den Regeln solcher gezielten Tabubrüche. Einmal in der Welt, führen sie ein Eigenleben. Lara Straatmann und Herbert Kordes."

Jeden Tag packen sie Hilfsgüter. Medikamente, medizinische Ausrüstung – ehrenamtliche Helfer beim Verein Blau-Gelbes Kreuz in Köln. Viele sind selbst vor dem Ukraine-Krieg geflüchtet. Hier haben sie das Gefühl, wenigstens etwas tun zu können. Wir zeigen und übersetzen Ihnen die Aussage von Friedrich Merz zum angeblichen "Sozialtourismus" ukrainischer Flüchtlinge.

Friedirch Merz: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine."

Natalia (Übersetzung Monitor): "Das empfinde ich als beleidigend. Denn die Menschen, die hierhergekommen sind, hatten weder den Tourismus als Ziel noch die Auswanderung. Sie waren gezwungen, vor Gefahren zu fliehen."

Olena (Übersetzung Monitor): "Es ist nicht wahr. Wir kommen nicht wegen des Geldes. Viele in der Ukraine verdienen mehr, als sie hier vom Amt bekommen. Wie kann man dann behaupten, wir kämen nur wegen des Geldes?"

Karina ist im September in die Ukraine und wieder zurück gereist. Die 32-jährige Mutter wollte ihren Mann nach sechs Monaten endlich wiedersehen.

Karina (Übersetzung Monitor): "Es war sehr schwierig für uns, wieder hierher zurückzukehren. Aber da dort ständig Sirenen heulen und Bomben einschlagen, sind wir zurückgekommen. Um jeden Preis wollte ich meinen Mann – und das Kind seinen Vater – sehen. "

Friedrich Merz entschuldigte sich zwar für seine Wortwahl, in der Sache aber bleibt er dabei. Und legt weiterhin nahe, auch ukrainische Flüchtlinge würden vermehrt nach Deutschland reisen, um hier Hartz IV zu kassieren.

Friedrich Merz (CDU), CDU-Vorsitzender, 27.09.2022: "Wenn ich jemanden verletzt habe, dann bedauere ich das sehr. Ich bleibe allerdings dabei, darauf hinzuweisen, dass wir ein Problem haben. Und dieses Problem wird nicht kleiner, dieses Problem wird größer."

Merz’ halbgare Entschuldigung sei reines Kalkül, erklärt der Politikwissenschaftler Johannes Hillje.

Johannes Hillje, Politikberater: "Also er hat gesagt, es gibt ja trotzdem dieses Problem, auch wenn die Wortwahl vielleicht unglücklich war oder falsch war. Das heißt, er hat seine Entschuldigung letztendlich dafür genutzt, um einen Diskurs weiterzuentwickeln, das ist eine klassische rechtspopulistische Methode. Am Ende bleibt von vor allem ein Zusammenhang hängen, der Zusammenhang zwischen ukrainischen Geflüchteten und Sozialmissbrauch."

Ein angeblicher 'Sozialtourismus' ukrainischer Flüchtlinge – doch woher stammt die Behauptung? Wer hat sie gestreut? Der Versuch einer Rekonstruktion: Am 10. September taucht im Messenger-Dienst Telegram unter der Überschrift "Organisierter Betrug" folgende anonyme Sprachnachricht auf:

Zitat: "Die Flixbusse sind auf über zwei Wochen im Voraus bis auf den letzten Platz ausgebucht, weil die Ukrainer mit dem Flixbus nach Deutschland pendeln, Hartz IV beziehen und dann mit dem Flixbus wieder zurückfahren."

Schnell verbreitet sich das Gerücht von den angeblich betrügerischen, ukrainischen Flüchtlingen weiter. Allein in den ersten Tagen gibt es Zehntausende Abrufe, viele Kommentare:

Zitat: "Plünderung des »Sozial«systems mit Ansage!"

heißt es. Oder:

Zitat: "Ganz umsonst ist der Service nicht, auch das bezahlt der deutsche Steuerzahler."

Richtig Fahrt nimmt die Kampagne auf, als reichweitenstarke Kanäle einsteigen. Die putintreue Influencerin Alina Lipp etwa, die auf ihrem Telegram-Kanal gleich von einem Massenphänomen spricht.

Zitat: "Ukrainer sollen massenweise per Flixbus nach Deutschland fahren, Sozialhilfe kassieren und wieder zurück in die Ukraine fahren."

Und auch ein verschwörungsideologischer Online-TV-Sender aus Österreich verbreitet das Gerücht. Der Sender propagiert seit Monaten prorussische Nachrichten:

Auf 1 Moderatorin: "Denn wenn es um die Ukraine-Migranten geht, so werden mehr noch als bei den Merkel-Willkommens-Gästen seit 2015 alle Augen zugedrückt."

Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits das Unternehmen Flixbus als auch die Bundesagentur für Arbeit die Gerüchte klar zurückgewiesen. Auch auf eine aktuelle MONITOR-Anfrage schreibt die Bundesagentur jetzt, sie habe

Zitat: "... keine Anhaltspunkte über einen 'Sozialtourismus' nach Deutschland."

Die Vorwürfe also reine Behauptungen ohne faktische Grundlage. Aber Fakten spielen bei solchen Kampagnen ohnehin keine Rolle, zeigt Josef Holnburgers Auswertung. Er leitet ein Institut, das Desinformationen analysiert.

Josef Holnburger, Center for Monitoring, Analyse und Strategie: "Das ist tatsächlich ein recht übliches Muster, dass es eine kleine Sprachnachricht ist, bei der groß emotionalisiert irgendwas berichtet wird. Es wurde dann aber mit der Zeit von reichweitenstärkeren – vor allem prorussischen Kanälen – auf Telegram geteilt, wurde zehntausendfach abgerufen. Entsprechend haben die eine große Rolle, nämlich bei der Verbreitung solcher Desinformationen."

Auch rechtsextreme Akteure verbreiten die Gerüchte über den vermeintlichen Sozialbetrug. Etwa Martin Sellner, Wortführer der Neuen Rechten und Frontmann der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich. Er fragt bei Telegram:

Zitat: "Fahren viele Ukrainer wieder nach Hause oder gibt es hier einen 'Sozialleistungs-Tourismus'?"

'Sozialleistungs-Tourismus' – ein bekannter, rechter Kampfbegriff. Aus ihm wird knapp zwei Wochen später beim CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz 'Sozialtourismus' ukrainischer Flüchtlinge. Der Oppositionsführer im Bundestag verhilft der prorussischen und rechtsextremen Kampagne damit endgültig zum Erfolg. Die Debatte ist plötzlich in allen Zeitungen. Was aber ist an den Vorwürfen dran? Dass es einzelne Fälle von Sozialleistungs-Missbrauch gebe, betätigt zwar das Bundesinnenministerium, aber das sei keinesfalls auffällig häufig. Wir fragen alle 16 Bundesländer an, 13 antworten. Der Tenor, eindeutig. Keines der Länder hat Hinweise auf einen verbreiteten Sozialmissbrauch durch Pendelverkehr zwischen Deutschland und der Ukraine. Mecklenburg-Vorpommern schreibt wie viele andere, es lägen

Zitat: "…keine belastbaren Erkenntnisse"

vor. Wir wollen vom CDU-Vorsitzenden wissen, wie er zu seinen Behauptungen kommt? Auf welche Zahlen stützt er sich? Unsere Interviewanfrage bleibt unbeantwortet. Auch schriftlich reagiert er auf keine unserer Fragen.

Johannes Hillje: "Wenn Friedrich Merz Informationen ungeprüft weitergibt und sich zu eigen macht in der öffentlichen Debatte, dann nimmt er in Kauf, dass hier Lügen und Unwahrheiten in der Debatte verbreitet werden und wir im Grunde nicht mehr Politik auf Basis von Fakten machen, sondern auf Basis von Gerüchten."

Und die passen in die politische Agenda des Kreml. Die Putin-Propaganda macht sich die Debatte zunutze. Der Tenor in den staatlichen und kremlnahen Medien, endlich sagt es ein führender deutscher Politiker.

Zitat RIA Novosti: "In Deutschland empört man sich über die ukrainischen Flüchtlinge.”

Zitat RIAFAN: "Deutscher Politiker Merz musste sich für den Begriff 'Sozialtourismus' über Ukrainer rechtfertigen."

Zitat TSARGRAD TV: "Friedrich Merz – Erst hat der deutsche Politiker geschimpft, dann wurde er gezwungen, es zu bereuen."

Johannes Hillje: "Russische Medien haben Friedrich Merz am Ende als Zeuge präsentiert für zwei Desinformations-Narrative des Kremls. Und zwar erstens für die Behauptung, dass ukrainische Geflüchtete Betrüger seien, und zweitens, dass in Deutschland freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich wäre. Und damit ist Friedrich Merz – ob gewollt oder nicht – letztendlich im Dienste russischer Propaganda gelandet."

Der angebliche Sozialtourismus durch ukrainische Geflüchtete – ein Paradebeispiel wie Desinformation funktioniert. Dank der Mithilfe des CDU-Vorsitzenden, ganz im Sinne der extremen Rechten und des Kreml.

Georg Restle: "Am Sonntag sind Wahlen in Niedersachsen. Mal schauen, wie viele Wähler und Wählerinnen vom rechten Rand Friedrich Merz mit seiner Kampagne für die CDU gewinnen kann. Denn darum geht es ja offensichtlich; und weniger um die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine."

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Stand: 06.10.2022, 22:15 Uhr

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50 Kommentare

  • 50 Anonym 10.10.2022, 17:51 Uhr

    IWF und Weltbank warnen wie viele Banken und Ökonomen jetzt auch vor einer kommenden globalen Rezession , während die Ampel für die Krise in D nach wie vor realitätsverweigernd den Ukrainekrieg verantwortlich macht ! Das hat kaum was mit dem regional begrenzten Russenkrieg, sondern mit dem zu Ende gehenden Konjunkturzyklus nach einem langen Konjunkturaufschwung von 12 Jahren zu tun, der immer wieder von den Notenbanken durch Gelddrucken und Nullzins exzessiv befeuert und aufrecht gehalten wurde. Vor diesem düsteren Hintergrund Massenmigration weiter zu betreiben, ist geradezu töricht und weist nur die Inkompetenz in der Ampel nach ! Man braucht nur mal die Lebensläufe vieler sog. Spitzenpolitiker anzuschauen. Da weiß man, welche Luschen D bereits seit Dekaden regieren und das auch noch unter Einsatz vieler zig. Millionen Euros teurer externer Berater, einer historisch höchst aufgeblasenen Ministerialbürokratie und den weltweit teiuersten dt. Parlamenten.

  • 49 Markus 09.10.2022, 21:47 Uhr

    Diese Sendung ist ein Witz. Johannes Hillje (Wahlkampfhelfer der Grünen) kommentiert die Aussagen von F. Merz. Unneutraler geht es nicht mehr.

  • 48 Anonym 09.10.2022, 15:09 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 46 Heide Böhm 09.10.2022, 10:23 Uhr

    Ich sehe am 9.10. bei Flixbus, dass 39 Fahrten von Berlin nach Kiew ausgebucht sind, auch weitere Fahrten nach Mitternacht sind ausgebucht. Es ist offensichtlich ein gutes Geschäft, dass so viele Busse nach Kiew fahren. Vielleicht könnte Monitor doch mal dazu Stellung nehmen!

  • 43 Andres 07.10.2022, 20:37 Uhr

    Ich habe eben selbst bei Flixbus Hannover Fahrten nach Kiew gesucht. Alles ausgebucht. Aber man kann ja nicht gegen die Regierung reden, man braucht ja die Zwangsgebühren.

  • 41 Das sind die Fakten ! 07.10.2022, 16:08 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 40 Carsten 07.10.2022, 15:51 Uhr

    Wenn man so schlecht recherchiert und lügen der Regierungen weiter verbreitet, sollte man sich fragen lassen wenn kauft euch. Zum Sozialtourismus kann man selbst jeden Tag nachgucken. Deutsche Presse ist ja gerne freundlich zu rot-grünen Politikern.

  • 39 Maria 07.10.2022, 09:54 Uhr

    Wie Monitor selbst erfahren hat fahren ukrainische Frauen zu ihren Ehemännern und Freunden in die Ukraine ? Wie Landräte , Kommunalpolitiker in persönlichen Gesprächen erfahren haben fahren viele auch zu ihren Eltern oder um zu sehen ob die Wohnung oder das Haus noch heil sind ! Andere fahren dort hin um ihre Eltern und Verwandte nach Deutschland zu holen . Kann man verstehen , ist aber nicht erlaubt weil Hartz 4 Empfänger ortsgebunden sind und ohne Erlaubnis des AA diesen nicht verlassen dürfen ! Das AA prüft auch nicht den Aufenthaltsort . Zitat SWR Städte und Gemeinden beklagen "Sozialtourismus" Im Zollernalbkreis und anderen Landkreisen fällt auf, dass immer mehr Flüchtlinge mit ukrainischem Pass nach Deutschland kommen, obwohl die Menschen teilweise schon in anderen EU-Ländern in Sicherheit gewesen wären. Grund sollen die Sozialleistungen sein .Das Leute nur wegen dieser erhöhten Leistungsanreize ihr bisheriges Zufluchtsland wechseln und nach Deutschland kommen !

  • 38 Christine Gerhardt-Roters 07.10.2022, 08:41 Uhr

    Ich habe mir die Fahrten mit dem Flixbus nach Deutschland und in die Ukraine angeguckt, dort sind fast alle Fahrten ausgebucht, sind das Deutsche , die in der Ukraine Urlaub machen? Oder sind es doch Geflüchtete?, die sich hier verwöhnen lassen. Schade, dass Herr Merz sein Wort Sozialtourismus weiter erläutert.

  • 37 Hartmut Meisel 07.10.2022, 06:16 Uhr

    Dieser Bericht war eine ziemliche Lachnummer.Die Flixbus-Karawane Richtung Kiew und vice versa ist ja öffentlich recherchierbar und keine Erfindung- 30 bis 40 Busse täglich! Aber Monitor will den Zuschauer glauben machen,das seien alles russische Verschwörungen! Herr Restle interessiert sich aber offenbar nicht für aufklärerischen Journalismus,sondern nur für die richtige Haltung.Mich interessiert Ihre Haltung nicht,denken kann ich selbst und benötige dafür keine öffentlich-rechtlichen Helfer!

  • 36 John Harder 06.10.2022, 23:10 Uhr

    Wo hin sind denn die deutschen Frauen und Kinder geflüchtet als man ihre Städte bombardierten und in Schutt und Asche legte?

    • John 07.10.2022, 03:04 Uhr

      Du weißt aber schon, was die Männer dieser "deutschen Frauen und Kinder" vorher in Europa so angestellt haben, weshalb Letztere verständlicherweise auf nicht ganz so viel Mitleid aus den Nachbarländer erwarten durften, nachdem sich das Blatt gewendet hatte?

    • Jonas Mauser 07.10.2022, 17:36 Uhr

      Kinderlandverschickung, man hat Kinder im eigenen Land untergebracht. Meine Mutter war mit ihren Schwestern im Sudetenland; aus damaliger Sicht gehörte das Sudetenland zum Deutschen Reich. Die Frauen sind geblieben, haben die Arbeit der Männer gemacht und mussten gelegentlich in den Bunker. Bei der Luftschlacht um England hatten die Briten ein ähnliches Problem und ein ähnliches Schutzprogramm im eigenen Land aber da weiß ich nicht unter welchen Begriff das lief.