MONITOR vom 28.10.2021

Lieferdienste: Millionenrendite auf Kosten der Fahrer:innen?

Bericht: Andreas Maus, Till Uebelacker, Simon Zamora Martin

Lieferdienste: Millionenrendite auf Kosten der Fahrer:innen? Monitor 28.10.2021 08:31 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Andreas Maus, Till Uebelacker, Simon Zamora Martin

Kommentare zum Thema, weiterführende Links und der Beitragstext als PDF

Georg Restle: „Solche Radfahrer kennen wir alle. Ständig im Stress, immer rasend unterwegs in den Straßen unserer Städte. Ein ziemlich waghalsiger Job, nur damit wir möglichst schnell all das geliefert bekommen, was wir zu faul sind, selber einzukaufen – im Supermarkt oder in der Pizzeria, Was viele nicht wissen: Die radelnden Lieferdienste sind ein Milliardengeschäft für Investoren; die Branche boomt wie kaum eine andere – auch wegen Corona. Die Rechnung ist simpel: Möglichst hohe Marktanteile durch maximale Ausbeutung. Gerechte Löhne? Mitbestimmung? Das sind dann oft Fremdwörter in einer Branche, die deutsches Arbeitsrecht offenbar als Störfaktor empfindet. Dagegen wollte dieser Mann eigentlich etwas unternehmen. Hubertus Heil, der bisherige und womöglich auch künftige Bundesarbeitsminister. Was daraus wurde? Andreas Maus, Till Uebelacker und Simon Zamora Martin.“

Sie wirken wie moderne Cowboys der Großstadt. Werden „Rider“ genannt. Kuriere, die neben Lebensmitteln auch ein hippes Lebensgefühl liefern. Digitaler Lifestyle für den urbanen Menschen. Ein Werbevideo des Lieferdienstes „Gorillas“. Die Kuriere stehen dort angeblich im Zentrum: „Alles für die Rider“; heißt es auf der Website, „gute Bezahlung“, Liebe zum Fahrrad.

Er arbeitet bei Gorillas. Aber nicht aus Liebe zum Rad. Für Jasa ist es ein Job. Ein harter Job. Er fährt gegen die Uhr. Gorillas verspricht: In 10 Minuten ist die Ware beim Kunden. Für Jasa heißt das: Stress!

Jasa: „Sich zu beeilen... nur gefährliche Situationen.“

Jasa bekommt 10,50 Euro die Stunde. Plus Trinkgeld. Treppen hoch, Treppen runter. Und weiter geht’s. Alles gesteuert durch eine App auf dem Handy. Plattformökonomie heißt das.

Gorillas ist ein Startup, das wie viele andere Jagd auf Marktanteile macht. Flink, Foodpanda, Lieferando – alle wollen durchstarten. Die Branche der Lieferdienste boomt, angeheizt durch Corona. Es ist ein Geschäftsmodell, in das Investoren aus aller Welt Milliarden stecken. Auch bei Gorillas – vor einem Jahr in Berlin gegründet. Die Zentrale ist unscheinbar. Doch kaum ein Unternehmen ist so schnell gewachsen. Heute ist Gorillas schon 2,5 Milliarden Euro wert. Eine Wette auf künftige Gewinne. Viel Geld fließt in aufwändige Imagekampagnen. Die Fahrer haben von dem Hype eher wenig. Wir treffen drei von ihnen. Zeynep, Duygu und Fernando leben noch nicht lange in Deutschland. Sie suchten dringend einen Job, sprechen noch kaum Deutsch, wie die meisten hier. Sie halten den Lohn für zu niedrig, berichten uns von kaputten Rädern und gesundheitlichen Risiken.

Fernando (Übersetzung Monitor): „Zweimal habe ich mich verletzt in den letzten acht Monaten, seit ich bei Gorillas arbeite. Das alles weil du manchmal 15, 20 Kilos schleppen musst und das bis in den fünften Stock.“

Duygu (Übersetzung Monitor): „Und dazu der Slogan von Gorillas, dass wir in 10 Minuten liefern müssen. Und wenn man das für drei Adressen machen muss, und sich beeilen muss, dann sind Unfälle vorprogrammiert.“ 

Fernando: „Du riskierst dein Leben für zehn Euro fünfzig. Das ist es nicht wert.“

Das Unternehmen weist solche Vorwürfe zurück. Man habe Verbesserungsvorschläge von Mitarbeitern umgesetzt. Die große Mehrheit der Fahrer sei mit den Arbeitsbedingungen zufrieden. Alles gut also?

Prof. Stefan Sell, Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik Hochschule Koblenz: „Wir haben ja die scheinbar paradoxe Situation, dass oben Milliarden Investoren-Gelder in diese Unternehmen investiert wird. Und unten wird um Cent-Beträge gefeilscht bei den schwächsten Gliedern in der Kette. Das sind die Arbeitnehmer, das sind die Rider, die mit ihren Fahrrädern unterwegs sind.“

Zeynep, Duygu und Fernando sind deshalb mit anderen Ridern auf die Straße gegangen. Sie haben gestreikt – ohne die Hilfe einer Gewerkschaft. Und bekamen sogar Unterstützung von Gorillas-Boss Kagan Sümer.

Sümer (Übersetzung Monitor): „Ich unterstütze sehr, dass ihr so handelt. Ich bin niemand der einstellt, um zu entlassen. 100-prozentig. Ich würde nie jemanden wegen eines Streiks feuern.”

Schöne Worte. Doch in den letzten Wochen zeigt sich das Unternehmen von einer anderen Seite. Nach neuen Streiks wurden viele Rider entlassen. Auch Duygu und Fernando verloren ihre Jobs.

Duygu (Übersetzung Monitor): „Sie haben angerufen. Von privaten Nummern, ohne uns irgendwelche Namen zu nennen. Sie sagten nur, dass sie von Gorillas sind. Sie fragten, ob man an Streiks teilgenommen habe oder ob man die Streiks unterstütze. Wenn die Antwort ja war, dann wurde der Person gekündigt.“

Gorillas begründet die Kündigungen auf MONITOR-Anfrage damit, dass die Streiks illegal seien. So sei die deutsche Rechtslage. Grundsätzlich habe man nichts gegen Arbeiter-Organisation und Mitbestimmung. Tatsächlich?

Seit Monaten versuchen die Fahrer nun schon, einen Betriebsrat zu gründen. Sie wollen mehr Mitbestimmung, angemessene Löhne, Kündigungsschutz. Anna Hicks ist im Wahlvorstand für den Betriebsrat. Sie berichtet uns, wie das Unternehmen die Bemühungen immer wieder torpediert habe.

Anna Hicks: „Das Unternehmen war sehr destruktiv, hat nötige Informationen über Mitarbeiter zurückgehalten. Sie tauchten auch bei den Wahlen auf, womöglich um Angestellte einzuschüchtern.“

Gorillas weist auch diese Vorwürfe ausdrücklich zurück. Man habe sich immer an geltendes Recht gehalten. Man lege Wert auf einen konstruktiven Dialog und unterstütze die Gründung eines Betriebsrats. Eigenartig nur: Letzte Woche erhielt der Wahlvorstand eine einstweilige Verfügung vom Arbeitsgericht, erwirkt vom Unternehmen: gegen die Gründung des Betriebsrats. Grund sei eine neue Struktur:

Bisher gab es ein Unternehmen, die Gorillas Technologies GmbH. Mit allen Beschäftigten. Nun wurde – angeblich, weil das Unternehmen so schnell wachse – ein neues Unternehmen gegründet. Dorthin wurde das operative Geschäft überführt, zu dem auch die Rider gehören. Vor Gericht argumentiert Gorillas jetzt, es sei unklar, für welchen Betrieb der Betriebsrat überhaupt gewählt werden solle. Darüber hinaus gebe es etwa auch Formfehler, zum Beispiel beim Wahlaufruf.

Für den Arbeitsrechtler Martin Bechert, der die Rider vertritt, klingt das nach einem gezielten Versuch, Arbeiter-Mitbestimmung zu verhindern.

Martin Bechert, Fachanwalt für Betriebsrecht: „Weil man den Betriebsübergang, der hier stattfindet, nicht irgendwann macht, sondern genau jetzt, wo die Betriebsratswahl ist, also wo der Betriebsrat sich gerade gründen soll.“

Keine Mitbestimmung? Ausbeutung? Er wollte das eigentlich verhindern. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kam im Wahlkampf sogar extra bei den Protesten vorbei.

Hubertus Heil, 20.07.2021: „Eins ist ganz klar: man darf Digitalisierung nicht mit Ausbeutung verwechseln. Und wer versucht, Recht und Gesetz zu umgehen, oder versucht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerrechte in dieser digitalen Entwicklung zu unterdrücken, der hat mich dann auch zum politischen Gegner.“

Eine Kampfansage? Wohl eher nicht. Tatsächlich habe Heil bis heute nicht für einen wirksamen Schutz gesorgt, kritisieren Arbeitsrechtsexperten. Ein Grund: Start-ups wie Gorillas können Arbeitsverträge vier Jahre lang sachgrundlos befristen. Das sei Gift für Arbeitnehmerrechte.

Prof. Stefan Sell, Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik Hochschule Koblenz: „Tatsache ist, dass der Gesetzgeber in der letzten Regierung hier über Jahre versäumt hat, die unseligen sachgrundlosen Befristungen neu zu regeln. Denn das ist ja das Einfallstor, mit dem ich diese ständige existenzielle Unsicherheit über die Leute ziehen kann und dann jeden einzelnen so richtig in die Mangel nehmen kann und abschrecken kann, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten.“

Und selbst wenn es den Fahrern gelingen sollte, einen Betriebsrat zu gründen, schützt sie das nicht vor außerordentlichen Kündigungen. Das räumt auch das Arbeitsministerium gegenüber MONITOR ein. Es sei “nicht gelungen, den Schutz vor außerordentlichen Kündigungen im Gesetz zu verankern.“ Schuld daran seien aber CDU/CSU gewesen. Bei den Fahrern bleibt so vor allem eins: Unsicherheit. Und das Gefühl, für wenig Geld ihre Gesundheit zu riskieren.

Georg Restle: „Sollte Hubertus Heil tatsächlich Arbeitsminister der neuen Bundesregierung bleiben, kann er sich ja vielleicht nochmal an sein Versprechen erinnern. Die Ausrede, dass der größere Koalitionspartner bessere Gesetze verhindert hätte, gilt dann jedenfalls nicht mehr.“

Kommentare zum Thema

  • Schwiegermutter 06.09.2022, 19:05 Uhr

    Gorillas und Flink sind dubiose Unternehmen. Alles läuft über apps die nicht funktionieren. Personalabteilung nie zu erreichen. Weder Tel. Nr noch Mailadresse auf Briefbogen. Jahressteuerbescheinigung Fehlanzeige nach kurzer Beschäftigungsdauer erfolgt Kündigung.

  • Kopfsalat 11.11.2021, 19:12 Uhr

    Wie sagte schon Macchiavelli ("Der Fürst", sinngemäß): wer Macht über andere haben will, muß als erstes lernen, etwas anderes zu sagen als er meint. Wir sind so daran gewöhnt, durch Lügen manipuliert zu werden, von der Produktwerbung der Konzerne, der Politik, dem Sport, der Religion, der Medizin, ... überall, wo Konkurrenz herrscht, herrscht Lüge. "Ich bin gut, weil du schlecht bist" ist die einfache Lüge des Ego. Oder als populistisches Gruppen-Ego: "wir sind gut, weil ihr schlecht seid." Und wir haben so eine Sehnsucht nach Wahrheit, Vertrauenswürdigkeit, Einfachheit, Gemeinschaft. - Es ist wie im Straßenverkehr: links blinken, rechts abbiegen, und immer in der Mitte sein wollen. Am entstehenden Verkehrschaos sind dann andere Schuld. Das einzig Tröstliche daran ist, daß wer beliebt sein will, immer noch links blinken muß. Es gibt sie also noch, unserer Sehnsucht, ausgedrückt in der einfachen Wahrheit: ich bin, weil wir sind. Ach würde doch die Goldene Regel den Verkehr regeln. -

    • Aga Bellwald 16.11.2021, 15:58 Uhr

      Kopfsalat, sehr schöner Kommentar. Und wenn wir alle einander mehr wertschätzten, bräuchte es diesen wettbewerbsgesteuerten Egotrip irgendwann nicht mehr. Dieses ständige Alle gegen alle hat langfristig keine Zukunft, wenn unsere Gesellschaften weltweit überleben wollen, plus unser Planet. Darum: Fuck the System before it fucks us all!

  • Spunk 08.11.2021, 19:46 Uhr

    Wer macht eigentlich so einen Job? Das ist doch Selbstausbeutung. Und wer bestellt bei solchen Firmen? Zu bequem um selbst einzukaufen? Verdanken tun wir diese Zustände übrigens Rot/Grün unter Schröder. Nannte sich Agenda 2010. Die Architekten der Agenda 2010 haben in der SPD immer noch das sagen. Scholz gehört übrigens auch zu diesem Verein. Es wird sich also auch zukünftig nichts großartig ändern.