Krieg in Nahost: Ein Kampf ohne Perspektive?

Monitor 14.12.2023 09:15 Min. UT Verfügbar bis 14.12.2098 Das Erste Von Silke Diettrich, Herbert Kordes

MONITOR vom 14.12.2023

Krieg in Nahost: Ein Kampf ohne Perspektive?

Neun Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas hat die israelische Armee ihre Offensive auf den Süden des Gazastreifens ausgeweitet. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage mehren sich die Fragen: Welche Kriegsziele will Israel erreichen, was tut man für den Schutz der Zivilbevölkerung und welche Pläne gibt es für die Zeit danach? Experten warnen: Statt die Hamas zu zerstören, schaffe das israelische Vorgehen eine neue Generation von Terroristen.

Von Silke Diettrich, Herbert Kordes

Kommentieren [8]

Achim Pollmeier: "Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Im Kampf gegen die Terrormilizen der Hamas im Gazastreifen verlieren er und seine teils rechtsextreme Regierung international immer mehr Unterstützung. Selbst engste Verbündete wie US-Präsident Biden kritisieren inzwischen deutlich das Vorgehen der Regierung und ihrer Sicherheitskräfte. Die Ziele sind klar: Netanjahu hat versprochen, die Hamas zu vernichten und jene Geiseln zurückzuholen, die die Hamas seit 69 Tagen gefangen hält – seit ihrem barbarischen Überfall auf Israel, der diese Eskalation erst ausgelöst hat. Nach Schätzungen verstecken sich immer noch rund 25.000 Hamas-Terroristen in den Tunneln von Gaza und – unter der Zivilbevölkerung! Die vor Israels Vormarsch nirgends mehr sicher ist. Zehntausende wurden bei den Angriffen getötet oder verletzt, die Zerstörung ist unvorstellbar, es droht nicht mehr, es ist eine humanitäre Katastrophe. Und eine Strategie der israelischen Regierung, wie es langfristig im Gazastreifen weitergehen soll, ist selbst für Fachleute nicht erkennbar. Silke Diettrich und Herbert Kordes."

Die Notaufnahme des Krankenhauses von Khan Yunis heute Morgen: Im Minutentakt kommen Schwerverletzte an. Die Flure in der Notaufnahme sind seit Tagen überfüllt , selbst erfahrene Helfer sind fassungslos angesichts der Bilder dieses Krieges:

James Elder, UNICEF (Übersetzung Monitor): "Dies ist eine Klinik! Das Gesundheitssystem ist überfordert. Diese Klinik kann schlicht nicht mehr Kinder mit Kriegsverletzungen aufnehmen."

James Elder vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen – UNICEF – war in vielen Krisenregionen. Seine Erfahrungen hier – sagt er – überstiegen alles, was er bislang erlebt habe.

James Elder, UNICEF (Übersetzung Monitor): "Jeder ist betroffen, jeder hat mit irgendeiner Art von psychischen Problemen, Stress oder Trauma zu kämpfen. Es schien, als würden Traurigkeit, Kummer und Leid in Gaza fast Wurzeln schlagen und es wird immer schlimmer."

Vor allem die Zivilbevölkerung leidet an den Folgen der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober, die weltweit Entsetzen ausgelöst hat. Die Terroristen drangen nach Israel ein. Videos der Hamas zeigen, wie sie wahllos Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder töteten. 1.200 Menschen ermordet, 239 wurden in den Gazastreifen verschleppt. Israels Sicherheitsapparat wurde von der Terrorattacke offenbar völlig überrascht. Der Politikwissenschaftler Uriel Abulof von der Universität Tel Aviv war erschüttert, wie hilflos die israelische Gesellschaft diesem Anschlag ausgeliefert war.

Prof. Uriel Abulof, Politikwissenschaftler, Universität Tel Aviv (Übersetzung Monitor): "Was wir am 7. Oktober erlebt haben, war der verheerendste Moment, den die israelische Gesellschaft je erlebt hat. Sie wurde von ihrem eigenen Staat im Stich gelassen, der eigentlich da sein sollte, um für ihre Sicherheit zu sorgen."

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht massiv unter Druck. Seine extrem rechte Regierung will nun Stärke zeigen. Ihre wichtigsten Kriegsziele sind, die Hamas ein für alle Mal zu vernichten, damit sie keine Chance mehr hat, solche Anschläge zu verüben. Und: Sie will alle israelischen Geiseln befreien.

Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident Israel (10.10.23): "Wir werden nicht aufhören, bis jeder Ort, von dem die Hamas aus operiert, zerstört ist."

Klar ist, Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung. Aber sind die Ziele der Regierung realistisch? Und, was hat die Armee bislang erreicht? Beispiel: Geiselbefreiung. Bislang kamen weniger als die Hälfte der 239 Geiseln frei – im Austausch für palästinensische Gefangene während der Waffenruhe Ende November. Das Emirat Katar hatte den Austausch vermittelt. Regierungschef Netanjahu sagt, erst der militärische Druck habe die Befreiung ermöglicht. Fakt ist: Bislang konnte die israelische Armee nach eigenen Angaben nur eine Geisel befreien. Der Nahost- und Militärexperte Andreas Krieg ist daher überzeugt: Die massiven Angriffe der israelischen Armee werden nicht dazu führen, weitere Geiseln zu befreien.

Andreas Krieg, King's College London: "Das heißt, das Einzige, was man machen kann, um die Geiseln freizubekommen, ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Und das ist auch das, was der Sicherheitssektor, die Geheimdienste in Israel der Regierung auch immer wieder nahegelegt haben, der Regierung Netanjahu, dass man sagt, man muss eben mit … über Katar mit der Hamas sprechen, um die Geiseln freizulassen."

Doch die Regierung bleibt bei ihrem Kurs, sieht keine Alternativen zu immer neuen Angriffen. Erst recht wegen des noch größeren Zieles – der Vernichtung der Hamas. Seit Wochen durchkämmen israelische Bodentruppen den Gazastreifen. Sie legen unterirdische Tunnel offen, setzen mutmaßliche Terrorunterstützer fest. Dazu kommen massive Luftangriffe: Allein im Norden wurden 60 Prozent der Gebäude laut UN schwer beschädigt oder zerstört. Rund 7.000 Hamas-Terroristen seien bereits getötet worden, sagt die israelische Armee. Allerdings schätzen Experten, dass die Hamas vor dem Krieg über rund 30.000 Kämpfer verfügte. Hinzu kommt: Die Hamas ist eine Terrororganisation. Ihr Ziel: die Israelis aus dem ganzen Gebiet zu vertreiben. Doch die Hamas hat auch einen politischen Arm. Ihr Einfluss reicht tief in die Gesellschaft.

Andreas Krieg, King's College London: "Es ist unmöglich, die Hamas zu zerstören – militärisch. Die Milizen oben sind irgendwie die Spitze des Eisbergs. Und das, was eben drunter herumkommt, das ist die zivilgesellschaftliche Struktur der Hamas, das ist die Regierungsgewalt, die die Hamas natürlich auch hat und die anderen bürokratischen Strukturen, die unterhalb dieser Kampfbewegung aufgebaut sind."

Hamas vernichten? Israels Angriffe scheinen gerade das Gegenteil zu bewirken, zeigt eine aktuelle Studie. Gefragt, welche Partei sie unterstützen würden, stieg die Zustimmung zur Hamas im Gazastreifen demnach um vier Prozentpunkte. Im Westjordanland verdreifachte sie sich während des Krieges sogar – von 12 auf 44 Prozent.

Khalil Shikaki, Palestinian Center for Policy and Sue (Übersetzung Monitor): "Jede zusätzliche Unterstützung für die Hamas kommt von Menschen, die das Wertesystem der Hamas nicht unterstützen. Sie glauben vielmehr, dass die Hamas die wirksamste Kraft ist, die den Palästinensern helfen kann, ihre nationalen Rechte mit einem bewaffneten Kampf durchzusetzen."

Viele Beobachter befürchten, dass sich nun auch gemäßigte Palästinenser radikalisieren könnten. Die wachsende Zustimmung für die Hamas ist wohl auch eine Reaktion auf das Leid der Zivilbevölkerung. Noch immer kommt nur ein Bruchteil der benötigten Hilfslieferungen durch. Und wenn, beginnt sofort der Kampf um Wasser und Nahrungsmittel. Mehr als 12.000 Frauen und Kinder wurden nach UN-Angaben bisher im Gazastreifen getötet. All dieses Leid wurde ausgelöst durch den brutalen Terrorangriff vom 7. Oktober. Doch durch ihre mangelnde Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in Gaza gefährde Israels Regierung die Sicherheit der eigenen Landsleute, sagt Uriel Abulof.

Prof. Uriel Abulof, Politikwissenschaftler, Universität Tel Aviv (Übersetzung Monitor): "Das ist meiner Meinung nach der schwerwiegendste Fehler Israels seit dem 7. Oktober. Abgesehen davon, dass Israel es seither versäumt hat, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Vision für die Zukunft von Gaza und für die Zukunft der israelisch-palästinensischen Beziehungen nach Kriegsende enthält.

Selbst Israels wichtigster Verbündeter – die USA – kritisierten die israelische Regierung diese Woche scharf. Joe Biden rief Ministerpräsident Netanjahu nun auf, einen Plan für die Zwei-Staaten-Lösung zu entwerfen. Doch nichts deutet darauf hin – im Gegenteil. Seine  rechtkonservative Regierungskoalition hatte von Beginn an ganz andere Pläne. In der Präambel des Koalitionsvertrages heißt es:

Zitat: "Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, dem Negev, dem Golan, Judäa und Samaria – fördern und ausbauen."

Prof. Uriel Abulof, Politikwissenschaftler, Universität Tel Aviv (Übersetzung Monitor): "Diese Ideologie ist extremistisch. Sie möchten, dass Israel das ganze Land kontrolliert. Und so kommt es zu Zusammenstößen zwischen Extremisten auf beiden Seiten. Auf der einen Seite die Hamas, auf der anderen die israelische Regierung unter Netanjahu. Aber es ist die Mehrheit der Menschen, sowohl unter den Israelis als auch unter den Palästinensern, die darunter leiden."

Israel hat einen grauenvollen Terroranschlag erlitten. Doch die Strategie der israelischen Regierung – sagen die Kritiker – nehme der palästinensischen Bevölkerung zurzeit jede Perspektive für die Zukunft – und den Menschen in Israel die Aussicht auf Frieden.

Achim Pollmeier: "Ja, ein düsterer Ausblick!"

Startseite Monitor

Stand: 14.12.2023, 22:15 Uhr

Kommentare zum Thema

Kommentar schreiben

Unsere Netiquette

*Pflichtfelder

Die Kommentartexte sind auf 1.000 Zeichen beschränkt!

8 Kommentare

  • 8 Frank Seidel 15.12.2023, 04:26 Uhr

    Wie konnte die Hamas eine der sichersten Grenzen der Welt übertreten und erst fünf Stunden später auf Gegenwehr stoßen?

  • 4 Aga Bellwald 14.12.2023, 22:27 Uhr

    Soll es eine neue Vertreibung geben? Es sieht so aus, wenn man die Pläne dieser rechtsextremen Regierung richtig interpretiert. Und auch wenn die USA auf Distanz zu Netanjahu gehen, schaut die Welt ein weiteres Mal zu, wie die Menschen im Gazastreifen zur Flucht gezwungen werden. Nur wohin? Kein ernst zu nehmender Druck auf die israelische Regierung, mit den Bombardierungen aufzuhören. Und die Zweistaatenlösung ist längst tot. Ein Funken Hoffnung? Nirgends zu sehen.

  • 3 r.wolff 14.12.2023, 18:54 Uhr

    Dieser Krieg der Hamas gegen Israel wird den Hass gegen Israel und der Westlichen Welt noch mehr aneizen und die Anschläge werden immer Brutaler werden.r.wolff

  • 2 Ohnmächtiger 13.12.2023, 17:17 Uhr

    Die im letzten Satz vorgebrachte Warnung scheint angebracht zu sein. Auch dieser Krieg trägt nicht dazu bei dass zukünftig die Menschen im Nahen Osten friedlich miteinander umgehen. Die Palästinenser vom Norden durch Bombenhagel begleitet in den Süden treiben, folgend das Land in kleine Quadrate teilen, die Flüchtlinge zwischen den Quadraten hin und her treiben, die israelische Landesgrenze nicht für die Flüchtlinge öffnen aber von Ägypten erwarten dass derer Führung die Palästinenser in ihr Land lässt, das wird Hass und die Bildung neuer Terrorgruppen verstärken. In Gazastreifen wird fast jedes Gebäude in kleine Bruchstücke gesprengt. Die Häuser sind vermint, nun werden Hamas-Tunnel mit Mittelmeer-Salzwasser geflutet? Niemand wird einschätzen können was zukünftig das Salzwasser mit den vielen dort gelagerten Sprengstoffen (Raketen) in Verbindung mit dem Grundwasser für umweltfeindliche Verbindungen eingeht. Denkbar wird die Erde zukünftig über Jahrhundert unbewohnbar verseucht sein.

  • 1 Albers 13.12.2023, 16:38 Uhr

    Die Israelis und die Palästinenser haben vor dem Krieg nicht friedlich miteinander gelebt und werden dies auch nach dem Krieg nicht tun. Auch dort funktioniert multikulti nicht, wer es besser weiß möge den Menschen in Nahost und nicht nur dort mit Rat und Tat zur Seite stehen, an den Ergebnissen sollten wir sie messen und es nicht hier auch noch probieren in dem wir die Probleme ständig vergrößern. Wir können es nicht besser.