Krieg in Gaza: Was sagt das Völkerrecht?

Monitor 23.11.2023 10:11 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Shafagh Laghai, Lara Straatmann

MONITOR vom 23.11.2023

Krieg in Gaza: Was sagt das Völkerrecht?

Bis heute feuern Hamas-Terroristen aus dem Gaza-Streifen weiter Raketen auf Israel. Die Luftangriffe des israelischen Militärs im Gazastreifen dauern an. Es gibt Tausende Tote, die humanitäre Notlage der Menschen in Gaza spitzt sich zu. Die internationale Kritik an Israels Angriffen auf Gaza wächst, auch UN-Institutionen stellen die Verhältnismäßigkeit in Frage. Ist das Vorgehen Israels nach der Terrorattacke vom 7. Oktober noch mit dem Völkerrecht vereinbar?

Von Shafagh Laghai, Lara Straatmann

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Georg Restle: "Dieser Tag heute hätte ein Tag der Hoffnung werden können für die Menschen in Israel und in Gaza. Eine längere Feuerpause und die Freilassung von Geiseln; damit hatten viele gerechnet, darauf hatten viele gehofft. Stattdessen gingen die Angriffe der israelischen Armee heute unvermindert weiter. Wie diese Bilder aus dem Süden des Gaza-Streifens zeigen, wohin sich viele Menschen geflüchtet haben. Fast sieben Wochen nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas. Und immer mehr Menschen stellen sich die Frage, ob das alles eigentlich noch verhältnismäßig ist. Klar, das Selbstverteidigungsrecht steht Israel völkerrechtlich zu. Aber nimmt die israelische Armee auch genügend Rücksicht auf Zivilisten? Was ist mit Angriffen auf Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen? Oder mit dem Leiden der Zivilbevölkerung im Süden des Gaza Streifens? Ist das alles auch noch vom Völkerrecht gedeckt? Die Zweifel daran wachsen, bei den Vereinten Nationen, aber auch in Israel. Shafagh Laghai und Lara Straatmann."

Bilder von israelischen Panzern heute Morgen in Gaza. Die angekündigte Feuerpause – verschoben. Die Folgen der täglichen Luftangriffe. Das Leid, die Zerstörung, die Zahl der Toten – immens. Und immer drängender die Frage, welche Regeln gelten überhaupt noch im Krieg? Kann es nach einer Feuerpause so weitergehen? Dafür müsse man das bisherige Vorgehen beider Kriegsparteien betrachten, sagt der jüdisch-israelische Völkerrechtler Eitan Diamond.

Eitan Diamond, Völkerrechtler, Diaconia International Humanitarian Law Centre (Übersetzung Monitor): "Die Angriffe der Hamas zeichnen sich durch alle Arten von Gräueltaten gegen Zivilisten und andere aus. Es sind schwerere Verstöße gegen das Internationale Völkerrecht, für die die einzelnen Täter wegen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden können. Im Falle des israelischen Vorgehens fehlen uns viele Informationen. Wie das in bewaffneten Konflikten oft der Fall ist, sind sie nicht öffentlich verfügbar. Das macht es schwieriger zu bewerten, ob sie sich an das Recht halten oder nicht."

Nach wie vor feuert die Hamas Raketen in Richtung Israel. Sie trafen auch Wohnhäuser, wie hier Ende Oktober in Tel Aviv; Menschen wurden verletzt. Klar ist, Israel hat das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen. Doch war das bisherige Vorgehen Israels auch verhältnismäßig? Bundeskanzler Olaf Scholz gab Ende Oktober darauf eine eindeutige Antwort, zu der er auf Nachfrage weiterhin steht.

Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler, 26.10.2023: "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel."

Kein Zweifel? Für die völkerrechtliche Bewertung sind drei Kriterien entscheidend. Wird ausreichend unterschieden zwischen zivilen und militärischen Zielen? Wie verhältnismäßig sind die Angriffe? Denn Kollateralschäden, also zivile Opfer, müssen auf ein Minimum begrenzt werden. Und, welche Vorsichtsmaßnahmen werden getroffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen? Unter besonderem Schutz stehen Schulen oder Krankenhäuser; auch weil sie Zufluchtsorte sind. Völkerrechtlich eigentlich tabu, sie anzugreifen. Die Weltgesundheitsorganisation meldet jedoch bisher mehr als 160 Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Und Angriffe auf 17 UN-Schulen; so wie hier, Tote und Verletzte nach einer Explosion vor wenigen Tagen. Oder hier Anfang November; das israelische Militär erklärte, man habe diese Schule nicht gezielt angegriffen. Die Explosion sei möglicherweise die Folge eines Angriffs in der Nähe gewesen. Unabhängig überprüfen lassen sich solche Vorfälle kaum. Die Häufigkeit von Angriffen auf geschützte Gebäude ist für Völkerrechts-Expertin Janina Dill von der Universität Oxford jedoch besorgniserregend.

Prof. Janina Dill, Völkerrechtlerin, Universität Oxford: "Das UN-Hilfswerk in Gaza gibt immer wieder auch Informationen an das israelische Militär über die Koordinaten ihrer Schulen und auch über die Flüchtlinge, die sie dort aufnehmen. Das heißt, das sind vorhersehbare Konsequenzen und damit sind sie halt rechtsrelevant. Das Verhältnismäßigkeitsgebot sagt dann, dass man im Grunde genommen einen wirklich sehr, sehr, sehr signifikanten militärischen Nutzen versprechen muss von so einem Angriff, damit es überhaupt irgendwo in die Nähe von Verhältnismäßigkeit kommt."

Wie kompliziert die völkerrechtliche Einordnung sein kann, zeigt sich hier ganz besonders: im Al Shifa Krankenhaus. Al-Shifa war eines der wenigen verbliebenen Krankenhäuser in Gaza-Stadt. Hier wurden Hunderte Schwerverletzte, aber auch chronisch Kranke behandelt. Etwa 2.500 Menschen suchten hier zudem Schutz. Mit Beginn der Luftangriffe wurde auch das Krankenhaus von der Strom- und Wasserversorgung abgetrennt. Die israelischen Sicherheitsdienste vermuteten schon lange eine Kommandozentrale der Hamas unter dem Krankenhaus. Bodentruppen verschafften sich Zugang. Anfang der Woche präsentierten sie Videos, die zeigen sollen, wie zwei Geiseln in das Krankenhaus gebracht wurden. Und jetzt Videos, die Tunnelsysteme unter dem Krankenhaus zeigen. Darin Räume mit Klimaanlage und offenbar Strom. Für sie der Beleg, dass der Angriff gerechtfertigt war. Die Frage ist, war die Gefahr für Israel, die von den Tunneln ausging, so groß und unmittelbar, dass sie die Ausschaltung eines so wichtigen Krankenhauses rechtfertigt?

Eitan Diamond, Völkerrechtler, Diaconia International Humanitarian Law Centre (Übersetzung Monitor): "Das Al-Shifa-Krankenhaus außer Betrieb zu setzen hat erhebliche, unmittelbare Konsequenzen; auch langfristige, für die Menschen in Gaza. Die wiegen sehr, sehr schwer. Also muss der militärische Vorteil sehr, sehr hoch sein. Bisher finde ich nicht, dass Israel Belege präsentiert hat, die die dringende Notwendigkeit belegen, das Krankenhaus anzugreifen und solch einen Schaden anzurichten."

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt sich auch hier: Die Flüchtlingssiedlung Jabalia – ein dicht besiedeltes Gebiet. Nach Luftangriffen – unter anderem mit einer 2.000 Pfund schweren Bombe – starben nach Angaben der UN mehr als 100 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Die israelische Armee macht die Hamas dafür verantwortlich.

Daniel Hagari, Sprecher Israelisches Militär, 01.11.2023 (Übersetzung Monitor): "Das zeigt erneut, dass die mörderischen Terroristen die Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild missbrauchen. Denn wir hatten die Menschen dazu aufgerufen, in den Süden zu fliehen."

Völkerrechtler sind sich einig, Zivilisten als Schutzschild zu nutzen, ist ein Kriegsverbrechen. Doch entlässt das Israel aus der Verantwortung?

Prof. Janina Dill: "Wenn man den Angriff jetzt mit der Information betrachtet, die man hat, dass an die 100 zivile Opfer, vorhersehbar zivile Opfer zu beklagen sind und der militärische Vorteil ist die Neutralisierung eines oder mehrerer Hamas-Kommandeure, dann sind für mich sehr schwere Zweifel angebracht, dass das verhältnismäßig war."

Als Vorsichtsmaßnahme – so das israelische Militär – habe sie die Bevölkerung immer wieder dazu aufgerufen, in den Süden zu fliehen. Doch auch dort herrscht eine humanitäre Notlage. Den Menschen fehlt es vor allem an sauberem Trinkwasser. Die Weltgesundheitsorganisation hatte erst vor wenigen Tagen gewarnt: die Menschen drohten zu verdursten und zu verhungern. Die israelische Regierung ließ dennoch nur wenige Hilfslieferungen über die Grenze. Ihre Sorge, die Hamas bunkere das meiste für sich und nutze den Treibstoff für ihre Raketenanlagen. Die Frage auch hier, was wiegt schwerer: Der mögliche militärische Vorteil oder die Folgen für die Bevölkerung?

Prof. Janina Dill, Völkerrechtlerin, Universität Oxford: "Menschen Wasser vorzuenthalten, ist meines Erachtens nach nicht zu rechtfertigen. Weder rechtlich noch moralisch. Es kann nicht sein, dass Kinder verdursten in einem Kriegsgebiet, wenn es möglich wäre, ihnen eben Wasser zukommen zu lassen. Das heißt, hier steht ein zweifelhafter militärischer Vorteil einem wirklich messbaren, katastrophalen humanitären Kostenpunkt entgegen. Und damit ist für mich die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben."

Umso erstaunlicher sei die Aussage des Bundeskanzlers.

Olaf Scholz, Bundeskanzler: "Deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel."

Prof. Janina Dill: "Die Aussage ist völkerrechtlich verantwortungslos. Deutschland ist eine hohe Vertragspartei der Genfer Konventionen und hat damit die Pflicht, das humanitäre Völkerrecht nicht nur selbst einzuhalten, sondern auch seine Einhaltung durch andere sicherzustellen. Es sind nun tatsächlich an der Rechtskonformität von Israels Kriegstaktik Zweifel angebracht. Vor dem Hintergrund ist es für mich völlig unverständlich, dass der Bundeskanzler da offensichtlich nicht genauer hinschauen möchte."

Hier jedenfalls haben die Menschen große Angst davor, wie es nach einer Feuerpause weitergehen wird.

Georg Restle: "Und diese Feuerpause soll jetzt kommen: Ab morgen früh, sechs Uhr unserer Zeit. Vier Tage soll sie dauern; das wurde heute in Katar bekanntgegeben. Bis dahin will die israelische Armee ihre Angriffe weiter fortsetzen."

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Stand: 21.11.2023, 17:00 Uhr

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35 Kommentare

  • 35 Cem Olgun 12.12.2023, 23:21 Uhr

    Sehr guter und objektiver Beitrag. Respekt. Eine der wenigen Reportagen in Deutschland, die unparteiisch über den Israel/Palästina Konflikt vorgetragen wurde. Bleiben Sie weiterhin so neutral.

  • 32 Fritz 03.12.2023, 22:04 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 28 Abood 27.11.2023, 00:58 Uhr

    Danke für den Bericht und dass endlich auch kritisch über Israels vorgehen berichtet wird. Dennoch nehmen Sie die israelischen Aussagen für "Bare Münze". Dass der gezeigt Tunnel unter dem Shifa Hospital verläuft ist zweifelhaft, keine Zugänge wurden gezeigt aus dem Krankenhaus in der israelische Propaganda Aufnahmen. Zudem, wennHamas dort Geiseln behandeln lies , dann ist es ja etwas positives. Völkerrechtsbrüchen finden auch täglich in der Westbank statt. Auch diese werden nich thematisiert. Israels Menschenrechtsverletzungen sind unzählig, seit Jahren und darüber wurde immer geschwiegen. Ich wünsche mir mehr Objektivität in deutschen Medien. Wer schweigt mach sich mit schuldig. Mit neuem Unrecht mach man alte Verbrechen nicht ungeschehen, im Gegenteil, man beteiligt sich erneut an Verbrechen gegen die Menschlichkeit

  • 26 Mimimi57 25.11.2023, 22:57 Uhr

    Vielen Dank @ Monitor für diesen mutigen Bericht. Ansonsten ducken sich die deutschen Medien leider zu diesem Thema komplett weg oder spielen Netanjahu TV. Die Beschädigung der Glaubhaftigkeit wird vielen lange anhängen.

  • 25 Uta 25.11.2023, 18:19 Uhr

    Vielen Dank für diesen Beitrag. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht, d.h. wenn einer falsch handelt darf das keine Legitimation für ebenfalls unrechtmäßiges Handeln sein. Dieser Konflikt kann nicht mit noch mehr Gewalt gelöst werden, das ist kontraproduktiv.

  • 24 Dirk Lindner 25.11.2023, 16:50 Uhr

    Völkermord bleibt Völkermord auch wenn se von der israelischen Armee bzw. Regierung verübt werden. ..... Wenn der israelische Verteidigungsminister von "menschlichen Tieren" in Gaza spricht, ist klar welche Absichten verfolgt werden........

  • 22 G.W 24.11.2023, 21:02 Uhr

    Während der Sendung wurde mindestens sieben Mal der Begriff Verhältnismäßig benutzt in Bezug auf die Kriegsführung Israels. Dieser inflationäre Begriff wird überall gebraucht und ich hätte von Ihrer Sendung erwartet, dass man uns erklärt was das praktisch bedeutet. Eine Sendung über diese Verhältnismäßigkeit, in der Sie dem Zuschauer erklären was Sie sich darunter vorstellen wäre angebracht. Was bedeutet das außer einer Meinung von Frau prof. Dill, die auch nichts konkretes sagt? Heißt das Vergewaltigung gegen Vergewaltigung; Enthauptung gegen Enthauptung; Mutter und Kind fesseln und anzünden...? Wer soll das machen? So haben Sie mit dem wiederholen dieses Begriffes nur Hass (siehe die Posts) und erneute Propaganda geschürt.

  • 21 Natalie Perel 24.11.2023, 17:00 Uhr

    Ihre Hetzte gegen Israel, Herr Restle ist nicht neu. Sie sind seit Jahren bekannt dafür! Ich will Ihnen hier nicht Antisemitismus unterstellen, aber Sie befeuern den erfolgreich in Deutschland.

  • 20 Anton.T 24.11.2023, 16:30 Uhr

    Ganz großes Lob ans Monitor-Team! Bei aller gebotenen journalistischen Neutralität konnte man die letzten Wochen schon den Eindruck kriegen, dass das Vorgehen der IDF vor allem in deutschen Medien kaum kritisch hinterfragt wurde (im Vergleich zu z. B. MSNBC) - man wolle ja nicht den Eindruck erwecken, das Israel sich nicht wehren dürfe. Scholzes Aussage zum Zitat "humanitären Prinzipien" der israelischen Regierung ist umso skandalöser, wenn man beachtet, dass immer mehr Menschenrechtsorganisation wie Amnesty Int., Human Rights Watch, die Internationale Liga für Menschenrechte ... neben Hamas auch die israelische Politik heftig kritisiert haben wegen systematischer Menschrechtsverletzungen auch innerhalb Israels gegenüber Palästinenser bzw. arabischstämmigen Israelis. Auch wenn viele das zugegeben hochkontroverse A-Wort (zuerst verwendet von B´tselem, dann Amnesty und HRW) nicht hören wollen, würde es sich vielleicht anbieten, dazu einen gut recherchierten Beitrag zu machen - Monitor?

  • 18 Christian Tegtmeier 24.11.2023, 14:29 Uhr

    Vielen Dank für die eindeutige rechtliche Einordnung. Ich hoffe, man darf die Inhalte des Beitrages zitieren, ohne als Antisemit oder Judenhasser bezeichnet zu werden.

  • 17 A.F. 24.11.2023, 11:12 Uhr

    Wie sieht es eigentlich mit dem Selbstverteidigungsrecht der Palästinenser aus, mit deren Existenzrecht? Angesichts des jahrzehntelangen Staatsterrors durch Israel in den besetzten Gebieten, dem zunehmenden Siedlerterror, dem Landraub, der langsamen Aushungerung des Gazastreifens, dem schon vor diesem Bombenterror nur so viele Lebensmittel zugestanden wurden, damit die Menschen nicht unmittelbar verhungern. Und was ist eigentlich an Bomben weniger barbarisch als an direkten Angriffen durch einzelne Teroristen? Der Abstand zwischen Täter und Opfer?! Und übrigens, auch die israelische Regierung nimmt Geiseln, nicht nur die Tausenden pal. Gefangenen, sondern ebenso die Judenheit der Welt, die in der permanenten Gleichsetzung von Israel und Juden praktisch für die israelischen Verbrechen in Mithaftung genommen wird. Viele wehren sich genau gegen diese Vereinnahmung, werden dann aber bei uns sogar als Antisemiten diffamiert.

    • Anne 24.11.2023, 12:48 Uhr

      Vielen Dank für Ihren Kommentar und Fragen die den Bundeskanzler erreichen sollten