Bericht: Lutz Polanz
Georg Restle: „Und jetzt rein in den Wahlkampf. Bei allen Unterschieden zwischen Angela Merkel und Martin Schulz gibt es da ein Thema, wo die beiden sich erstaunlich einig sind. Wenn es um die Bewertung der sogenannten Agenda-Politik von Altkanzler Gerhard Schröder geht. Riesenerfolg, sagen beide, auch wenn es hier und da Kritik gibt. Aber immerhin, durch die Hartz-Reformen hätte sich die Arbeitslosenzahl in Deutschland schließlich halbiert. Supergeschichte - mit einem Schönheitsfehler. Sie stimmt so nicht, jedenfalls dann, wenn man ehrlich rechnet. Lutz Polanz.“
Bochum, 6:00 Uhr in der Früh. Wir sind bei Birgit Runge. Die 62-jährige ist eigentlich gelernte
Großhandelskauffrau. Doch seit den Hartz-Reformen hangelt sie sich nur noch von Job zu Job.
Birgit Runge: „Persönliche Bilanz ist eigentlich, dass es einem immer schlechter geht. Also es wirkt sich sehr stark auf die Psyche aus, weil man ist ja immer mit einem Gedanken dabei, kriegst du jetzt nächsten Monat eine Arbeit oder kriegst du sie nicht.“
Seit Juni hat Birgit Runge mal wieder einen neuen Job. Zehn verschiedene Arbeitgeber waren es allein in den letzten elf Jahren. Call Center, Niedriglöhne, meist in Zeitarbeit. Und zwischendurch, immer wieder arbeitslos.
Birgit Runge: „Man kriegt nur Ein- oder Zwei-Monats-Verträge, die dann eventuell auch verlängert werden. Ja, und dann immer nur Befristungen. Im Höchstfalle für zwei Jahre. Zurzeit habe ich eine Befristung für drei Monate, und das wars dann.“
Birgit Runge ist sozusagen ein Paradebeispiel für das neue deutsche Jobwunder. Immer wieder schafft sie es, doch noch Arbeit zu finden und nicht in Hartz IV zu landen. Ein Wunder, das die Politik gerne als Folge der Hartz-Reformen von Ex-Kanzler Schröder verkauft. Seine Nachfolgerin feiert sie auch im jetzigen Wahlkampf.
Angela Merkel (CDU), 25.02.2017, Bundeskanzlerin: „Das war das Konzept, das den Menschen mehr Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft hat, das es möglich gemacht hat, dass mehr Menschen Arbeit bekommen haben. Und das Ergebnis dieser Politik ist ja bekannt: Die Arbeitslosigkeit ist halbiert.“
Halbierung der Arbeitslosigkeit? Ja. 2005 gab es in Deutschland eine Rekordarbeitslosigkeit von 4,9 Millionen Arbeitslosen, heute sind es offiziell gerade noch zweieinhalb Millionen. Aber hat das wirklich mit der Agenda 2010 und ihren Hartz-Reformen zu tun? Peter Bofinger ist einer der profiliertesten deutschen Wirtschaftswissenschaftler. Einer der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen, die die Bundesregierung beraten. Er hat jetzt untersucht, welchen Einfluss die Hartz-Reformen wirklich auf den Arbeitsmarkt hatten, und kommt zu dem Schluss: Viel weniger als allgemein angenommen!
Prof. Peter Bofinger, Universität Würzburg: „Im Großen und Ganzen ist es ein großer Mythos. Es erinnert mich an die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern, wo eben alle sich einreden, dass es eine tolle Sache ist, aber wo man bei genauerem Betrachten feststellt, dass es natürlich im Einzelnen bei der Arbeitsvermittlung auch positive Effekte gibt, dass aber insgesamt dieser große Effekt überhaupt nicht zu erkennen ist.“
Bofingers Vorwurf. Die Politik vergleiche Äpfel mit Birnen, oder anders gesagt: die falschen Jahre. Als Basis für den Vergleich ziehe die Politik immer das Krisenjahr 2005 heran, das Jahr der letzten Hartz-Reformen. Das sei aber Unfug. Denn 2005 steckte Deutschland in einer tiefen Rezession.
Prof. Peter Bofinger, Universität Würzburg: „Es ist zumindest Ausdruck von ökonomischer Ignoranz, wenn man ein Rezessionsjahr wie 2005 mit einem Boomjahr wie 2016 vergleicht.“
Bofinger vergleicht deshalb die aktuellen Zahlen mit dem Jahr 2001 - vor den Hartz-Reformen. 2001 war die Auslastung der Wirtschaft ähnlich gut - die Konjunktur brummte. Das Ergebnis ist erstaunlich: In Westdeutschland sank die Zahl der Arbeitslosen statt um rund 1,3 Millionen von 2005 zu 2016 nur um 340.000, wenn man 2001 als Vergleichsjahr nimmt. Und in Ostdeutschland verschwand ein Riesenheer von Arbeitslosen in die Rente.
Prof. Peter Bofinger, Universität Würzburg: „In Ostdeutschland war der Rückgang der Arbeitslosigkeit sehr ausgeprägt, aber das hat nichts mit Hartz IV zu tun, sondern einfach mit der Tatsache, dass diese negativen Folgen der Umstellung der ostdeutschen Wirtschaft, dass die allmählich ausgelaufen sind. Dass Menschen, die in den 90er Jahren in Ostdeutschland ihren Arbeitsplatz verloren haben, allmählich aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind.“
Eine magere Bilanz also für eine Reform, die enorme soziale Sprengkraft hat. Das meint auch der Ökonom Klaus Wälde, der die „Hartz“-Folgen für den Arbeitsmarkt ebenfalls untersucht hat.
Prof. Klaus Wälde, Universität Mainz: „Wenn man sich fragt, wo sind denn die ganzen Arbeitslosen hin, dann findet man, dass sehr wenige in reguläre Arbeitsverhältnisse gegangen sind. Also wir finden vielmehr, dass viele in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegangen sind, dass viele gegangen sind in marginale Stellen, in Minijobs, in Midi-Jobs. Also, die Hartz-Reformen als gesamter Block, könnte man argumentieren, dass die dazu beigetragen haben, die Gesellschaft noch weiter auseinander zu differenzieren und letztendlich mit beitragen, Armut zu erzeugen.“
Auch Birgit Runge kann von all dem ein Lied singen. Seit sie 2006 ihre langjährige Stelle in einem Elektrohandel verlor, hat sie keinen regulären Arbeitsplatz mehr gefunden. Steckt fest in der Sackgasse von Niedriglohn und prekärer Beschäftigung.
Birgit Runge: „Ich mache mir eigentlich keine große Hoffnung. Das wird so aussehen: Ich werde jetzt Ende August arbeitslos, dann werde ich wieder kämpfen müssen, eine Stelle zu bekommen. Wahrscheinlich wird das wieder bei der Zeitarbeit landen.“
Die Politik wollte das so. Wer arbeitslos ist, soll so schnell wie möglich raus aus der Statistik und rein in einen neuen Job. Deshalb gibt es Geld nur gegen Druck. Fördern und fordern, heißt das seitdem. Menschen wie Birgit Runge müsste man aber gar nicht fordern, sie selbst hat sich immer um Jobs bemüht, nur gut leben konnte sie von keinem. Für 1.100,- bis 1.200,- Euro netto hat sie in den letzten Jahren gearbeitet, 2003 ihren letzten Urlaub gemacht, eine Woche Ostsee. So wie Birgit Runge geht es vielen. Die Zahl der Menschen, die arbeiten und trotzdem von Armut bedroht sind, hat in Deutschland seit den Hartz-Reformen um hundert Prozent zugenommen. So viel wie in keinem anderen EU-Land.
Prof. Georg Vobruba, Universität Leipzig: „Diese Beschäftigungsverhältnisse haben immer das Risiko mit sich, dass sie einerseits zu Armut bei Arbeit, also zu „working poor“ führen und andererseits zu dem Risiko, dass man keine anständigen Anwartschaftszeiten für die Altersrente mehr zustande bekommt, also Altersarmut später programmiert ist.“
Birgit Runge hat zwei Kinder groß gezogen, ihren kranken Mann versorgt, bis er starb, und immer für sich selbst gesorgt. In drei Jahren geht sie in Rente. 850,- Euro brutto werden es dann für sie sein. Vorausgesetzt, sie schafft es, auch weiter in Arbeit zu bleiben.
Kommentare zum Thema
Danke das ist auch meine Schlussfolgerung aber genau das will Politik nicht wahr haben oder nicht sehen Meine Frage von denen die Arbeit haben im Jahr 2019 haben genau wieviele einen unbefristeten Job und wieviel haben eine prekäre Beschäftigung.
Die Statistik bekommt man auch klein, indem die Verantwortlichen der Arbeitsagentur lieber Eier schaukeln, als ihren Auftrag nachzugehen, nämlich in Arbeit zu vermitteln. Wenn es dann zu lästig wird, zwingt man die Betroffenen in sinnlose und unterfordernde Maßnahmen. Wehrt man sich dagegen, dann wird man unfreiwillig abgemeldet und fällt aus der Statistik. So geht es natürlich auch, Arbeitserfolge auszuloben. Und die bequemen Herrschaften in den höheren Etagen der Arbeitsagentur lachen sich kaputt. Bei Kaffee und Gebäck, versteht sich.
Der o.g. Bericht hat seine Berechtigung.... Aber... z.Z. Herrn Schröders hatten wir eine Rezession... Schaut man über den Tellerrand, wo gibt es ein Land in dem Bürger besser aufgefangen werden als in Deutschland durch Arbeitslosigkeit/Krankheit inklusive Krankenversicherung???.__________ In der heutigen guten Wirtschaftslage sollten die Stundenlöhne angehoben werden. Wenn es den Unternehmen gut geht, sollte es auch den Arbeitnehmern besser gehen. Das muss eine SPD/Schulz befürworten und Leih-/Zeit-Arbeiterverträge abschaffen. Kein Kuschelkurs mit Lobbyismus der CSU/CDU zu einer starken Opposition. Übrigens..... könnte man einer AfD den Wind aus den Segeln nehmen durch ein Lobbyregister in Deutschland/Bundestag, um Lobbyismus im Verborgenen zu vermeiden. Das hat sogar eine USA und die EU hat ebenfalls ein Lobbyregister (nennt sich anders, ich glaube Transparenzregister).
Es GIBT doch ein Lobbyregister im Bundestag! Wo es besser läuft? Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark,...