MONITOR vom 14.03.2019

Sieg über den IS? Die verschwiegenen Opfer der US-Koalition

Bericht: Stephan Stuchlik, Julia Regis, Tobias Baum

Sieg über den IS? Die verschwiegenen Opfer der US-Koalition Monitor 14.03.2019 10:33 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Stephan Stuchlik, Julia Regis, Tobias Baum

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Georg Restle: „Dieses Bild hier wurde vor wenigen Tagen in Baghuz aufgenommen, eine kleine Stadt im Osten Syriens - und so etwas wie der Ort des letzten Gefechts im Krieg gegen den sogenannten „Islamischen Staat. Die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition feiert Baghuz schon als das Ende eines langen, blutigen Krieges. Und seit vorgestern tagt in Brüssel auch die sogenannte Geberkonferenz zum Wiederaufbau von Syrien. Dabei geht es allerdings nicht um die Entschädigungen für die vielen getöteten und verletzten Zivilisten, dabei wäre genau das dringend nötig.  Mittlerweile gibt es nämlich genügend Hinweise auf vielfach völkerrechtswidrige Angriffe und Bombardierungen oder sogar Kriegsverbrechen, und das von fast allen Kriegsparteien. Seien es die US-geführte Anti-IS-Koalition oder die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten, die oft keinerlei Rücksicht auf Zivilisten nahmen. Im September 2018 zum Beispiel flogen Syrer und Russen zahlreiche Luftangriffe auf Dörfer südlich von Idlib. Den wahllosen Angriff, besonders auf Wohngebiete, wertet die UN-Untersuchungskommission zu Syrien als „mögliches Kriegsverbrechen“. Es gab zahllose Verletzte, Dutzende Zivilisten starben. Am 13. November 2017 bombardierten russische Flugzeuge ein Wohnviertel in Atarib, trafen den Markt und eine Polizeistation. Mindestens 84 Menschen, auch Frauen und Kinder kamen dabei ums Leben, auch hier spricht die UN-Kommission von einem „möglichen Kriegsverbrechen“. Aber auch die US-geführte Anti-IS-Koalition wird für zahlreiche Angriffe auf zivile Ziele verantwortlich gemacht. Und auch hier gibt es Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen. Wir haben bei MONITOR immer wieder darüber berichtet. Stephan Stuchlik, Julia Regis und Tobias Baum mit einer ersten vorsichtigen Bilanz eines Krieges, an dem auch die deutsche Bundeswehr beteiligt ist.“

Ein PR-Film für die Anti-IS-Koalition: 33.921 Angriffe, mehr als 70 Nationen, alle zusammen gegen die Terroristen, den Sieg vor Augen. So sehen die US-Militärs den Einsatz im Irak und in Syrien. Und so sieht die Wirklichkeit aus: Wir sind in Rakka, im Norden von Syrien, der ehemaligen Hochburg des „Islamischen Staats“. Ganze Wohnviertel machte die Anti-IS-Koalition hier dem Erdboden gleich, weil sich in den Häusern IS-Terroristen verschanzt hätten. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem unverhältnismäßigen Waffeneinsatz, viele Zivilisten seien umgekommen.

Der Gemüsehändler Ammar Al-Khalaf ist einer der Betroffenen, erzählt er. Obwohl seine Familie mit dem IS nichts zu tun gehabt habe, habe die Koalition seine Verwandten hier umgebracht, in einem Wohnhaus.

Ammar Al-Khalaf (Übersetzung Monitor): „Meine Schwägerin floh in dieses Haus mit ihren Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, weil mein Bruder bei der Bombardierung von Bustan al Bladia gestorben war. Dann kam der Angriff der Koalition, sie bombardierten hier und das Haus brach zusammen, mit meiner Schwägerin und den Kindern drin.“

Die US-geführte Koalition wollte sich auch ein Jahr später nicht genau dazu äußern, wie viele Zivilisten bei der Offensive ums Leben gekommen sind.

Oberst Thomas Veale, Operation “Inherent Resolve”, 5. Juni 2018 (Übersetzung Monitor): „Ich bin nur ehrlich zu Ihnen - das wird nie jemand wissen. Jeder, der behauptet, er könnte das sagen, lügt, es geht einfach nicht.“

Die USA und ihre Verbündeten zählen nach viereinhalb Jahren Krieg in Irak und Syrien gerade einmal 1.257 getötete Zivilisten. Kollateralschäden, wie es heißt. Die Experten von „airwars“ werten penibel alle verfügbaren Daten über zivile Opfer im Anti-IS-Kampf aus. Die Zahl der Koalition halten sie für unglaubwürdig.

Maike Awater, Transparenz-Projekt Airwars (Übersetzung Monitor): „Das ist noch nie dagewesen, dass es in einem Krieg von diesem Ausmaß und diesem Charakter derartig niedrige Zahlen von zivilen Opfern gibt. Die Koalition stützt sich bei der Zählung ziviler Opfer vor allem auf Luftbilder, während wir von airwars uns - und das ist der Hauptunterschied - auf Berichte von vor Ort stützen, wenn es um Schäden an Zivilisten geht.“

Mit ihrer Methode hat die Organisation Airwars 7.500 zivile Todesfälle sehr gut - zum großen Teil namentlich - dokumentiert, 12.077 Fälle sind gut dokumentiert, und auch das ist noch eine sehr vorsichtige Zahl. Bereits diese äußerst zurückhaltende Zählung alarmiert die Untersuchungskommission für Syrien bei den Vereinten Nationen.

Hanny Megally, UN-Untersuchungskommission zu Syrien (Übersetzung Monitor): „Das sind selbstverständlich ungeheure Zahlen, wenn sich das bestätigen lässt. Wir wissen, dass die Kommandozentrale und die Anti-IS-Koalition eine Zahl von nur knapp über 1.000 Zivilisten genannt hat, die - wie sie sagen - zufällig in den Kriegshandlungen umgekommen sind. Bisher aber sehen wir nicht, dass es wirklich korrekte Untersuchungen zum Tod von Zivilisten gibt.“

Für die Anti-IS Koalition sind die meisten zivilen Opfer unvermeidbare Kollateralschäden. Oft seien Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht worden. Dabei gibt es zahlreiche Angriffe, bei denen dies höchst zweifelhaft ist.

Maike Awater, Transparenz-Projekt Airwars (Übersetzung Monitor): „Es gibt eine Reihe von Fällen, die wir über die letzten vier Jahre gesehen haben, wo man einen Luftschlag auf ein Ziel geführt hat, das rein zivil war und eben nicht - wie behauptet - eine IS-Hochburg war, oder überhaupt mit dem IS zu tun hatte.

28. Juli 2016, die Koalition fliegt einen Angriff auf Al-Ghandura. Nach Berichten von Amnesty International traf der Luftangriff am Mittag den Marktplatz der Stadt, vermutlich auch die Grundschule. Die Koalition gab später zu, beim Kampf gegen den IS 15 Zivilisten „aus Versehen“ getötet zu haben, Airwars spricht von 25 bis 40 Toten.

22. März 2017, der Angriff auf Tabaqah: Um 17:00 Uhr traf der Luftangriff den Markt, laut mehreren Quellen auch eine Bäckerei, vor der zig Menschen in einer Schlange warteten. Human Rights Watch untersuchte den Fall und veröffentlichte eine Liste mit 44 Todesopfern, die Koalition gab die Tötung von sieben Zivilisten zu.

Und Deutschland? Ist Teil dieser Koalition, und spielt dabei eine wichtige Rolle, wie die Verteidigungsministerin immer wieder betont. 10.000 Flugstunden hat die Luftwaffe im Anti-IS-Kampf hinter sich, wie sie stolz im Internet vermeldet. 1.810 Aufklärungsflüge zählt man hier, Aufklärungsflüge, die einige der Angriffe erst ermöglicht haben.

Mindestens einer dieser deutschen Aufklärungsflüge aber führte wohl zu vielen zivilen Toten im Anti-IS Kampf: Der Angriff auf eine Schule in Al-Mansura, in der Flüchtlinge untergebracht waren.

Wir sind in Al-Mansura, einem kleinen Dorf in der Provinz Rakka. Hier stand einmal die Al Badiya-Schule, die am 20. März 2017 von der Anti-IS-Koalition angegriffen wurde. Tags zuvor wurde sie nach MONITOR-Informationen von der Bundeswehr aus der Luft aufgeklärt, als mögliches Angriffsziel.

Majid al Hassan al Ali, (Übersetzung Monitor): „Es waren vier oder fünf Raketeneinschläge, die wir kurz vor Mitternacht gehört haben. Wir wachten davon auf, wir hatten Panik. Wir liefen nach draußen und da lag die Schule in Trümmern. In der Schule lebten normale Menschen - Gott helfe ihnen - die meisten waren Flüchtlinge aus Sukhna und Tadmur.“

Um die Frage, wie viele zivile Opfer wirklich unter diesen Hügeln begraben liegen, entbrannte ein heftiger Streit. Die Vereinten Nationen sprechen von 150 unbeteiligten Menschen, darunter viele Kinder, die ihr Leben verloren. Und: Die Argumentation, man sei hier gegen IS-Kämpfer vorgegangen, sei nicht glaubwürdig.

Zitat: „Die Behauptung ist nicht haltbar, dass sich zum Zeitpunkt des Angriffs 30 IS-Kämpfer in der Schule befanden oder die Schule anderweitig vom IS benutzt wurde.“

Hanny Megally, UN-Untersuchungskommission zu Syrien (Übersetzung Monitor): „Das ist ein Kriegsverbrechen, wenn das wirklich so passiert ist. Wir wollten, dass die Koalition uns Informationen dazu gibt, aber sie haben sich stur gestellt. Angeblich waren da IS-Kämpfer in der Schule und keine Zivilisten. Jetzt sind wir soweit, dass sie 40 tote Zivilisten zugegeben haben, es sei ein Unfall oder etwas Ähnliches gewesen, aber wir brauchen mehr Informationen. Aber ganz klar: das hätte nie passieren dürfen.“

Ein mögliches Kriegsverbrechen, zu dem die Bundeswehr mit ihren Tornados vermutlich beigetragen hat? Das Bundesverteidigungsministerium teilte uns auf Anfrage mit:

Zitat: „Die Bundeswehr führt (…) keine eigenen Luftangriffe durch und ist an den Prozessen der konkreten Zielauswahl nicht beteiligt.“

Alexander Neu (Die Linke), Mitglied des Bundestages, Verteidigungsausschuss: „Man kann nicht eine spezielle Funktion in einer Koalition übernehmen, in diesem Falle die Aufklärungsfunktion durch die Tornados und dann im Nachhinein sagen, mit eventuellen Todesfällen haben wir nichts zu tun. (…) Und ich glaube, das muss auch der deutschen Bevölkerung klar werden, dass die Bundeswehr, dass Deutschland in einem Krieg ist, bei dem massenweise Zivilisten getötet werden und Deutschland genauso schuldig ist wie die Staaten, die tatsächlich bomben.“

Währenddessen geht der Kampf gegen den IS unvermindert weiter. Auch bei der Schlussoffensive seien bereits hunderte Zivilisten umgekommen, berichten Menschenrechtsorganisationen. Experten fordern, dass die USA und ihre Verbündeten die Vorfälle mit toten Zivilisten endlich umfassend untersuchen.

Hanny Megally, UN-Untersuchungskommission zu Syrien (Übersetzung Monitor): „Das muss passieren, denn wenn wir etwas aus diesem Konflikt lernen können, dann vielleicht, wie wir im nächsten Krieg Zivilisten besser schützen könnten. Wenn wir das jetzt durchgehen lassen und sagen, na ja, es ist Krieg und irgendwie sind uns da Zivilisten dazwischen gekommen, Schwamm drüber, dann werden wir so etwas in Zukunft immer und immer wieder erleben.“

Untersuchungen wären auch wichtig, um die Opfer zu entschädigen. In den letzten vier Jahren aber - so die Organisation Airwars - sei dies in höchstens fünf Fällen geschehen.

Georg Restle: „Natürlich haben wir die Anti-IS-Koalition zu allen Vorwürfen schriftlich befragt - und keine Antworten erhalten. Das ist tatsächlich unüblich, und zeigt, wie gering hier das Interesse an einer Aufklärung ist.“

Kommentare zum Thema

  • Klaus 20.03.2019, 20:06 Uhr

    Der IS ist das Resultat des Irak Kriegs und der sehr dummen Entscheidung alle Sicherheitskräfte und Armeeangehörigen des Irak zu entlassen. Wer hat den IS eigentlich ausgerüstet ,bewaffnet und finanziert? 2006 wurde schon die Entscheidung getroffen Assad zu stürzen es wurden schon vor 2011 hunderte Syrer im Libanon und Jordanien trainiert und bewaffnet.Auch die FSA gab es laut Zeugen schon vor 2011 ! In Darra wurden schon am 2 und 3 Tag Polizisten erschossen in Homs und Hama gab es mehr tote Polizisten als Demonstranten. Das wurde uns dann als friedliche Demonstrationen verkauft. Schon am 2 Tag der Unruhen hatten diese Leute schon Waffen ,dass war sicher kein Zufall.In Daara waren es Islamisten und in Homs Salafisten und die Muslim Brüder. Den Krieg in Syrien gibt es doch nur weil die Amis und Saudis einen Regimewechsel wollen und mit Mrd. jährlich Rebellen finanzieren und bewaffnen. Bis zu 1,5 Mill. Kinder starben im Irak wegen der UN Sanktionen auf Druck es Westens.Traurig!

  • Pio Ziltz 20.03.2019, 15:40 Uhr

    Liebes Monitorteam , natürlich haben die Opfer der internationalen Koalition Gerechtigkeit un Aufmerksamkeit verdient. Es haben auch diverse Medien über die Bombardements berichtet, (z.B. der Spiegel, die Zeit usw.. sowie auch viele NGO s - HRW, Amnesty). Sie schreiben ein paar Kommentare weiter unten der wäre auch für die meisten Opfer in Syrien verantwortlich, ISIS hat nicht unbedingt so viel mehr Zivilisten in Syrien ermordet wie die Internationale Koalition, das macht die Terrororganisation nicht weniger furchtbar. Wer für hunderttausende ermordete Zivilisten steht, ist das Assad Regime und für diesen Massenmord hat sich Monitor nicht besonders interessiert, obwohl bei der Fülle an Gräueltaten Assads (HRW, UN,MfS, AI) eh recht distanziert insgesamt Berichtet wird und wurde. Wenn sie ,zu Recht" kritisch über die internationale Koalition berichten, dann sollten sie auch über die Menschenrechtsverletzungen der verbündeten YPG berichten, die denen der islamistischen Rebellen ähnleln.

  • Claus Michael 19.03.2019, 21:15 Uhr

    Jürgen Todenhöfer war in dem Krisengebiet in Syrien und hat nach seiner Rückkehr in einer Life-Sendung über die Gefahr des IS berichtet. Er klagte aber auch gleichzeitig den Westen an, weil er dort viele Tote zu verantworten hatte. Auch sprach er selbst mit dem syrischen Präsidenten Assad über die Probleme, woraufhin er von Claudia Roth nur kritisiert und belächelt wurde. Unsere Politiker sollten auch mit Assad reden, anstatt immer nur einseitig Stellung zu beziehen. Mit anderen dämonisierten Präsidenten wie Putin, Trump, Erdogan oder Orban wird ja auch gesprochen. Man hat dann Jürgen Todenhöfer in keine Life-Talkshow mehr eingeladen. Den IS zu kritisieren ist ja genehm, aber mit Assad zu sprechen, das geht halt gar nicht. Wenn der Westen kritisiert wird, kommt sofort Widerspruch wie man bei einigen Kommentaren hier feststellen kann. Die Logik der bisher einseitigen Berichterstattung bei ARD und ZDF hat also schon voll funktioniert. Monitor ist mit diesem Bericht sehr mutig. Toll !