MONITOR Nr. 672 vom 05.02.2015
Unschuldig gesucht: Wie Despoten das Fahndungssystem von Interpol missbrauchen
Dialogbox
Kommentieren [3]Bericht: Lena Kampf, Jochen Taßler
Unschuldig gesucht: Wie Despoten das Fahndungssystem von Interpol missbrauchen
Monitor. 05.02.2015. 08:42 Min.. Verfügbar bis 05.02.2099. Das Erste.
Georg Restle: “Es ist ein Albtraum wie aus einem Hollywood-Film: Bei der Passkontrolle am Flughafen wird man nicht einfach freundlich durchgewinkt, sondern gleich von Polizeibeamten in Haft genommen. Irgendwo im Ausland, getrennt von der Familie, jahrelang im Gefängnis. Ohne dass man sich irgendetwas zu Schulden hat kommen lassen. Kann nicht vorkommen? Passiert leider viel zu oft. Und trifft ausgerechnet solche, die vor Verfolgung eigentlich geschützt werden sollten. Eine Geschichte über Menschen, für die der Alptraum Realität wurde. Eine Geschichte, die wir gemeinsam mit NDR und Süddeutscher Zeitung recherchiert haben.”
Carlos, genannt Schakal - der Top-Terrorist der 80er und 90er Jahre. Christopher Paul Neil, ein weltweit gesuchter Kinderschänder. Vor kurzem Luka Magnotia, ein flüchtiger Mörder. Sie alle haben eins gemeinsam, gefasst wurden sie mit Hilfe von Interpol. Dank dem, was oft „Internationaler Haftbefehl“ genannt wird. Red Notice, nennt es Interpol. Und sucht damit die Bösesten der Bösen. Es ist Interpols schärfste Waffe.
Jürgen Stock, Generalsekretär Interpol: „Das ist ein Instrument, dass überaus notwendig ist vor dem Hintergrund eben sich ausdehnender internationaler Kriminalität. Aber es ist auch ein Instrument, dass sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat.“
Auch Onsi Abichou wurde mit Hilfe einer Red Notice festgenommen. Nur ist er kein Verbrecher. Er ist Autoverkäufer in der Nähe von Paris. Im Gefängnis landete er trotzdem - unschuldig.
Onsi Abichou (Übersetzung MONITOR): „Für Interpol war ich nur ein Fall. Sie haben nicht richtig hingeschaut, und ich habe zwei Jahre meines Lebens verloren.“
Ohne seine Familie hätte er es nicht ausgehalten, sagt er. Und zeigt uns die Fotos seiner Kinder. 18 Monate saß er im Gefängnis, 18 Monate ohne Familie und ohne zu wissen, ob er je wieder frei kommt. Oktober 2009. Onsi war auf dem Weg nach Deutschland. Bei einer Routinekontrolle wurde er verhaftet, aus dem Nichts. Onsi hatte keine Ahnung, dass er in Tunesien verurteilt worden war - in Abwesenheit, wegen angeblichen Drogenhandels.
Onsi Abichou (Übersetzung MONITOR): „Als man mir gesagt hat, lebenslänglich, habe ich gedacht, was soll ich gemacht haben? Glauben die, ich hab jemanden umgebracht? Ich habe gedacht, die machen Witze. Versteckte Kamera oder so was. Ich stand komplett unter Schock.“
Onsis Verbrechen? Er hatte ein Auto verkauft. Die Käufer nutzten es in Tunesien offenbar für Drogenhandel. Sie belasteten Onsi als Komplizen, allerdings unter Folter. Das diktatorische Regime in Tunesien ließ Onsi mit Hilfe von Interpol suchen. Nach seiner Festnahme wurde er ausgeliefert und dort inhaftiert. Frei kam er erst, nachdem die Revolution das Regime weggefegt hatte. In einem neuen Prozess wurde Onsi freigesprochen. Wie kann das passieren? Wie kommt einer wie Onsi in die berühmteste Verbrecherkartei der Welt? In der Interpol-Zentrale im französischen Lyon laufen die Fäden weltweiter Fahndungen zusammen. Hier entstehen auch die Red Notices. Wenn ein Land einen Verdächtigen international suchen lassen möchte, schickt es diesen Wunsch digital an die Interpol-Zentrale. Von dort geht die Fahndung raus an alle Mitgliedsstaaten. Effektiv und sicher, sagt Interpol.
Jürgen Stocks, Generalsekretär Interpol: „Die Beantragung einer Red Notice durchläuft einen mehrstufigen Prüfungsprozess, bei dem wir Spezialisten eingesetzt haben, bei denen Juristen hier am Werke sind, die jeden einzelnen Fall überprüfen.“
Aber wie gut kann die Überprüfung sein, wenn Unschuldige wie Onsi am Ende im Gefängnis sitzen? Experten kritisieren, dass Interpol bei der Prüfung gar keinen Zugriff auf die zugrunde liegenden Akten hat. So sei eine ernsthafte Einzelfallprüfung gar nicht möglich.
Prof. Otto Lagodny, Straf- und Strafverfahrensrechtler: „Das System ist missbrauchsanfällig hoch drei, weil sobald jemand missbräuchlich jemanden eingibt in das System, läuft das natürlich. Und da hängt jetzt davon ab, dass alle den anderen vertrauen können.“
Aber sind auch alle vertrauenswürdig? Unter den 190 Mitgliedsstaaten sind eine Reihe autokratischer und diktatorischer Regime. Und die nutzen das Interpol-System immer wieder, auch um nach politischen Gegnern zu fahnden. Obwohl das nicht erlaubt ist und obwohl Interpol behauptet, jeden einzelnen Fall zu überprüfen.
Prof. Otto Lagodny, Straf- und Strafverfahrensrechtler: „Das hindert natürlich nicht, dass irgendwo ein Fall eingegeben werden, an dem nichts dran ist, außer einer politischen Verfolgung.
Reporter: „Und das würde Interpol entdecken oder nicht?“
Prof. Otto Lagodny, Straf- und Strafverfahrensrechtler: „Das würde Interpol wahrscheinlich nicht entdecken.“
Wie bei Abdul Al Mahoozi aus Bahrein. Im Juli 2014 ist er mit Frau und Kindern nach Deutschland geflohen, um hier politisches Asyl zu beantragen. Doch bei der Einreise wurde er erst einmal festgenommen.
Abdul Al Mahoozi (Übersetzung MONITOR): „Sie haben gesagt, dass ich auf der Liste von Interpol stehe. Dass sie mich verhaften müssten und ich mich von meiner Familie verabschieden solle. Das war ein Schock für mich.“
Der Hintergrund: Bahrein hatte Abdul Al Mahoozi mit Hilfe von Interpol suchen lassen. Das repressive Regime warf dem Regierungskritiker fahrlässige Tötung von 13 Menschen vor. Heute weiß man, haltlose, erfundene Vorwürfe. Trotzdem wurde die Red Notice von Interpol verbreitet. Hätten deutsche Gerichte seinen Fall nicht geprüft, wäre Abdul wohl ausgeliefert worden und unschuldig in einer Zelle verschwunden.
Abdul Al Mahoozi (Übersetzung MONITOR): „Die Regierungen benutzen Interpol wie ein Werkzeug, wie in meinem Fall und in vielen anderen Fällen auch. Sie setzen Unschuldige auf die Liste, nur um uns ins Land zurückzubringen.“
Dass es Fälle wie die von Abdul gibt, weiß Interpol. Es seien aber nur Einzelfälle.
Jürgen Stock, Generalsekretär Interpol: „Wir haben pro Jahr etwa 15.000 solcher Ersuche. Davon werden etwa zwei bis drei Prozent rechtlich angegriffen und dann durch die entsprechenden Prozesse innerhalb von Interpol überprüft. Am Ende werden etwa 0,3 Prozent dieser rechtlichen Interventionen dazu führen, dass solche Verhandlungsausschreibungen gelöscht werden.“
Imposante Zahlen. Aber das ist nur, was Interpol überhaupt entdeckt. Und, Beispiele für Missbrauch gibt es viele. Die Türkei zum Beispiel ließ die Exil-Autorin Pinar Selek per Red Notice suchen. Genauso wie andere politische Aktivisten oder Kurden. Pinar Selek wird vorgeworfen, in einen Bombenanschlag verwickelt gewesen zu sein. Bereits mehrfach wurde sie von Gerichten freigesprochen. Die Anschuldigungen gelten als politisch motiviert. Auch Russland erwirkt immer wieder Red Notices gegen Oppositionelle. Gegen den ehemaligen Banker und Putinkritiker Andrej Drobinin zum Beispiel. Er wurde wegen angeblichen Rowdytums auf die Liste gesetzt. Ein deutsches Gericht hat inzwischen festgestellt, dass die Vorwürfe politisch motiviert waren. Im Nachbarland Aserbeidschan dasselbe Spiel. Hier wurde etwa der Oppositionelle Huseyn Abdullayev per Red Notice gesucht. In seinem Fall ging es um angeblichen Steuerbetrug. Auch hier ist inzwischen klar, dass die Vorwürfe konstruiert waren. Was könnte Interpol also tun? Experten fordern zumindest einen wirksamen Rechtschutz. Die Möglichkeit, sich schnell und effektiv gegen ungerechtfertigte Verfolgung zu wehren. Aber die gibt es nicht. Betroffene haben nur eine Chance, Einspruch einlegen bei der Datenschutzkommission von Interpol.
Prof. Alexander Ignor, Anwalt: „Das Verfahren hat ein bisschen den Charakter einer Black Box. Das heißt, man steckt am Anfang einen Antrag hinein und dann wird man sehen, was im Laufe der Monate oder Jahre dabei herauskommt. Man hat kein Akteneinsichtsrecht, man hat keinen Ansprechpartner und man erfährt auch im Nachhinein nicht, wie das Verfahren gelaufen ist und warum dem Antrag stattgegeben wurde oder nicht.“
Onsi Abichou ist kein Drogendealer. Abdul Al Mahoozi hat niemanden getötet. Huseyn Abdullayev hat keine Steuern hinterzogen. Trotzdem sind alle drei unschuldig verfolgt worden. Weil das Kontrollsystem von Interpol lückenhaft ist, manche Mitgliedsstaaten das ausnutzen und Betroffene sich kaum wehren können. Und Interpol? Verbreitet so viele Red Notices wie nie zuvor.
Stand: 05.02.2015, 14:57 Uhr
3 Kommentare
Kommentar 3: Rober Bendix schreibt am 16.04.2015, 11:00 Uhr :
Nicht nur "Despoten"-Staaten...! Es sei denn, man würde auch Schweden dazu zählen! Die Fahndung nach Julian Assange per internationalem Haftbefehl, wegen der "Nichtnutzung" eines Kondoms beim zweiten Geschlechtsverkehr ist für mich einer der größten Skandale dieser Art!! Ich bin sehr verwundert, dass man speziell diesen skandalösen Fall hier nicht ebenfalls thematisiert!!
Kommentar 2: Mary Weder-O'Neill, LL.M. schreibt am 05.02.2015, 23:03 Uhr :
Interpol unterliegt französischen privat Recht. Der gelernte Jurist (und Richter) Gregor Srock betont, dass Interpol juristisch gesehen nichts als ein Verein ist, der sich aus Polizei-Organisationen zusammensetzt. Die 190 Mitglieder von Interpol sind nicht die souveränen Staaten, sondern deren jeweilige Polizeivereine. Besser wäre, wenn Interpol einem völkerrechtlichen Vertrag unterliegen würde und nach öffentlichem, internationalem Recht unter einem rechtlichen Instrument wie einer internationalen Konvention geführt werden würde. Ein Interpol-Opfer (zu Unrecht gebrandmarktes „Active Surveillance Target“) könnte die Organisation so vor Gericht auf Schadenersatz bzw. Schadensausgleich verklagen.
Kommentar 1: micha schreibt am 05.02.2015, 22:40 Uhr :
Warum werden so zwielichtige Länder wie z.B. Russland, Türkei u.s.w. nicht einfach aus dem Interpol-Verband herausgenommen ?