Georg Restle: "Es gibt kaum ein anderes Thema, auf das Bildungspolitiker und -politikerinnen gerne so stolz verweisen, wie auf das Thema Inklusion. Hört sich ja auch toll an: Kinder mit Behinderungen können am Unterricht in Regelschulen teilnehmen. Klingt nach gleichen Bildungschancen, und alle, alle werden mitgenommen. Gute Sache, wenn es da nicht einen ganz bösen Verdacht gäbe. Wird da womöglich immer mehr Kindern eine Behinderung attestiert, nur um die schönen Inklusionsziele zu erfüllen? Auch solchen Kindern, die eigentlich gar keine Behinderung haben? Werden junge Menschen also ihrer Bildungschancen beraubt, nur damit Schulen mehr Stellen bekommen? Lara Straatmann ist diesem Verdacht nachgegangen."
Das Zeichnen fasziniert Lyn. Es geht ihr leicht von der Hand. Ihr Talent hat die 19-Jährige erst spät entdeckt – und es hat ihr Mut gemacht.
Lyn: "Ich hatte damit zu kämpfen, jahrelang, so dass diese Stimme gesagt hat: Du kannst nichts, du schaffst das nicht. Aber mit der Zeit hat man das auch gelernt, dass man einfach sagt, doch, du schaffst das! Du kannst das! Du hast jetzt so viel gelernt/geschafft!"
Was sich heute kaum jemand vorstellen kann: Lyn galt seit sie 9 Jahre alt war offiziell als lernbehindert – also kognitiv stark eingeschränkt. Ein normaler Schulabschluss damit in weiter Ferne. Die Lehrer hätten ihrer Mutter erklärt, sie brauche besondere Förderung.
Mutter von Lyn: "Die haben erklärt, für mich das heißt also, das ist gar nichts. Also das Lyn, braucht sie nur Hilfe und wollte mir gerne helfen. So war es. Deswegen haben wir Unterschrift gemacht."
Lyn erhielt fortan leichtere Aufgaben, wie ein Kind mit Lernbehinderung eben. Und verlor immer mehr den Anschluss zu den anderen Kindern.
Lyn: "Ich habe nie gedacht, dass ich eine Lernbehinderung habe. Ganz in meinem Inneren habe ich schon gespürt, dass irgendwie … ja, einfach nur eine Diagnose ist, die dahingestellt wurde. Aber es macht mich nicht aus, diese Diagnose ist einfach eine Diagnose, das bin nicht ich."
Nach Jahren ließ die Mutter einen Intelligenztest machen. Das Ergebnis – eine Erleichterung: Lyns IQ liegt bei 107 – über dem Durchschnitt. Erst nach einem weiteren Gutachten und mit Hilfe der Anwältin Anneliese Quack wurde die Diagnose "lernbehindert" schließlich zurückgenommen. Und Lyn sei bei weitem kein Einzelfall, so Quack.
Anneliese Quack, Rechtsanwältin: "Das ist halt das Schlimme, die Eltern denken nicht drüber nach bzw. die denken, die Lehrer tun ihnen was Gutes, wenn sie diesen Förderschwerpunkt festsetzen. Es wird auch so verkauft. Und diese Kinder – die ich ja hier habe, wozu auch die Lyn gehört – die hat ein verdammtes Potential, was von einer Gesellschaft, die nicht richtig hinguckt, verschwendet wird."
Zu Unrecht für lernbehindert erklärt? Wie kann das sein? Es geht um die so genannte "Inklusion". Statt auf Förderschulen sollen möglichst viele Kinder mit einer Behinderung in normale Regelschulen gehen und dort besonders unterstützt werden. Eine völkerrechtliche Verpflichtung! Seit vielen Jahren bekennen sich Kultusminister*innen dazu:
Grant Hendrik Tonne (SPD), Kultusminister Niedersachsen a.D.: "Inklusion ist ein Prozess, der erfordert Einsatz, der erfordert Haltung."
Yvonne Gebauer, Bildungsministerin a.D.: "Inklusion ist ein Menschenrecht. Aber wir gehen auch diesen Weg."
Stefanie Hubig, rheinland-pfälzische Bildungsministerin: "Ich denke, dass dieser Weg der richtige ist, aber wir müssen ihn intensivieren und wir müssen noch stärker und besser bei der Inklusion werden."
Und die Bundesländer verkünden immer neue Inklusionserfolge: Die Zahl der Kinder mit Behinderung an den Regelschulen steigt deutlich. Doch ist das wirklich ein Erfolg? Zahlreiche Studien zeigen, dass die steigende Zahl von Kindern mit Behinderung an den Regelschulen mit Inklusion wenig zu tun hat.
Marcel Helbig, Sozialforscher, Wissenschaftszentrum Berlin: "Was da eigentlich passiert, ist ein Etikettenschwindel, der nur darauf zurückzuführen ist, dass wir Personen, die vorher auch schon an der normalen Schule, an der Regelschule, gewesen sind, nun aber etikettieren als lernbehindert, als behindert im Hinblick auf geistige Entwicklung oder dergleichen. Und dadurch produzieren wir mehr Zahlen, mehr Inklusion auf den ersten Blick. Aber am Ende produzieren wir nur mehr als behinderte Kinder Etikettierte."
Ein schwerer Vorwurf. Was sagt die Statistik? Von 2009 bis 2021 sank die Zahl der Kinder an Förderschulen gerade mal um etwa 55.000 Kinder. Gleichzeitig stieg die Zahl der Kinder mit einer angeblichen Behinderung in allgemeinen Schulen allerdings deutlich stärker, um mehr als 162.000 Kinder. Warum also gibt es plötzlich immer mehr Kinder mit Behinderungen? Fachleute haben eine Erklärung: Die Regelschulen erhalten zusätzliche Stellen, wenn sie Kinder unterrichten, bei denen eine Behinderung diagnostiziert wurde. Dass dies auch ein Anreiz für eine Diagnose sein kann, zeigt beispielhaft ein Brief einer Lehrkraft an Eltern, deren Kind eingestuft werden soll. Darin heißt es erstaunlich offen, ohne Förderbedarf
Zitat: "(…) entfallen automatisch Sonderpädagogikstunden und -stellen, die die Regelschulen sehr dringend brauchen."
Anders ausgedrückt: Je mehr Inklusion, umso mehr Stellen für die Regelschulen. Aus Sicht von Bildungsforschern liegt damit aber auch die Versuchung nahe, mehr Kinder als nötig als behindert einzustufen.
Prof. Hans Wocken, emer. Prof. Uni Hamburg: "Es werden einfach wahllos Kinder etikettiert, die früher als ganz normale, schwache Schüler galten. Die gibt es selbstverständlich, aber die werden jetzt sozusagen kapitalisiert, daraus wird ein Kapital geschlagen, damit man mehr Lehrerressourcen bekommt."
Schaut man sich allein die Zahl von Kindern mit geistiger Behinderung in Deutschland an, zeigt sich ein klarer Trend: Von 2009 bis 2021 stieg deren Zahl von 77.900 auf über 103.000, ein Anstieg um 33 Prozent. Auch bei Yigit hat das Schulamt eine geistige Behinderung festgestellt – noch vor der Einschulung – aufgrund eines schlechten Intelligenztests. Eine geistige Behinderung bedeutet, ein normaler Schulabschluss, ist unmöglich. Yigit kam zunächst auf die Förderschule.
Mutter von Yigit: "Wir haben uns eigentlich so ein bisschen auch lenken lassen. Also uns wurde immer gesagt ja, auf der Förderschule ist Ihr Sohn besser aufgehoben. Und wussten nicht wirklich, was geistige Behinderung zu bedeuten hat für unseren Sohn – auch für seinen späteren Lebensweg. Dass er zum Beispiel keinen Abschluss machen wird, dass er keinen Führerschein machen kann. Das war halt uns nicht bewusst."
Yigit ist nach massivem Druck der Eltern heute auf der Regelschule und gilt als Inklusionsfall. Doch die Diagnose geistige Entwicklungsstörung bleibt und hat Folgen; kein Schulabschluss, und damit keine reguläre Ausbildung oder Studium. Die Eltern plagen große Zweifel. Hat ihr Kind wirklich eine geistige Behinderung? Wir begleiten die Familie zu einem professionellen Intelligenztest. Stefan Rau ist anerkannter Gutachter, hat früher selbst für das zuständige Schulamt gearbeitet. Er kommt zu einem anderen Ergebnis.
Stefan Rau, Gutachter: "“Ich glaube tatsächlich – jetzt, nachdem ich den Yigit kennengelernt habe – ist das Eintüten von Yigit in diesem Bildungsgang fahrlässig. Mit einem Satz, man hat ihm jedwede Bildungschance geraubt."
Auf der Regelschule wird er weiter wie ein Kind mit geistiger Behinderung unterrichtet und bekommt andere Aufgaben. Seit einem halben Jahr fordern die Eltern die Rücknahme der widerlegten Diagnose – bislang ohne Erfolg. Die Bilanz bei der Umsetzung der Inklusion: Einerseits werden immer mehr Kinder mit offenbar falschen Diagnosen in Regelschulen unterrichtet. Andererseits ist der Anteil der Kinder auf Förderschulen seit 2009 nur um 0,5 Prozentpunkte zurückgegangen, in den vergangenen Jahren stieg er sogar wieder.
Prof. Marcel Helbig, Sozialforscher, Wissenschaftszentrum Berlin: "Auf der einen Seite haben wir weiter an den Förderschulen festgehalten und haben kaum es hinbekommen, dass Kinder aus diesen Förderschulen nun in das System der Regelschulen überführt wurden und dort unterrichtet werden. Und auf der anderen Seite haben wir jetzt ganz viele Kinder, die wir zusätzlich eigentlich zählen als behindert, die dann an den Regelschulen aber sind und als inklusiv beschult dann auch etikettiert werden.
Prof. Hans Wocken, Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge: "Im Grunde genommen hat Inklusion noch gar nicht angefangen. Denn der Beginn der Inklusion wäre, die Schüler mit Behinderung dürfen die Sonderschule verlassen."
Mehr Kinder mit Behinderung, kaum Abbau der Förderschulen. Lyn hat die Folgen dieser Politik zu spüren bekommen. Dennoch, ihr Kampf gegen die Diagnose hat sich gelohnt. Sie hat den Realschulabschluss geschafft und macht jetzt Fachabitur.
Georg Restle: "Bei der Kultusministerkonferenz sieht man übrigens keinerlei Handlungsbedarf. Ganz im Gegenteil, es sei erfreulich, schreibt man uns, dass die Zahl der Schüler mit Behinderungen an Regelschulen stetig steige."
Kommentare zum Thema
Deutschland ist noch meilenweit von der UN-BRK entfernt. Anstatt unser Schulsystem in irgendeiner Form bzgl. Inklusion zu loben, sollte man in andere Länder schauen und mit einem multidisziplinären Team arbeiten. Siehe Finland
Mein Sohn schaffte auf Grund einer Matheschwäche die 3.normale Klasse nicht?! Von Förderung habe ich da nie was bemerkt. Hauptsache: Kind quält sich in Wiederholung durch den Lernstoff? Schrieb er Arbeiten, so fiel auf: Antworten standen zwar auf den Blättern, aber keine Fragen? Also wie sollte man da helfen, wenn man nicht mal weiß, welche Anforderungen so gestellt wurden.Förderschule: auch da wegen Mathe: Prüfung nicht bestanden, was nun?! 2024 wird er 32.Träumt von Abendschule, wie soll er das denn schaffen, wenn vorher schon keine Infos kamen, wie man helfen könnte? Ich mochte Mathe auch nicht, aber mein Sohn war sicher noch glücklicher als ich, als Schule vorbei war?! DAS kann es doch wohl nicht sein!
Unser Sohn leidet an einer Lese-Rechtschreib-Störung, gefördert wurde er in der Schule nur anfangs. Er hatte Freunde, die sich auflösen, Lehrer sagten ihm und uns, er sei behindert. Psychiaterin sah die Schule als Problem. 3 Jahre Kampf, kein Nachteilsausgleich, keine Unterstützung in der Schule, eher im Gegenteil. Schulwechsel. Alles super, nach 8 Monaten setzte man uns massiv unter Druck. Entweder wir starten AOSF oder die Schule, was schwerwiegende Folgen haben könnte. Wir zweifelte an, dass ein korrektes Gutachten zustande kommt. Man räumte diesen Verdacht aus. Das Gutachten wurde uns nicht vorgelegt. Erst als der Beschluss da war und auch da nur mit Kampf! Das Gutachten besteht zu 80% aus falschen Aussagen. Arztberichte wurden nicht mit einbezogen, nur die negativen. Unserem Sohn wurden negative Sachen angelastet, die nie passiert sind und wir als psychisch krank dargestellt. Nun ist nichts mehr Rückgängig zu machen! Hilfe keine in Sicht. Die Schule macht unseren Sohn fertig!