Bericht: Martin Suckow, Christina Zühlke
Georg Restle: "Und jetzt zu einem ganz anderen Skandal. Ein stiller Skandal, der sich jeden Tag und überall in diesem Land abspielt. Er betrifft Millionen Menschen, vor allem Frauen. Töchter und Ehefrauen, die sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, oft 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sie tun das, weil sie die Menschen lieben, die sie zu Hause pflegen wollen. Und dafür nehmen sie jede Menge in Kauf: Den Verlust von Freizeit, von Freunden, von ihrem Job. Bezahlt werden sie dafür nicht, obwohl auch Gesundheitsminister Lauterbach das fest versprochen hat. Die Wahrheit ist, der Staat hat nur Almosen übrig für all die Menschen, die ihm umgekehrt jede Menge Kosten ersparen. Martin Suckow und Christina Zühlke."
Ein Bett mitten im Wohnzimmer – das Pflegebett von Roland Köstner. Multiple Sklerose, die Diagnose kam vor 26 Jahren. Die Krankheit und seine Pflege dominieren mittlerweile alles. Auch das Leben seiner Frau Karin.
Karin Köstner: "Wir haben eigentlich gedacht, wenn wir mal in Rente gehen, dann können wir vielleicht auch mal fortfahren, in Urlaub. Oder mal die Enkeltochter mitnehmen, oder irgendwas. Das ist alles nicht mehr möglich. Das war nicht meine Vorstellung vom Leben."
Heute hilft ihr Sohn. Sonst bleibt fast alles an ihr hängen.
Reporter: "Wie wichtig ist das für Sie, dass Sie hier so unterstützt werden?"
Roland Köstner: "Sehr wichtig."
Reporter: "Warum ist das wichtig für Sie?"
Roland Köstner: "Dass ich zu Hause bin."
Die Pflege ist eigentlich ein Vollzeitjob. Ihren Beruf als Industriekauffrau hat sie immer weiter reduziert. Doch Karin Köstner muss zumindest halbtags arbeiten, sonst reicht das Geld nicht. Freundinnen trifft sie kaum noch, sie ist zu erschöpft.
Karin Köstner: "Ja, ich muss halt alle zwei/zweieinhalb Stunden gehe ich runter und lagere meinen Mann um – jede Nacht."
Reporter: "Finden Sie nicht viel Schlaf?"
Karin Köstner: "Nein, aber ich schlafe schon die letzten 20 Jahre nicht mehr gut. Ja, ich darf mir alle die Sorgen nicht machen. Also was jetzt weiter wird und dass es jetzt alles mal besser wird – was wir ja hoffen – das ist Kopfkino."
Sorge um ihren Mann und die Sorge, dass das Geld bald nicht mehr reicht. Vor 30 Jahren sah ihre Zukunft noch anders aus: Hausbau, Geld für Hobbys, ein glückliches Leben. Doch dann kam die Krankheit. Köstner konnte nicht mehr als Zimmermann arbeiten, wurde Frührentner. Ersparnisse? Alle weg. Allein die drei Treppenlifte kosteten Tausende. Die Krankenkasse übernahm nur die Hälfte. Der Gang in die Apotheke ist teuer. Hohe Zuzahlungen für Medikamente seit Jahren. Das Geld reicht schon lange nicht mehr. 901,- Euro Pflegegeld bekommen sie – höchster Pflegesatz. Dazu die kleine Rente ihres Mannes und der Lohn für den Halbtagsjob – zu wenig.
Karin Köstner: "Ich musste kurzfristig Geld aufnehmen, ich hab mehr als 2.600,- Euro nur Heizkosten bezahlt, wo soll denn das herkommen?"
Die Situation von Karin Köstner und vielen anderen Pflegenden ist der Politik längst bekannt. Versprechungen gab es schon viele.
Jens Spahn, (CDU), ehem. Gesundheitsminister, 05.10.2020: "Was wir können, ist als Gesellschaft – als Solidargemeinschaft – bestmöglich Unterstützung geben in dieser schwierigen Situation."
Karl Lauterbach (SPD), ehem. Gesundheitspolitischer Sprecher, 12.06.2017:"Davon muss ein großer Teil bei der bisher am stärksten ausgenutzten Gruppe ankommen, das sind die Angehörigen, die zu Hause pflegen."
Karin Köstner würde jeder Euro mehr helfen. Zum Beispiel eine Erhöhung des Pflegegeldes, aber: Die 901,- Euro im Monat für den höchsten Pflegegrad gab es bereits 2017. 2018 waren es ebenfalls 901,- Euro, genauso 2019. Und auch 2020, 2021 und 2022. Vieles wurde seitdem teurer, das Pflegegeld stieg nicht. Häusliche Pflege treibt viele in die Armut, das zeigen die Zahlen. 2,2 Millionen Menschen pflegen ihre Angehörigen, 73 Prozent dieser Pflegenden sind Frauen. Und von dieser Gruppe der pflegenden Frauen drohen 25 Prozent in Armut zu rutschen.
Verena Bentele, Präsidentin Sozialverband VdK: "Das sind wirklich erschreckende Zahlen. Das sind Menschen, die mitten unter uns wohnen und so einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft und ihre Nächsten verrichten."
Schritt für Schritt, vom Sofa bis zum Tisch – eine Geduldsprobe. Angela Dismar stand mitten im Arbeitsleben, in der Solarindustrie, aber seit sechs Jahren hat sie nur noch einen Job, sie pflegt ihre demente Mutter Ursula. Rund um die Uhr, jeden Tag. Sie macht das gern. Aber auch bei den beiden ist das Geld knapp:
Angela Dismar: "Ich bin ja im Grunde die Pflegekraft, nur, dass ich kein Geld für das bekomme, was ich arbeite und tue."
728,- Euro Pflegegeld bekommen sie, für Pflegegrad vier. Die Rente der Mutter geht für die Miete drauf. Ersparnisse – aufgebraucht. Nachts liegt Angela Dismar oft wach und grübelt.
Angela Dismar: "Wie ich unser Leben finanzieren soll, wie es weitergehen soll, um, ja, diesen Dienst an meiner Mutter und an der Gesellschaft, den ich gleichzeitig tue, auch noch weiter … weiter leisten zu können."
Dabei gab es 2021 ein Versprechen, damit es Pflegenden finanziell besser geht. Im Koalitionsvertrag steht:
Zitat: "Wir dynamisieren das Pflegegeld ab 2022 regelhaft."
Ein höheres Pflegegeld also. Warum hat Karl Lauterbach das noch nicht umgesetzt? Ein Interview wollte uns der Minister dazu nicht geben. Schriftlich heißt es:
Zitat: "[...] die Höhe der Anpassung des Pflegegelds ist in ein Gesamtkonzept [...] einzubetten, welches derzeit entwickelt und zeitnah vorgestellt wird."
Verena Bentele, Präsidentin Sozialverband VdK: "Ich finde es extrem ärgerlich, dass in 2022 wieder mal nix passiert ist für die Pflege zu Hause. Die allermeisten Menschen werden nicht in Einrichtungen, sondern zu Hause gepflegt. Und für diese Menschen und ihre Angehörigen wäre die Erhöhung des Pflegegelds wirklich so unglaublich wichtig."
Und die Ampelkoalition hatte Angela Dismar und den vielen anderen Pflegenden noch mehr versprochen. Einen sogenannten "Lohnersatz". Geld für die, die ihre Arbeit aufgeben, um zu pflegen. Angela Dismar würde das nicht viel helfen, da sie ja schon lange nicht mehr arbeitet. Auch viele Frauen, die Teilzeit arbeiten, hätten von einem Lohnersatz nur wenig. Der Sozialverband VdK schlägt deshalb vor, dass Menschen, die pflegen, einen richtigen Pflegelohn bekommen sollen. Zum Beispiel 12,- Euro pro Stunde, wie beim Mindestlohn.
Prof. Peter Haan, Deutsches Insititut für Wirtschaftsforschung: "Also das Besondere bei dem Pflegelohn ist eben, dass tatsächlich der Stundenlohn pro Stunde Arbeit der Pflege, die man macht, dass das bezahlt wird und nicht in Abhängigkeit von dem, was man früher gemacht hat. Und hat den Vorteil, dass auch die Haushalte, die besonders von Armut bedroht sind, hier eine hohe Leistung bekommen könnten."
Angela Dismar, die ihre Mutter Vollzeit pflegt, hätte dann viel mehr Geld zur Verfügung als jetzt. Gut 2.000,- Euro, abzüglich Steuern. Das würde ihr wirklich helfen.
Angela Dismar: "Ich wurde auch schon mal gefragt, arbeitest du denn nicht? Und dann sag ich, … doch, ich kriege nur kein Geld dafür. Also natürlich arbeite ich – mach das mal!"
Auch für Karin Köstner wäre ein echter Lohn eine Anerkennung. Für eine Arbeit, die kaum einer sieht.
Georg Restle: "Wenn alle pflegenden Angehörigen in Deutschland auf die Straße gehen würden, wär dies die größte Demonstration, die das Land je gesehen hat. Warum es dazu nicht kommt? Weil den Allermeisten dafür vermutlich schlicht die Kraft fehlt."
Kommentare zum Thema
Eine Frechheit was Pflegenden anhörigen unterstellt wird ! Sie würden das Geld für Sich verbrauchen ! Und nicht für den zu pflegenden man müsste da mehr Kontrollieren! Das sollte man man den ambulanten Pflegediensten machen für Anfahrten 2 mal abrechnen ob wohl sie nur 1 machen das ist Betrug selbst wenn man das der Kasse meldet ! Es stört diese nicht ! Haben Sie schon mal eine An ALS erkrankte Mutter gepflegt ? Wenn nein das halten Sie einfach den Mund ! Nur schlecht Gelaunt agressiv einen gegen über weil sie immer weniger kann ! Schlägt einen ! Bis der Hausarzt meinte. Sie brauchen Schlaf die letzten 3 Monate war sie im Heim und ich konnte ausschlafen was ich 3 Jahre nicht mehr konnte ! Ich war tagsüber trotzdem im Heim ! Erzählen Sie nicht so einen blödsinn ! Angehörige werden ausgenutzt ! Die Pflege Kräfte gehen nach 8 Stunden nach Hause und haben ihre Ruhe , das haben Angehörige nicht! Es muss eine volle Pflegeversicherung her und das Pflegegeld muss verbessert werd!
Bitte nicht die Eltern behinderter Kinder vergessen.
Alles absolut so wie es in dem Beitrag geschildert ist . Zudem muss dringend etwas getan werden um mehr Kurzzeit Pflegeplätze anzubieten . Ich würde sehr gerne mal Urlaub machen und was passiert wenn ich mal krank werde ? Bei der ständigen Überlastung nur eine Frage der Zeit .