Monitor Nr. 661 vom 22.05.2014

Freihandelsabkommen TTIP: Angriff auf die Demokratie?

Bericht: Nikolaus Steiner, Kim Otto, Philipp Jahn, Bastian Pietsch

Freihandelsabkommen TTIP: Angriff auf die Demokratie?

Monitor 22.05.2014 06:28 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

Moderation Georg Restle: „In drei Tagen wird in Deutschland das Europa-Parlament gewählt. Aber während hier der Wahlkampf eher langweilt, wird ganz anderswo über die Zukunft Europas verhandelt. In einem Vorort von Washington sitzen in diesen Stunden die Unterhändler des Freihandelsabkommens TTIP zusammen, alles streng geheim. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob unsere Autos künftig gelbe oder rote Blinker haben sollen. Es geht um viel mehr, um unsere Krankenhäuser, unsere Universitäten oder den öffentlichen Nahverkehr. Kritiker des Abkommens befürchten eine riesige Privatisierungswelle und eine Entmachtung unserer Parlamente. Nikolaus Steiner, Philipp Jahn und Bastian Pietsch haben Einblicke in geheime Dokumente bekommen, die zeigen, was da alles auf uns zukommt.”

Europawahlkampf in Hannover, Proteste gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Während sie hier demonstrieren, wird auf der anderen Seite des Atlantiks Europas Zukunft verhandelt. Irgendwo hier, in einem Vorort von Washington. Der genaue Ort ist streng geheim.

Reporterin (Übersetzung MONITOR): „Wo finden denn nun die Verhandlungen statt?“

Teilnehmer: „Überall in dieser Gegend.“

Nur soviel ist klar: Laut Tagesordnung geht es um wesentlich mehr als Chlorhühnchen. Es geht um Waren und Dienstleistungen, Investment, regulatorische Fragen, Gesundheits- und Pflanzenschutz. Die Frage ist wohl eher: Worum geht es eigentlich nicht? Viel mehr als die Tagesordnung ist nicht bekannt. Bundestag, Bundesländer, Bundesregierung - sie alle haben keinen Zugang zu den US-Verhandlungsdokumenten. Inzwischen regt sich auf allen Ebenen Protest. Viel näher als Hans-Jürgen Blinn kann man den Verhandlungen nicht kommen. Seit mehr als zehn Jahren vertritt er den Bundesrat im handelspolitischen Ausschuss in Brüssel. Freihandelsabkommen sind für ihn Routine - eigentlich.

Hans-Jürgen Blinn, EU-Bundesratsbeauftragter: „So etwas habe ich in den letzten Jahren noch nie erlebt. So kann man nicht miteinander umgehen. Schließlich sind die Bundesregierung und auch der Bundesrat sind Verfassungsorgane. Wir reden jetzt noch nicht einmal über die breite Öffentlichkeit, in die diese Papiere getragen werden könnten. Sondern wir reden von Verfassungsorganen, wir reden von politisch verantwortlichen Institutionen, die nicht wissen, über was die Kommission und die Amerikaner im Moment verhandeln.“

Beispiel Chemie. Ein Milliardengeschäft. Viele Chemikalien auf dem US-Markt sind hier in der EU nicht zugelassen. Giftige Stoffe etwa, die Textilien wasserabweisend machen oder Teppiche und Polstermöbel feuerfest. Michael Braedt ist im niedersächsischen Umweltministerium zuständig für Chemikaliensicherheit. Er befürchtet, dass durch das Freihandelsabkommen auch Chemikalien nach Europa gelangen könnten, die hier nicht zugelassen sind.

Michael Braedt, Referat für Chemikaliensicherheit Umweltministerium Niedersachsen: „Die Standards in Europa könnten durch TTIP umgangen werden. Ein Beispiel: Asbest, gibt es hier ein europaweites Totalverbot. Asbest ist in der USA beispielsweise nur in Schulen verboten. Und weiterhin eine ganze Masse unbekannter Chemikalien, wo wir in Europa wissen durch die Tests, ob sie gefährlich sind oder nicht. In der USA kommen sie ohne Tests auf den Markt und kämen dann über den Umweg TTIP auch nach Europa.“

Die US-Industrieverbände fordern schon lange, dass das amerikanische Zulassungsverfahren gilt. Nicht das europäische. In einem Wunschzettel der US-Industrie-Lobby heißt es:

Zitat: „Wissenschaftsbasierte Entscheidungsfindung und nicht das Vorsorgeprinzip muss der definierende Grundsatz sein...“

„Wissenschaftsbasierte Entscheidungsfindung“ statt „Vorsorgeprinzip“ - klingt harmlos. Für den Chemieexperten Braedt aber geht es dabei um einen Kern des europäischen Verbraucherschutzes.

Michael Braedt, Referat für Chemikaliensicherheit Umweltministerium Niedersachsen: „Das Vorsorgeprinzip ist die Philosophie, dass die Firma nachweisen muss, dass der Stoff, den sie auf den Markt bringt, für Mensch und Umwelt ungefährlich ist. In der USA werden die Stoffe zugelassen, zum Teil ohne Tests, und dann können später die Menschen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, können natürlich über Gerichtsprozesse sich wieder die Kosten rausholen. Aber, ich sag es mal ganz offen, was in der USA läuft, ist im Vergleich zu Europa ... sind Menschenversuche mit Chemikalien.“

MONITOR liegen mehrere Dokumente aus den geheimen Verhandlungen vor - auch der Bericht der vierten Verhandlungsrunde. Und tatsächlich: Die „Wissenschaftsbasierte Risikobewertung“ konkurriert hier mit dem „Vorsorgeprinzip“. Werden also zentrale europäische Werte für den freien Handel geopfert? Die EU-Kommission beschwichtigt.

Frank Hoffmeister, stellv. Kabinettschef EU-Handelskommissariat: „Die amerikanische Position wird sich nicht durchsetzen, insofern brauch ich darüber nicht zu spekulieren. Die Gesetzgebung beispielsweise zu genmodifizierten Organismen, die in Europa besteht und klare Regeln voraussetzt, bleibt bestehen. Es wird nicht zu einer Aufweichung dieser Regeln kommen.“

Also keine giftigen Chemikalien und kein Genmais? MONITOR liegt ein geheimer Entwurf des Freihandelsabkommens mit Kanada vor, das kurz vor dem Abschluss steht. Darin klingt das ganz anders: Bei der Biotechnologie etwa, zu der auch die Gentechnik zählt, wollen die Partner…

Zitat: „…effiziente wissenschaftsbasierte Zulassungsprozesse für Biotechnologieprodukte fördern.

Eine Einschränkung des Vorsorgeprinzips?

Bärbel Höhn (B’90/Grüne), Vorsitzende Umweltausschuss Deutscher Bundestag: „Anders als bei dem amerikanischen Abkommen, wo ja immer gesagt wird, ja, wer weiß, was da raus kommt, wissen wir im kanadischen Abkommen, was drin steht. Und natürlich können wir sagen, damit sind aber Probleme verbunden für den Verbraucherschutz, da sind die Verbraucherschutzinteressen überhaupt nicht mehr richtig berücksichtigt. Also ist dies kanadische Abkommen eine Blaupause fürs amerikanische. Wenn das kanadische verabschiedet ist, warum soll man diese Passagen den Amerikanern eigentlich in ihrem Abkommen verweigern?“

Um das Vorsorgeprinzip geht es auch bei der umstrittenen Fracking-Methode. In Kanada und den USA wird sie längst eingesetzt. Dabei werden Chemikalien in den Boden gepumpt, um Erdgas zu fördern - die Folgen nicht absehbar. In Europa greift genau hier das Vorsorgeprinzip. Mit TTIP könnte sich das ändern, fürchten die Umweltminister aller Bundesländer.

Franz Untersteller (B’90/Grüne), Vorsitzender der Umweltministerkonferenz: „Wenn wir das Thema Fracking in Deutschland oder in Europa kritisch sehen und sagen, wir wollen dieses nicht bei uns anwenden in Deutschland. In Baden-Württemberg werden vier Millionen Leute aus dem Bodensee mit Wasser, mit Trinkwasser versorgt. Und wir sehen das äußerst kritisch, dass dann es sozusagen über die Hintertür eingeführt werden kann, weil in den USA Fracking zugelassen ist. Und nach allem, was man hört, sozusagen bei der Anerkennung der gegenseitigen Rechtssysteme es zukünftig dadurch leichter wird, auch Fracking bei uns durch die Hintertür einzuführen.“

Aber es geht um noch viel mehr. Brüssel vor einigen Tagen - Wasserwerfer gegen TTIP-Gegner, rund 250 Demonstranten werden festgenommen. Die Angst vieler Protestierender: Eine Privatisierungswelle bei öffentlichen Dienstleistungen. Im Verhandlungsmandat ist vom „höchsten Liberalisierungsniveau“ die Rede - und zwar für „im Wesentlichen alle Sektoren und Erbringungsarten“. Alle Sektoren - das beträfe auch alle öffentlichen Dienstleistungen. Städtische Krankenhäuser zum Beispiel, die Müllabfuhr, Schulen und Universitäten, am Ende vielleicht sogar die Trinkwasserversorgung, auch wenn die Kommission das bestreitet. Sorgen macht sich deshalb auch Ulrich Maly. Als Präsident des Städtetags vertritt er rund 3.200 Kommunen in ganz Deutschland. Und die könnten mit TTIP unter massiven Privatisierungsdruck geraten, glaubt er.

Ulrich Maly (SPD), Präsident deutscher Städtetag: „Freihandel ist auch Freiheit von Dienstleistungsverkehr. Und die öffentlichen Dienstleistungen, die deutsche Tradition der Daseinsvorsorge ist der EU ja schon immer ein Dorn im Auge. Und es könnte durchaus sein, dass über TTIP, sozusagen über die Hintertür eine erneute Liberalisierungsdrohung zumindest im Raum steht.“

Auch hier wiegelt die Kommission ab. Es sei vollkommen normal, dass erst einmal alles auf den Verhandlungstisch komme, und später die Ausnahmen definiert würden.

Frank Hoffmeister, stellv. Kabinettschef EU-Handelskommissariat: „Bevor die Verhandlungen überhaupt angefangen haben, zu sagen, das und das ist ausgeschlossen, ist also nicht der Ansatz, den sowohl die Europäische Union als auch die USA gewählt haben. Unsere 28 Mitgliedsstaaten, die die Kommission ja wie bekannt beauftragt haben, haben das auch genau so gewollt.“

Das heißt also, auch die Bundesregierung hat das umfassende Verhandlungsmandat mitgetragen. Dabei hätte sie sich von Anfang an für Ausnahmen und mehr Transparenz einsetzen können.

Ulrich Maly (SPD), Präsident deutscher Städtetag: „Das ist leider kein sehr schönes Beispiel dafür, wie ein politischer Prozess gut läuft, sondern eher ein abschreckendes Beispiel dafür. Es heißt freier Handel, aber es wird völlig unfrei verhandelt. Keiner weiß, was los ist, mangelnde Transparenz, keine demokratische Kontrolle und die, die betroffen sind, werden nicht gehört. Ein schwieriger Prozess.“

Doch es wird weiterverhandelt - über Europas Zukunft, hinter verschlossenen Türen.

Stand: 30.06.2014, 12:34 Uhr