MONITOR Nr. 675 vom 30.04.2015

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Wie die EU Fluchtursachen schafft, statt sie zu bekämpfen

Bericht: Achim Pollmeier, Frank Konopatzki, Gregor Landwehr

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Wie die EU Fluchtursachen schafft, statt sie zu bekämpfen Monitor 30.04.2015 07:52 Min. Verfügbar bis 30.04.2999 Das Erste

Georg Restle: „Keine zwei Wochen liegt die letzte große Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer jetzt zurück. Und für kurze Zeit bestand die Hoffnung, dass der tausendfache Tod im Meer die Politik tatsächlich zum Umdenken zwingen könnte. Hoffnungen, die heute schon wieder zerstoben sind. Denn was wurde da eigentlich beschlossen? Ein bisschen mehr Geld für ein Seenotrettungsprogramm, das nicht funktioniert. Ein bisschen mehr Militär, ein bisschen Aktionismus gegen die sogenannten Schlepper. Das war's. Und immer wieder gab es eine Forderung: Fluchtursachen müssen bekämpft werden. Allerdings sollte man genau hinhören, wer das eigentlich fordert. Nämlich die gleichen Politiker, die diese Fluchtursachen zu verantworten haben. Wir beginnen unsere Geschichte mit einem Mann, der sich vor fünf Jahren nach Europa aufgemacht hat. Ins gleiche Europa, das ihm seine Lebensgrundlage entzogen hat.“

Das ist die Geschichte von Souleyman, Fischersohn aus dem Senegal. Als diese Bilder vor fünf Jahren entstanden, war er kurz vor dem Aufbruch.

Souleyman (Übersetzung MONITOR): „Ich kann nicht länger auf dem Boot arbeiten. Ich habe mich entschieden hier Schluss zu machen und aufzubrechen. Ich bereite mich jetzt vor allem darauf vor, zu gehen.“

Souleymans Großvater war Fischer, sein Vater auch. Souleyman wird Flüchtling. Fisch gibt es hier kaum noch, den haben sich andere geholt.

Große Fischtrawler aus aller Welt - vor allem auch aus der EU. Jahrelang hatten sie sich für wenige Millionen die Fangrechte erkauft - und Fisch für Milliarden erbeutet. Er war die Lebensgrundlage für Hunderttausende in Westafrika.

Francisco Marí, Brot für die Welt: „Die Situation in den Fischerdörfern in den Gemeinden ist verzweifelt.“

Francisco Marí - der Entwicklungshelfer bereist regelmäßig Länder, aus denen Armutsflüchtlinge nach Europa wollen.

Francisco Marí, Brot für die Welt: „Und, natürlich, gerade die jungen Fischer sehen keine Perspektive mehr in diesem Beruf. Und werden über kurz oder lang sich überlegen andere Wege zu suchen, um ihren zukünftigen Familien zu ernähren und eine Lebensperspektive zu haben.“

In Niodor sind viele schon weg. Souleymans älterer Bruder hat sich schon vor Jahren aufgemacht. Und er hat es geschafft. Er lebt und ist in Europa.

Souleyman (Übersetzung MONITOR): „Ich werde es wie die anderen machen und gehen, um Geld zu verdienen. Der Rest liegt in Gottes Hand. Aber ich werde meine Chance suchen, genau wie sie!“

Wie schwer der Weg wird, ahnt Souleyman noch nicht. Aber er wird gehen, wie zehntausende, die ihre Heimat verlassen.

In Ghana trifft es die Bauern. Den Grund findet man an den Ständen der Marktfrauen: Lauter tief gefrorenes Hühnerfleisch. Reste und Überproduktion aus Europa. Ganz Westafrika wird überschwemmt davon. Das Suppenhuhn aus Deutschland kostet nicht mal halb so viel wie das Fleisch vom einheimischen Bauern. Etliche haben längst aufgegeben, Arbeitsplätze und Einkommen sind zerstört.

Für Europas Agrarwirtschaft ist Afrika ein Riesenmarkt. Industrielle Haltung und Subventionen machen die Preise unschlagbar. Nicht nur für Hühnerfleisch.

Das sind die Agrarexporte aus der EU nach Afrika. Fleisch, Gemüse, Getreide: Seit Jahren steigen sie dramatisch an. Und sie sollen weiter wachsen.

Gerade erst hat die EU die Milchquote abgeschafft. Jeder Bauer darf jetzt so viel Milch produzieren, wie er will. Es ist das alte Spiel. Mehr Milch, das bedeutet auch: Noch mehr billiges Milchpulver - ausdrücklich auch für den Export nach Afrika.

Jean Feyder, Botschafter a. D.: „Das zeigt, wie rücksichtslos wir Europäer da einfach vorgehen!“

Jean Feyder. Der Handelsexperte war Botschafter Luxemburgs bei der Uno und der Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen.

Jean Feyder, Botschafter a. D.: „Wir wollen nur unsere Produzenten da sehen und deren Interessen da fördern, Punkt fertig. Dass wir damit einheimische Wirtschaftssektoren zerstören und große Probleme schaffen für diese Gesellschaften, und auch Probleme im Bereich der Flüchtlingsströme und so weiter, das übersehen wir völlig.“

2013 in Marokko, Tanger. Der Mann im gestreiften Trikot, das ist Souleyman, der Fischersohn aus dem Senegal. Drei Jahre ist er nun weg von zu Hause - und ernüchtert. Zehn Mal ist er schon raus aufs Mittelmeer, meist mit Schlauchbooten. Immer wurde er abgefangen.

Immerhin lebt er noch. Fast jeder hat auf der Flucht schon Freunde verloren. Jetzt stecken sie hier fest. Ständig Angst vor der Polizei, keine Arbeit, kaum zu essen. Hier hausen sie und hoffen auf eine nächste Chance. Zurück nach Hause geht keiner.

Souleyman (Übersetzung MONITOR): „Wir sind gekommen, um es zu schaffen. Wir wissen schon, dass man uns hier nicht haben will. Wir bleiben für uns, versuchen möglichst nicht aufzufallen. Aber wir wollen ja nichts Böses. Wir wollen auch nicht bleiben, wir wollen weiter.“

Souleyman und ein paar andere wollen es jetzt auf einem anderen Weg versuchen. Sie wollen es nach Ceuta schaffen.

Ceuta - ein kleiner Zipfel in Nordafrika, der zu Spanien gehört. Wer es hierher schafft, wird vielleicht zur Registrierung auf die andere Seite gebracht. Rüber nach Europa.

Davor sind meterhohe Zäune. Daneben ist das Meer. Souleyman und ein Freund wollten nachts am Zaun vorbei schwimmen. Der Freund hat es nicht überlebt.

Jetzt also sollen Fluchtursachen bekämpft werden. Die Realität ist eine andere.

Aktuell drängt die EU afrikanische Staaten zum Abschluss von einzelnen Handelsabkommen. Vorgeblich geht es um Entwicklung, um Wachstum und Wohlstand. Für Kritiker ist es genau der Weg, der die Armut in vielen Ländern nur verschärft.

Jean Feyder, Botschafter a. D.: „Das sind Freihandelsabkommen, und diese Abkommen haben als Ziel, die Märkte noch weiter zu öffnen, mit dem Resultat, dass die noch weniger Möglichkeit haben, ihre Kleinproduzenten zu schützen.“

Einige Länder wurden förmlich genötigt, solche Abkommen mit der EU abzuschließen - 33 habenbisher eins unterzeichnet. Darunter viele, aus denen die Flüchtlinge kommen. Das Ziel: einemöglichst weit reichende Liberalisierung.

Wie weit, zeigen bisher vorliegenden Abkommen. Die meisten Einfuhrzölle für Waren aus der EU werden in den jeweiligen Ländern „endgültig abgeschafft“. Auf hunderten Seiten wird aufgeführt, für welches Produkt und wie schnell. Am Ende sind 80 Prozent der Zölle weg.

Jean Feyder, Botschafter a. D.: „Wenn das eintritt, werden noch immer mehr Afrikaner ihrer Heimat den Rücken drehen und unter allen Umständen versuchen, andernorts anzukommen, auch über das Mittelmeer, über Lampedusa, Ceuta und Melilla und so weiter.“

So wie Souleyman, der Fischersohn. Er hat es geschafft, er ist in Europa, untergetaucht als illegaler Erntehelfer in Südspanien. Nach über zehn Jahren hat er auch seinen Bruder wieder getroffen.

Sie haben Arbeit und können ein bisschen Geld nach Hause schicken. So bekämpfen sie die Ursachen ihrer Flucht. Sie haben ihr Versprechen gehalten.

Georg Restle: „Ja, dem ist dann wirklich nichts mehr hinzuzufügen.“

Kommentare zum Thema

  • Anonym 21.06.2015, 16:35 Uhr

    klar Menschen helfen Menschen . Nur wo um Himmels Willen sind auf dem Boot die Frauen ,Kinder, und alte Leute wir werden in Europa verschaukelt und ausgenommen was die Länder jahrelang gespart haben hört auf das ist modernes trojanisches Pferd

  • MB 15.06.2015, 13:55 Uhr

    Auch die EU importiert in Warenwert mehr Lebensmittel, als sie ausführt. Auch die Anzahl der europäischen Bauern hat sich seit den 50ern stark reduzierter. Ebenso ist die deutsche Kleinküstenfischerei nur noch folkloristisches Beiwerk. In einer Januarausgabe der Zeit wurden die reinen Erzeugerkosten für ein afrikanisches Huhn mit 1,80$ beziffert. Da das für die Mehrheit der Schwarzafrikaner einem Tagesgehalt entspricht, würde mich interessieren, wie viel einheimisches Hühnerfleisch denn seither verkauft wurde. Bleibt noch die Frage, wie der Flüchtling Suleyman 10 mal hintereinander die Schleppergebühren aufgebracht hat.

  • Marco 02.05.2015, 13:59 Uhr

    Klar haben die länder selbst das abkommen unterzeichnet! Aber die EU mit ihren falschen Idealen ?Flüchtlinge aufnehmen, aber niemand versteht dass man mit der selben Investition in afrika selbst 1000x mehr leuten helfen kann) und mit fur uns europaer "günstigen" fangrechten die leute dort ausbeutet und denen die lebensgrundlage nimmt! Die EU ist wie ein diktatorisches regime, keiner innerhalb der EU erfährt was die eigrntlich hinter unserem rücken abziehen!