MONITOR vom 05.11.2015

Fluchtursachen bekämpfen? Wie die Flüchtlinge im Irak im Stich gelassen werden

Kommentieren [4]

Bericht: Georg Heil, Volkmar Kabisch

Fluchtursachen bekämpfen? Wie die Flüchtlinge im Irak im Stich gelassen werden

Monitor 05.11.2015 06:30 Min. Verfügbar bis 05.11.2099 Das Erste

Georg Restle: „Wie hoch die Kosten in Zukunft sein werden, das hängt auch davon ab, ob es gelingt, Fluchtursachen erfolgreich zu bekämpfen. Das Problem ist nur, der Krieg in Syrien wird sich eben nicht von heute auf morgen beenden lassen. Manchmal aber wäre es gar nicht so schwer, Menschen von der Flucht abzuhalten. Zum Beispiel in den Flüchtlingslagern im Nordirak, wo man mit wenig Geld viel erreichen könnte - könnte! - wie Ihnen Georg Heil und unser NDR-Kollege Volkmar Kabisch zeigen.“

Dominik Bartsch koordiniert die Hilfe der Vereinten Nationen im Irak. Heute besucht er das Flüchtlingslager Baharka im Norden des Landes. Die meisten der rund 4.000 Bewohner kommen aus Mossul, sie gehörten früher zur Mittelschicht. Als der IS ihre Stadt in einer Blitzoffensive eroberte, mussten sie überstürzt fliehen. Die Familie hier verlor dabei fast alles.

Abu Rami, Flüchtling aus Mossul (Übersetzung Monitor): „Ich dachte damals, dass meine Situation bald wieder besser werden würde. Alles, was ich besaß, ist weg. Nichts ist übrig geblieben. Seit anderthalb Jahren bin ich jetzt hier im Zelt.“

Sie zeigen Dominik Bartsch ein Handyvideo. Man sieht, dass die UNO-Zelte den Sandstürmen und dem nahenden Winter nicht gewachsen sind.

Dominik Bartsch, UN-Hilfskoordinator im Irak: „Da ist natürlich völlig berechtigt von seiner Warte, dass er sagt, warum können wir hier nicht richtige Caravans hinstellen? Und das ist dann oftmals, wo die Konversation aufhört, weil ich kann nichts weiter anbieten, wenn wir nicht die Möglichkeit haben zu investieren in diese Caravans, in diese festen Behausungen.“

Im Lager mangelt es an Grundsätzlichem, eine Bewohnerin hat den Beweis mitgebracht.

Übersetzer: „Sie beklagt sich über die Qualität des Wassers im Camp. Das ist die aktuelle Wasserqualität hier.“

Nach der Flucht hatte die Familie noch gehofft, bald nach Hause zu können. Diese Hoffnung haben sie inzwischen aufgegeben, und viele andere auch.

Abu Rami, Flüchtling aus Mossul (Übersetzung Monitor): „90 Prozent der Diskussionen im Camp handeln von der Flucht ins Ausland, weil sich seit anderthalb Jahren nichts verbessert.“

Sohn von Abu Rami, Flüchtling aus Mossul (Übersetzung Monitor): „Ich will das Land verlassen, jetzt wo ich noch jung bin. Denn hier gibt es keine Arbeit, keine Zukunft.“

Das Problem betrifft nicht nur die Menschen in diesem Lager. 3,2 Millionen Binnenflüchtlinge gibt es im Irak, und viele überlegen sich jetzt zu gehen, weil die UNO nicht ausreichend helfen kann.

Dominik Bartsch, UN-Hilfskoordinator im Irak: „Die UN hat Anfang dieses Jahres einen Bedarfsplan zusammengestellt, der wirklich nur das allernötigste beinhaltet. Da geht es um die Wasserversorgung, Nahrungsmittel, medizinische Grundvorsorgung. Und das ganze Paket zusammengeschnürt, sind 500 Millionen US-Dollar. Das ist für sechs Monate, geht noch bis Ende diesen Jahres. Momentan, heute haben wir 40 % davon erhalten. Das heißt, da klafft noch eine sehr große Lücke.“

Wir fahren in ein anderes Camp, zwei Stunden nördlich, in der Nähe von Dohuk. Hier leben vor allem Jesiden. Die religiöse Minderheit floh vor einem Völkermord. Hier im Camp sind sie immerhin vor Mord oder Massenvergewaltigungen sicher. Doch es fehlt schon am Lebensnotwendigen.

Dominik Bartsch, UN-Hilfskoordinator im Irak: “Das ist eine halbe Ration. Das soll jetzt also langen für zehn Personen für den Monat. Also das ist doch klar, dass das nicht funktioniert.“

15 Kilogramm Lebensmittel und 5 Liter Öl. Helfer aus dem nahen Dorf geben manchmal noch Brot dazu. Doch sicher sind nur 50 Gramm Nahrung und 16 ml Öl - pro Kopf und Tag. Die Bundesregierung hat erkannt, dass mehr getan werden muss, und Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Die UNO-Organisationen soll besser finanziert werden.

Frank-Walter Steinmeier, SPD, Bundesaußenminister: „Es ist ein Skandal. Wenn diese Organisationen so unterfinanziert sind, dass sie Essensrationen und ärztliche Hilfe streichen müssen. Vorgestern habe ich deshalb die G7-Staaten und andere Partner zusammengerufen und ich freue mich, dass wir gemeinsam 1,8 Milliarden Dollar, das sind mehr als 100 Millionen Euro aus meinem Land zusätzlich für die Hilfswerke der Vereinten Nationen zusammengebracht haben.“

Doch nur ein sehr geringer Teil geht überhaupt in den Irak. Für die Opposition viel zu wenig und vor allem, gar kein neues Geld.

Tobias Lindner, B‘90/Die Grünen, Bundestagsabgeordneter: „Man kann auch sagen, öffentlich ist es eine ziemliche Mogelpackung. Da geht es nicht um neues Geld, sondern um Geld, das sowieso im Haushalt bereitgestellt worden ist.“

Das zusätzliche Geld eine Mogelpackung? Längst eingeplant und eben nicht zusätzlich? Monitor fragt im Auswärtigen Amt mehrfach nach - ohne klare Antwort. Doch wir erfahren aus der Regierung: Neu ist das Geld tatsächlich nicht, es sei vorher nur noch keinem konkreten Projekt zugeordnet worden. Es würde aus dem ohnehin geplanten Haushalt finanziert. Könnte eine neue Flüchtlingswelle drohen? Diesmal aus dem Irak? Im Flüchtlingslager Khanke ist diese Frage schon längst beantwortet.

Flüchtling (Übersetzung Monitor): „Wir wollen nach Deutschland gehen. Wir haben dort schon viele Verwandte.“

Die Menschen hier brauchen Perspektiven - für sich, vor allem aber für ihre Kinder. Doch so sieht die Schule im Lager aus - seit dem letzten Sturm.

Dominik Bartsch, UN-Hilfskoordinator im Irak: „Das sind alles Pflaster, die wir hier anbringen. Ja, das sind Notbehelfe, das ist keine richtige Schule. Das ist eine Schule, wie man sie hat ein paar Wochen, nachdem ein … Nachdem die Flüchtlinge ankommen, wird in solchen Umständen unterrichtet. Die sind aber nicht vor ein paar Wochen angekommen, sondern das ist schon jetzt mehr als ein Jahr her.“

500 Millionen Dollar bräuchte Bartsch und bekommt sie nicht zusammen. Und, in dieser Summe sind die Schulen noch nicht einmal vorgesehen.

Dominik Bartsch, UN-Hilfskoordinator im Irak: „Jetzt stellen Sie sich vor, Sie würden in diesen Umständen leben. Ist das nicht vorstellbar, dass in diesem Umfeld Leute auf den Gedanken kommen, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich muss hier weg!“

Die Menschen im Irak stehen vor der Wahl: Bleiben oder gehen. Deutschland könnte helfen, dass viele bleiben wollen.

Stand: 03.11.2015, 14:39 Uhr

Kommentare zum Thema

Kommentar schreiben

Unsere Netiquette

*Pflichtfelder

Die Kommentartexte sind auf 1.000 Zeichen beschränkt!

4 Kommentare

  • 4 S. Kaiser 09.11.2015, 12:08 Uhr

    Wie häufig treten solche zerstörerische Stürme auf? Hätten nicht ein paar der jungen Männer Hand anlegen können, um das Schulzelt wenigstens wieder einigermaßen aufzustellen?

  • 3 H.Ewerth 06.11.2015, 12:53 Uhr

    @Geisler Hallo, seit wann ist im Irak der Krieg vorbei? Der sog. "War on Terror" existiert doch seit dem Überfall auf den Irak durch den Westen doch noch immer? Oder haben Sie noch nichts von den Drohnen Einsätzen, welche täglich geflogen werden gehört? Wenn nicht einmal genug für notwendige Lebensmittel Ration täglich pro Person zur Verfügung steht, sprich das Geld fehlt, woher sollen dann die Gelder für vernünftige Bauten herkommen? Solange der Westen mit gerade einmal 10% der Weltbevölkerung, den Rest der Welt als seine Kolonien betrachtet und auch so behandelt, braucht sich niemand im Westen über Flüchtlinge und Terroristen beschweren. Wenn bis heute und schon über Jahrzehnte völkerrechtswidrige Kriege geführt, Länder destabilisiert, einseitige Handelsabkommen abgeschlossen, Waffenexporte auch an Diktaturen und Despoten, wenn noch immer täglich einhunderttausend Kinder auf dieser Welt an Hunger und deren Folgen von Hunger sterben, kann man ihre Einlassung nur als zynisch e ...

  • 2 Rolf Steiner 06.11.2015, 10:54 Uhr

    Leider vermisse ich bei Informationen für Flüchtlinge und Helfer den Zugriff auf DARI, das von fast der Hälfte der bei uns ankommenden Menschen gesprochen wird, bei den Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Iran. Hat es damit zu tun, dass der Entscheidung der deutschen Regierung vorauseilend, diese Menschen jetzt abgeschoben werden sollen. U.A.w.g. Rolf Steiner Sprachhelfer für Flüchtlinge

  • 1 Geisler 05.11.2015, 23:57 Uhr

    Ich habe das Bild mit dem Schulzelt das durch einen Sturm zerstört wurde gesehen, und muss mich doch sehr wundern, das so große Stürme im IRAK vorkommen. Hat die UNHCR keine Zelte in der Qualität wie das DRK, Bundeswehr usw.? Wie lange ist es denn her seit dem ein Sturm es zerstört hat.? Wäre es nicht Sinnvoll solche allgemeinen Gebäude fest zu bauen ( zB. als Holzskelettbau ) Der Irakkrieg ist doch schon mehr als 10 Jahre vorbei. Ich habe angenommen das der IRAK ein Oelförderland ist und genügend Mittel aufbringen müsste und solche Gebäude in eigener Regie herstellen könnte. Es sollten die ganzen Streitkräfte aller Staaten auf das Minimum reduziert und die UN-Streitkräfte mit größerer MACHT befähigt werden.