MONITOR vom 08.04.2021

Kuschelkurs mit Erdogan: Geopolitik statt Menschenrechte

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Bericht: Lisa Seemann, Hüseyin Topel, Nadine Sander

Kuschelkurs mit Erdogan: Geopolitik statt Menschenrechte

Monitor 08.04.2021 07:06 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Lisa Seemann, Hüseyin Topel, Nadine Sander

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Georg Restle: „Was waren das für Bilder vorgestern in Ankara. Die Kommissionspräsidentin der EU zu Gast beim türkischen Staatspräsidenten Erdoğan; einem Mann der gerade in den letzten Wochen wieder gezeigt hat, was er von europäischen Grundwerten hält – nämlich nichts. Der kurz vor dem Besuch noch Oppositionspolitiker verhaften ließ und aus der so genannten Istanbul-Konvention für Frauenrechte ausgetreten ist. Offenbar alles kein Grund für Ursula von der Leyen, diesem Mann wertvolle Gastgeschenke zu machen – als wolle man ihn belohnen dafür, dass er die Menschenrechte in seinem Land mit Füßen tritt. Lisa Seemann, Nadine Sander und Hüseyin Topel.“

In ihrem Garten in Ankara hat Acun Karadağ drei Rosenstöcke gepflanzt – drei Rosen für drei Freunde, die im politischen Hungerstreik gestorben sind. Nach dem Putschversuch 2016 hat sie ihren Job als Lehrerin verloren. Wie viele Tausende andere, die der Regierung als zu kritisch galten. Seitdem geht sie auf die Straße.

Acun Karadağ, Lehrerin und Aktivistin (Übersetzung Monitor): „Seit vier Jahren protestieren wir gegen unsere Suspendierung vom staatlichen Dienst per Präsidialdekrete. Seit vier Jahren gehen wir – trotz der Blockaden der Polizei – jeden Tag auf den Yüksel-Platz in Ankara. Wir fordern bis heute, dass wir unsere Arbeit zurückbekommen.“

Regelmäßig demonstriert sie mit anderen Aktivist*innen friedlich, regelmäßig erlebt sie dabei Polizeigewalt. Und immer wieder wurde sie festgenommen, so wie hier 2016. Zuletzt saß sie mehrere Monate im Gefängnis. Anfang dieses Jahres brachte man sie für den Gerichtsprozess in dieses Hochsicherheitsgefängnis in Ankara. Und dort wurde sie besonders entwürdigend behandelt, erzählt sie.

Acun Karadağ, Lehrerin und Aktivistin (Übersetzung Monitor): „Sie sagten, ich müsse mich nackt ausziehen. Ich sagte, dass ich das nicht machen werde. Dann kamen drei weitere Wächterinnen dazu. Zur viert haben sie mir alles ausgezogen, was ich anhatte. Als sie meine Unterhose ausziehen wollten, habe ich ihre Hand genommen und habe gesagt: „Schämt ihr euch denn nicht? Ich bin eine Lehrerin!“

Demütigungen und Gewalt gegen Frauen – auch im privaten Umfeld. Die Zahl der Frauenmorde stieg in der Türkei in den letzten Jahren deutlich an. Und trotzdem ist Präsident Erdoğan Ende März per Dekret aus der Istanbul-Konvention ausgetreten. Eine Vereinbarung, die den Staat verpflichtet, Frauen vor Gewalt zu schützen.

Emma Sinclair-Webb, Human Rights Watch, Türkei (Übersetzung Monitor): „Die Polizei tut nicht genug, um sicherzustellen, dass Männer, die Frauen missbraucht haben, sich von ihnen fernhalten. Es gibt nicht genug Sanktionen und grundlegenden Schutz für Frauen. Der Rückzug aus der Istanbul-Konvention ist ein fundamentaler Rückschlag für die Frauenrechte in der Türkei.“

Aber es trifft nicht nur Frauen: Die Unterdrückung der Opposition hat in den letzten Wochen zugenommen, und trifft vor allem die prokurdische Oppositionspartei HDP, den Abgeordneten und Menschenrechtsaktivisten Ömer Faruk Gergerlioğlu etwa. Er wurde vergangenen Freitag in seiner Wohnung verhaftet. Zweieinhalb Jahre soll er hinter Gitter, weil er eine Nachricht geteilt habe, die als „terroristische Propaganda“ eingestuft wurde. Kurz vor seiner Festnahme sprach er im Interview mit MONITOR von politischer Justiz.

Ömer Faruk Gergerlioğlu, HDP-Abgeordneter, 26.02.2021: „Entführungen, Folter, nackte Durchsuchungen, Verstöße in Haftanstalten, Hunderttausende per Dekret von ihren Staatsdiensten entlassene Personen. Mein Einsatz dafür war für die Regierung ein ganz großes Problem.“

Er ist einer von mehr als 680 HDP-Politiker*innen, die jetzt für mehrere Jahre ein politisches Betätigungsverbot bekommen sollen. Gleichzeitig soll die HDP als Partei komplett verboten werden – immerhin die drittstärkste Partei im türkischen Parlament.

Emma Sinclair-Webb, Human Rights Watch, Türkei (Übersetzung Monitor): „Vor allem in diesem Jahr haben wir einen beispiellosen Abbau der Rechtsstaatlichkeit und der Beschneidung der Menschenrechte erlebt. Und auch der Abbau der demokratischen Rechte hat das schlimmste Ausmaß in 18 Jahren erreicht, seitdem Erdoğan im Amt ist.

Die dramatische Entwicklung bestätigt auch der jüngste Fortschrittsbericht der EU zur Türkei. Darin heißt es, die

Zitat: „…gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Standards, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundfreiheiten“

setzten sich fort. All dies kein großes Thema beim Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara am Dienstag – Menschenrechte erwähnte sie am Rande. Im Kern ging es um etwas anderes: Zugeständnisse an Präsident Erdoğan, wirtschaftliche Beziehungen.

Ursula von der Leyen (CDU), EU-Kommissionspräsidentin, 06.04.2021 (Übersetzung Monitor): „Als ersten Punkt möchten wir unsere wirtschaftlichen Beziehungen stärken. Die Europäische Union ist der wichtigste Import- und Exportpartner der Türkei.“

Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen, Reiseerleichterungen und zusätzliches Geld für die Türkei in der Flüchtlingsfrage. Überlebenswichtig für Erdoğans Regierung, denn die türkische Wirtschaft befindet sich im Sinkflug. Wirtschaftsbeziehungen vor Menschenrechten? Kritik eines europäischen Außenministers.

Jean Asselborn, Außenminister Luxemburg: „Wir reden ja hier von einem Land, wo durch die Terrorbekämpfung unliebsame politische Gegner ausgeschaltet werden können. Das ist etwas, was man nicht hinnehmen darf und dann einfach zur Tagesordnung übergehen kann und sagen, jetzt reden wir über Zollunion oder wir reden über Visa-Freiheit.“

Doch worum geht es der EU bei ihrer Türkeipolitik? Eine Antwort liefert der Beschluss des europäischen Rates vom März. Darin heißt es: Die EU habe

Zitat: „…strategisches Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld im östlichen Mittelmeerraum…”

Strategisches Interesse – das heißt vor allem Energieinteressen. Die Türkei schickte vergangenes Jahr Bohr- und Kriegsschiffe in die Nähe von Griechenland und Zypern, um dort nach Erdgas zu suchen. Dazu kommt der Flüchtlingsdeal. Die EU will, dass Erdogan auch weiterhin die Fluchtwege nach Europa dicht macht. Sei es in Syrien oder an der griechischen Grenze. Die strategischen Interessen der EU. Sie bieten Erpressungspotential für den türkischen Präsidenten. Die Botschaft vom Dienstag: Die EU kommt Erdogan entgegen.

Sergey Lagodinsky (Die Grünen), Vorsitzender der Türkei-Delegationdes Europäischen Parlamentes: „Die Botschaft ist gefährlich, weil es heißt, dass wir eben unsere Augen verschließen können gegenüber dem Leid der Zivilgesellschaft in der Türkei, nur damit wir eben Ressourcen im Mittelmeer aufteilen, damit wir unsere Ruhe haben, damit wir weniger Menschen auf der Flucht haben und so weiter und so fort. Das sind falsche Prioritäten und das ist das, was Erdoğan auch sieht.“

Für Erdoğan war der Besuch ein Erfolg. Regierungsmedien schreiben von „einer neuen Ära mit der EU”. Keine guten Nachrichten für Acun Karadağ. Die EU als Hoffnungsträger für die türkische Zivilgesellschaft? Das gilt für sie schon lange nicht mehr.

Georg Restle: „Realpolitik nennt sich so was übrigens, und da kommen Menschenrechte in der Regel eben nicht vor.“

Stand: 08.04.2021, 22:15 Uhr

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5 Kommentare

  • 5 Friedemann Schaal 16.04.2021, 13:09 Uhr

    Auch wenn meine Spekulation aus #3 keine hohe Wahrscheinlichkeit haben muss, ergibt sich die Frage, welche Ergebnisse (alle) konkret erzielt wurden. Ich kann mich nicht erinnern, in den Medien vertiefendes wahrgenommen zu haben, da BerichtErstattungen darüber (und auch Wahrnehmungen davon) durch dieses "Sofagate" verdrängt/übertüncht wurden. Welche überdurchschnittlich wichtige Angelegenheiten führen ansonsten (zB protokollarisch) dazu, dass ein Besuch sowohl des Ratspräsidenten der Europäischen Union als auch der Präsidentin der Europäischen Kommission gleichzeitig stattfindet, und wie gut vorbereitet/koordiniert (inhaltlich, Verhandlungstaktik...) geht man in solchen Fällen vor ? - - Nebenbei: Im Vergleich zu den englischen, französischen und griechischen Versionen wird im deutschen WikiPedia das Sofagate stiefmütterlich behandelt. - Auf die türkische Version wäre ich gespannt!

  • 4 Restless 15.04.2021, 20:11 Uhr

    Vielsagendes Foto: Großpascha Erdogan, Charles Michel und Ursula von der Leyen, aber nur zwei Stühle! Reise nach Jerusalem? Nein, Fototermin in Ankara! Von der Leyens Kommentar vor Ort: "Äh" - und Recht hatte sie damit, bevor sie es sich beiseite geschoben auf einer bequemen Couch gemütlich machen durfte. Das ist eben typisch Deutsch, es wird gute Miene zum selbst übelsten Spiel von größtmöglicher Geringschätzung gemacht. Frau von der Leyen hätte zum Beispiel ihre Schuhe ausziehen und die Beine auf die Couch legen können oder besser noch, die Schuhe dabei anbehalten, um Erdogan klar zu machen: "Wo du, großer Meister, sonst pflegst Deinen Allerwertesten hinzuparken, da legen andere ihre Füße nicht ohne Schuhwerk drauf." Das wäre ein deutliches Signal von einer ebenbürtigen Wertschätzung gewesen. Wir lernen: Nach Ankara entsendet man keine Frauen, wenn man ernsthaft mit den Türken verhandeln will, man schickt gestandene Mannsbilder hin, die wissen, wie man richtig auf den Tisch haut.

    • Friedemann Schaal 16.04.2021, 14:24 Uhr

      Bezüglich SchuhsohlenEntgegenstrecken und SchuheAusziehen dachte ich wohl das Gleiche, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich, wenn ich der SchuhTräger und Ausführende von zweiterem wäre, nicht später in die Annalen der KiegsAnlässe und der chemischen oder biologischen KriegsFührung eingehen würde.

  • 3 Friedemann Schaal 14.04.2021, 19:55 Uhr

    Ich spekuliere, dass der Besuch eher geostrategischen Interessen gedient hat und die genannten BesuchsGründe als HauptGründe vorgeschoben waren. - Da bekannt ist, dass die USA aus Afghanistan abziehen und die NATO-Partner (endgültiges Ende VerteidigungsFall?) ihnen wohl folgen werden, entsteht dort ein MachtVakuum, das zum Hineinstoßen einlädt. Dabei glaube ich weniger, dass dieses von Russland zu füllen beabsichtigt wird (TruppenVerlagerung Richtung Ukraine als bestätigender Wink?), sondern die Befürchtung bestand, dass China die Situation ausnutzen würde. Erdogans Mentalität dürfte dazu einladen, ihn zu bewegen, die Chance ergreifen, zur 'Wahrung der Interessen von TurkVölkern' der Umgebung in Afghanistan zu intervenieren - unter Absprache ua mit den Verbündeten. Diente der TürkeiBesuch dazu, eine solche Abspache zu bekräftigen? - - Wie gesagt/geschrieben - es handelt sich lediglich um eine Spekulation (oder sogar VerschwörungsTheorie?) von mir. ... Oder Pakistan? ...

  • 2 Spunk 13.04.2021, 16:06 Uhr

    Es ist einfach widerlich wie Deutschland und die EU dem Erdogan in den Arsch kriechen. Wir lassen uns von Erdogan am Nasenring durch die Arena schleifen und finden das auch noch gut. Wieso sind vdL und Michel nicht nach diesem Eklat auf der Stelle nach Hause gefahren? Stattdessen nehmen wir diese Herabsetzung kommentarlos hin. Ohne die Milliarden aus der EU wäre das Regime von Erdogan schon längst am Ende. Erdogan versteht nur eine harte Sprache. Diplomatie betrachtet er als Schwäche, und wer sollte ihm da mit Blick auf die EU widersprechen?

  • 1 Niel Püsch 09.04.2021, 05:55 Uhr

    Positiv denken: wie wäre ohne diesen Vorgang klar geworden, welche Ehre es ist, direkt neben dem Großmann placiert zu sein.