Erdbebenhilfe: Enttäuschte Hoffnungen Monitor 02.03.2023 08:12 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Herbert Kordes, Lisa Seemann

MONITOR vom 02.03.2023

Erdbebenhilfe: Enttäuschte Hoffnungen

Die Bundesregierung hat den Erdbebenopfern in der Türkei und Syrien eine erleichterte, unbürokratische Einreise versprochen. So sollen sie vorübergehend zu ihren Verwandten nach Deutschland kommen können. Tatsächlich berichten Betroffene von unsinnigen Regelungen, finanzieller Überforderung und massivem bürokratischen Aufwand. Die Voraussetzungen seien so hoch, dass viele Menschen sie nicht erfüllen könnten, sagen Kritiker. Für Erdbebenopfer aus Syrien gilt die Zusage gar nicht mehr.

Von Herbert Kordes, Lisa Seemann

Georg Restle: "Knapp einen Monat liegt das verheerende Erdbeben in der Türkei und Syrien jetzt zurück. Und immer noch harren Hunderttausende in Zelten und Notunterkünften aus; in täglicher Sorge vor neuen Nachbeben. Schnelle und unbürokratische Hilfe, das hatte die Bundesregierung den Überlebenden versprochen. Eine erleichterte Visa-Vergabe, um zu Verwandten nach Deutschland zu kommen, um durchzuatmen. Große Hoffnungen wurden damit geweckt; vor allem auch bei den Menschen in Syrien, die nicht nur von diesem Erdbeben, sondern auch von einem jahrelangen Bürgerkrieg völlig zermürbt sind. Mittlerweile sind die Bilder aus den Erdbeben-gebieten aus den Hauptnachrichten fast verschwunden. Und damit offenbar auch ein Teil der Großzügigkeit dieser Bundesregierung. Herbert Kordes und Lisa Seemann."

Es ist eine der verheerendsten Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte: Am 6. Februar bebt in der Türkei und Syrien die Erde. Tausende Nachbeben folgen. Unter den Trümmern sterben mehr als 50.000 Menschen, mehr als 100.000 werden verletzt, Millionen sind obdachlos.

Deniz Günay: "Das ist die Straße, wo meine Tante gestorben ist. Das ist alles weg, alles ist kaputt."

Sie haben die Katastrophe erlebt: Deniz Günay aus Gunzenhausen in Franken war mit der Familie bei den Großeltern zu Besuch im türkischen Antakya - das Beben riss sie aus dem Schlaf.

Deniz Günay: "Ich bin aufgewacht durchs Rütteln und im nächsten Moment hat’s so dermaßen zu Scheppern angefangen - ich hab die Kleine wirklich nur noch hier am Kragen gepackt und wir sind einmal quer durchs Zimmer geschleudert worden. Wir dachten wirklich jetzt, wir werden sterben."

Die Großeltern lebten im dritten Stock dieses Hauses. Sie überlebten das Beben mit Glück, die erste Etage des Hauses wurde vom Beben zusammengepresst. Über das Vordach des Restaurants im Erdgeschoss konnte die Familie sie retten.

Wir sind in Antalya, auf dem Weg zu den Großeltern der Familie. Hikmiye Yildirim und ihr Mann sind hier - wo das Beben nicht gewütet hat - kurzzeitig untergekommen. Jeden Tag sehen sie die Bilder ihrer zerstörten Heimatstadt, haben Angst, wollen einfach hier weg.

Hikmiye Yildirim (Übersetzung Monitor): "Hier gibt es tagsüber niemanden. Wir sind alt. Ich bin krank. Wenn wir nach Deutschland kommen, dann kümmert sich unsere Tochter um uns. Wir wollen nichts - nur unsere Ruhe haben."

Nach Deutschland, um zur Ruhe zu kommen. Schon vor ihrem Besuch im Erdbebengebiet hatte Innenministerin Faeser den Menschen in der Türkei und Syrien diese Zusage gegeben:

Zitat: "Wir wollen ermöglichen, dass türkische oder syrische Familien in Deutschland enge Verwandte aus der Katastrophenregion unbürokratisch zu sich holen können. (…) Mit regulären Visa, die schnell erteilt werden und drei Monate gültig sind."

Unbürokratische Hilfe? Als Deniz Günay ihre Verwandten holen will, macht sie andere Erfahrungen. Die Großeltern benötigen unter anderem ein siebenseitiges Antragsformular, eine Krankenversicherung, eine Verpflichtungserklärung der Angehörigen, für den Lebensunterhalt aufzukommen, einen Wohnsitznachweis mit Historie, einen Verwandtschaftsnachweis, und sie müssen schriftlich ihre Notlage schildern.

Deniz Günay: "Die verlangen Papierkram - das ist unglaublich!"

Wenn alles komplett ist, sollen die Visa in nur fünf Tagen erteilt werden. Doch Martin Manzel, Anwalt für Migrationsrecht, ist sicher: Viele werden an den Anforderungen scheitern.

Martin Manzel, Fachanwalt für Migrationsrecht: "Es ist zwar eine schnelle Visumsvergabe eingerichtet worden, also die Möglichkeit, dass man auch sogar ohne Termin, wenn man Erdbeben-Betroffener ist, beim Auswärtigen Amt bei der deutschen Auslandsvertretung vorsprechen kann. Die Voraussetzungen, um hinterher aber ein Visum zu bekommen, sind derart hoch, dass die allermeisten Menschen diese Voraussetzungen nicht erfüllen können."

Auch wegen der Kosten. Die Angehörigen in Deutschland müssen sich verpflichten, für den Lebensunterhalt ihren Verwandten aufzukommen. Je nach Wohnort sind das mehrere Hundert Euro pro Person und Monat. Sie könne das glücklicherweise stemmen, sagt Deniz Günay. Per Post muss sie die Unterlagen zu den Angehörigen in die Türkei schicken - aus Datenschutz-gründen.

Deniz Günay: "Ich hab es jetzt abgegeben und ich … ich stecke nicht mal drin, wann es ankommt. Kommt es überhaupt an? Weiß man auch nicht. Und das ist halt total ärgerlich, weil das ist Zeit, die uns einfach davonrennt."

Manche, heißt es, hätten die Unterlagen direkt selbst in die Türkei gebracht, statt sie dorthin zu schicken, wo es keine Adressen mehr gibt.

Auf der anderen Seite der Grenze - in Syrien - ist es noch schwieriger: Seit Jahren leiden die Menschen hier unter dem Bürgerkrieg. Jetzt haben viele auch noch ihr Zuhause verloren, leben in Zelten oder unter Planen. Diese Frau steht bei Afrin in Nordsyrien im Schutt und hofft, dass ihr Sohn sie hier endlich rausholt.

Badiaa (Übersetzung Monitor): "Die Situation hier ist furchtbar. Wir leben in einem Zelt, ohne Toilette, ohne Küche. Wir bekommen keine Unterstützung, nichts. Das Leben hier ist erniedrigend."

Einige tausend Kilometer entfernt bei Hannover empfängt ihr Sohn Walat Bakr den Hilferuf und erträgt es kaum.

Walat Bakr: "Das macht mich sehr traurig, weil ich kann nicht helfen, ich kann nichts machen."

Hilflosigkeit auch bei der Flüchtlingshelferin. Walat kam vor sieben Jahren mit seinem Cousin Mohammad nach Deutschland. Auch seine Angehörigen leben in einem Zelt im Erdbebengebiet.

Mohammad Bakr: "Die haben mich gesagt, mein Sohn Mohammad, kannst du uns bei dich bringen in Deutschland. Ich habe gesagt, Mam, ich versuche das."

Vergeblich, denn die anfängliche Zusage der Innenministerin auf erleichterte Visa gilt für Erdbebenopfer aus Syrien nicht mehr. Auf unsere Anfrage, warum das so ist, schreibt das Innenministerium:

Zitat: "Betroffene Personen müssen die Absicht haben (...), Deutschland wieder zu verlassen. Voraussetzung ist insofern auch das Bestehen einer Rückkehrmöglichkeit. Eine solche ist bei syrischen Staatsangehörigen nicht gegeben."

Übersetzt heißt das: Erdbebenopfer aus Syrien bekommen keine erleichterten Visa, weil sie als Kriegsflüchtlinge in Deutschland ein Bleiberecht hätten.

Clara Bünger (Die Linke), Mitglied des Bundestages: "Das ist ein Riesenskandal, dass man Menschen, die von dem gleichen Erdbeben betroffen sind, unterschiedlich behandelt. Die Menschen brauchen genauso Hilfe. Und gerade die Menschen aus Syrien brauchen insbesondere Hilfe, weil die Situation vorher schon mehr als prekär war."

Rund 29 Millionen Menschen sind von dem Erdbeben in der Türkei und Syrien betroffen. Jetzt - knapp vier Wochen danach - wurden gerade einmal 733 "erleichterte" Visa ausgestellt.

Martin Manzel, Fachanwalt für Migrationsrecht: "Ich mache der Bundesregierung den Vorwurf, dass man hier völlig falsche Hoffnungen geschürt hat. Man ist mit der Forderung angetreten, `Wir helfen euch` und `es geht jetzt ganz schnell und unbürokratisch`. Und jetzt durch die Hintertür merkt man doch, dass man die an dieser Stelle dann doch wieder die Menschen im Stich lässt."

Enttäuschung, Ernüchterung - hier wie dort. Die einen kämpfen mit der Bürokratie, die anderen gegen die Hoffnungslosigkeit.

Georg Restle: "Nochmal zum Mitschreiben: Die Bundesregierung gewährt also keine erleichterten Visa für syrische Erdbebenopfer, weil sie keine „Rückkehrmöglichkeit“ haben. Mit anderen Worten, weil alles zerstört ist, was sie hatten und sie aus einem Kriegsgebiet kommen. Klingt ziemlich zynisch, ist aber nichts anderes als die Realität der europäischen Flüchtlings-politik.“

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Kommentare zum Thema

  • Heinz 04.03.2023, 18:21 Uhr

    Die Vorfahren unser kriminellen Clans kamen aus dieser Region. Wir haben sie aufgenommen und unterstützt. Das Ergebnis sieht man in Berlin und im Ruhrgebiet. Bitte die guten Absichten von damals nicht wiederholen. Mich überzeugt nicht die Annahme das diese Menschen jetzt ganz anders sind.

  • M.Scharf 03.03.2023, 16:03 Uhr

    Meine Gedanken sind bei allen Menschen, die ihre Lieben, ihr Zuhause verloren haben. Alle brauchen humanitäre Hilfe, so rasch wie möglich. Daher bitte ich alle, weiterhin zu spenden mit dem Ziel, vieles wieder aufzubauen und in einen Alltag nach dem Beben wieder zurückzukehren. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Hilfe in Syrien nur schleppend ankommt, weil das Regime ausländische Hilfe nicht einlässt oder sich daran bereichert. Gleichzeitig leben rund 5 Million Syrer im Erdbebengebiet der Türkei. Diese Menschen sind vor Krieg und Verfolgung geflohen, haben alles hinter sich gelassen, um in der Türkei neu anzufangen. Willkommen waren die dort nicht, nur geduldet. Sie stehen ein zweites mal vor dem Nichts. Verstehen kann ich, dass gerade diese Menschen, die nicht in der Türkei verwurzelt sind, einen neuen, sicheren Zufluchtsort suchen. Und in dieser Situation zieht Deutschland seine Zusage für Syrer zurück? Unverständlich! Ich wünsche mir ein erneutes, mutiges "Wir schaffen das!".

  • Gerechtigkeit 03.03.2023, 08:18 Uhr

    Struktureller Rassismus: Flüchtlinge 1. Klasse: Ukraine, 2. Klasse: Türkei 3. Klasse: Syrien 4. Klasse: Iran, Irak, Afghanistan; also nur verlogene Lippenbekenntnisse