Corona-Opfer: Das lange Leiden der Schüler:innen

Monitor 25.04.2024 09:58 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Herbert Kordes, Lutz Polanz, Achim Pollmeier, Janine Arendt

MONITOR am 25.04.2024

Corona-Opfer: Das lange Leiden der Schüler

Angsterkrankungen, Essstörungen, Depressionen: Tausende Kinder und Jugendliche leiden bis heute an den Folgen der Corona-Pandemie. Mitverantwortlich: überlange Schulschließungen, sagen Fachleute. Bund und Länder hätten die Belange von Kindern und Jugendlichen schon in der Pandemie vernachlässigt und ließen sie nun erneut im Stich: weil Therapieplätze und Hilfsangebote fehlen.

Von Janine Arendt, Herbert Kordes, Lutz Polanz, Achim Pollmeier

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Georg Restle: "Die Folgen der Corona Pandemie, das ist auch so ein Thema, bei dem die Regierenden sich lieber wegducken. Da könnte ja auf den Tisch kommen, was da so alles schief gelaufen ist in den bleiernen Jahren der Pandemie. Die Leidtragenden dieser Politik bekommen nur selten eine Stimme. Kinder und Jugendliche vor allem, die von monatelangen Schulschließungen betroffen waren - und es heute immer noch sind, weil sie daran krank geworden sind. Depressionen, Angststörungen, Magersucht - die Zahl der jungen Menschen, die daran erkrankt sind, ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Junge Menschen, die damals im Stich gelassen wurden - und heute wieder im Stich gelassen werden. Janine Arendt, Herbert Kordes, Lutz Polanz und Achim Pollmeier."

März 2020 - plötzlich hatte die Pandemie das Land im Griff: volle Krankenhäuser, Angst vor Infektionen, Lockdowns.

Angela Merkel: "Wir müssen das Risiko, dass der eine den anderen ansteckt, so begrenzen wie wir nur können."

Susanne Holst (Tagesschau-Moderatorin): "Deutschlandweit sind von heute an Schulen und Kitas geschlossen."

Zweimal wurden Schulen und Kitas bundesweit geschlossen - jeweils wochenlang. Eine Zeit, die das Land verändert hat. Eine Zeit, die auch Philina verändert hat. Denn Philina - so nennen wir sie - wäre fast gestorben. Bis heute ist sie schwer krank, aber nicht wegen einer Infektion.

Philina: "Ich leide seit etwa dreieinhalb Jahren bald an Magersucht. Und hatte davor auch schon zwei Klinikaufenthalte - das ist jetzt mein dritter - ja, seit September bin ich jetzt hier."

Fast acht lange Monate in einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche. Getrennt von Freunden und Familie, um endlich wieder in einen Alltag zu finden, der nicht von Gedanken an Essen oder Gewicht dominiert wird. Der Weg aus der Krankheit heraus ist lang, hinein ging es ganz schnell. Corona, der erste Schul-Lockdown hat ihr wenig ausgemacht, der zweite führte sie tief in die Krise.

Philina: "Als die Schulen kurz vor Weihnachten wieder geschlossen haben, ja, fing das an, dass meine Stimmung sehr schlecht geworden ist. Und am schlimmsten war, dass ich meine Freunde so wenig sehen konnte und man einfach auf das Handy und so angewiesen war, um irgendwie noch Kontakt zu halten. Das hat mich mental irgendwie zurückgeworfen und mich traurig gemacht auch."

In ihrer Einsamkeit verlor sie sich in sozialen Medien und deren Schönheitsidealen. Sie aß immer weniger. Irgendwann war sie lebensgefährlich abgemagert.  Ein klassischer Fall, sagt Klinikleiterin Andrea Stippel. Weil die Pandemie Kinder und Jugendliche eben anders getroffen hat als Erwachsene.

Dr. Andrea Stippel, Ärztliche Direktorin Oberbergkliniken: "Gerade in der Pubertät, wo man viele Erfahrungen über das Erleben macht und über das miteinander Erleben macht, ist das ein Entwicklungsrückschritt gewesen, durch die Isolation vor allen Dingen. Und manche Kinder sind da eben auch dran gescheitert und dann hat sich eine Hoffnungslosigkeit entwickelt, nicht mehr zur Schule gehen zu können, das nicht mehr zu schaffen, abgehängt zu werden, Lernschritte nicht vollenden zu können."

Lernrückstände: Kinder aus benachteiligten Familien traf das besonders hart, aber auch generell ein massiver Anstieg psychischer Erkrankungen. Die Behandlungsanfragen bei Therapeutinnen und Therapeuten sind in der Pandemie um 60 Prozent gestiegen. 2022 wurden bei jugendlichen Mädchen 51 Prozent mehr Essstörungen diagnostiziert als vor der Pandemie. Auch Angststörungen und Depressionen nahmen massiv zu. Doch gerade zu Beginn der Pandemie gab es kaum Diskussionen über die Maßnahmen. Schulen und Kitas wurden als "Treiber der Pandemie" gesehen.

Angela Merkel (16.03.2020): "In der Folge haben wir auch alle Länder, die Schulen und Kitas bundesweit geschlossen oder werden es in Kürze tun."

Markus Söder (13.12.2020): "Deswegen ab Mittwoch alles zu, alle Jahrgangsstufen in Bayern."

Zweimal wurden Schulen und Kitas bundesweit geschlossen, insgesamt über Monate. Als im März 2021 Friseure und Gartencenter wieder öffneten, blieben die Schulen vielerorts noch lange dicht. Der Schutz vor Infektionen war in Deutschland vor allem Kindersache. Fachleute warnten von Beginn an vor den gravierenden Folgen. Thomas Fischbach war Präsident des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte. Nicht nur seine Kritik blieb ungehört.

Dr. Thomas Fischbach, Ehem. Präsident des Berufsverbandes Kinder- und Jugendärzt*innen: "Wir haben auch dann relativ schnell Erkenntnisse gehabt, dass die Kinder wohl nicht die Treiber der Pandemie sind. Und die meisten Infektionen fanden ja an anderer Stelle statt, beispielsweise im häuslichen Umfeld. Und darauf wurde ja auch schon schnell auch von Wissenschaftlern hingewiesen. Das hat aber keine Konsequenz gezeigt."

In anderen Ländern hat es Konsequenzen gezeigt. Laut einer Analyse des Ifo-Instituts waren in Frankreich die Schulen an 56 Tagen ganz oder teilweise geschlossen, in Spanien an 45 Tagen, in Schweden sogar nur an 31 Tagen. In Deutschland dagegen waren die Schulen an 183 Tagen ganz oder teilweise geschlossen. Schweden, das Land, das für seine Corona-Politik heftig kritisiert wurde - vor allem in Deutschland. Geschäfte und Gastronomie blieben hier mit strengen Auflagen geöffnet. Das Leben sollte so normal wie möglich bleiben - auch an den Schulen. Nur die älteren Jahrgänge wurden ins Homeschooling geschickt. Wurden Schulen und Kitas hier also zum Treiber der Pandemie? Gemessen an der Einwohnerzahl starben in Schweden im Frühjahr 2020 zwar deutlich mehr Menschen an oder mit COVID als in Deutschland. Allerdings glich sich die Zahl der Sterbefälle in den folgenden Wellen an. Die Zahlen in Schweden waren teilweise sogar niedriger als bei uns. Und das, obwohl die Schulen während der gesamten Zeit offen blieben. Ein Mann stand wie kein anderer für diesen Weg - der damalige schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Die Entscheidung, die Schulen nicht zu schließen, sei einer klaren Risiko-Abwägung gefolgt, sagt er rückblickend im Interview mit MONITOR.

Anders Tegnell, Ehem. Staatsepidemiologe Schweden (Übersetzung Monitor):"Wir haben uns angeschaut, welche Vorteile Schulschließungen hätten und festgestellt, dass es nur sehr wenige waren. So kamen wir zu dem Ergebnis, dass die positiven Effekte des Schulbesuchs viel wichtiger waren als mögliche positive Effekte einer Schulschließung."

März 2020 - mitten in der ersten Corona-Welle. Die Björngardsskolan in Stockholm - spielende Kinder auf dem Schulhof, der Unterricht lief weitgehend normal. Getrennte Schülergruppen, regelmäßiges Händewaschen, Sportunterricht auf Distanz. Natürlich waren auch in Schweden Kinder und Jugendliche psychisch belastet. Studien deuten aber darauf hin, dass die Folgen hier weniger gravierend sind, sagt der Kinder- und Jugendpsychologe Julian Schmitz. Er hat internationale Studien zu den Auswirkungen der Pandemie ausgewertet.

Prof. Julian Schmitz, Kinder- und Jugendpsychologie, Universität Leipzig: "Was wir sehen, ist dass wir schon einen Zusammenhang finden zwischen der Dauer von Distanzunterricht, von Schulschließungen und psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen. Also dass je länger Schulschließungen gedauert haben, dass auch die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärker beeinträchtigt war."

Und Deutschland isolierte seine Kinder und Jugendlichen besonders gründlich - mit verheerenden Folgen - Folgen wie bei Philina. Dass sie nach dem Schul-Lockdown in eine lebensbedrohliche Magersucht rutschte, war die erste Katastrophe. Die zweite folgte dann bei der Suche nach professioneller Hilfe.

Philina: "Man konnte keine Therapie bekommen, man konnte nicht in die Klinik gehen, weil wenn man da anrief, hieß es sechs bis acht Monate Wartezeit und man kann mit einer Essstörung oder auch mit anderen Krankheiten kann man nicht sechs bis acht Monate warten."

Monatelange Wartezeiten - während der Pandemie haben sie sich nochmal verdoppelt und sind laut Untersuchungen der Uni Leipzig bisher kaum zurückgegangen. Viel zu wenig wurde dagegen unternommen, sagen Fachleute.

Prof. Julian Schmitz, Kinder- und Jugendpsychologie, Universität Leipzig:"Man hätte zum Beispiel auch Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut*innen anstellen können, man hätte sie an Schulen anstellen können, dass sie dort tätig sind. Man hätte Sonderzulassungen - auch zeitlich befristet - aussprechen können. Es hätte dort auch durchaus kluge Lösungen gegeben, die man hätte umsetzen können - wenn man gewollt hätte."

Dabei hatte die Ampel-Regierung den Kindern und Jugendlichen schon in der Pandemie ein Versprechen gemacht. Im Koalitionsvertrag kündigte sie an,

Zitat: "Wir verbessern die ambulante psychotherapeutische Versorgung (...). Die Kapazitäten bauen wir bedarfsgerecht (...) aus."

Wir fragen nach beim Gesundheitsministerium. Ein Gesetzentwurf sei in Arbeit, heißt es. Doch wie viele zusätzliche Therapiemöglichkeiten entstehen sollen - und vor allem wann - darauf bekommen wir keine Antwort. Tausende Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen warten auf Hilfe und Therapie. Viele Familien geben die Suche irgendwann auf. Der Staat hat junge Menschen mit der Pandemie alleine gelassen - und bei vielen tut er es bis heute.

Georg Restle: "Ja, da bleibt noch vieles aufzuarbeiten. Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat die überlangen Schulschließungen mittlerweile als Fehler eingestanden. Sein Vorgänger Jens Spahn sprach mal davon, dass man sich noch viel werde verzeihen müssen. Nur damit allein ist es eben nicht getan."

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