Bericht: Niklas Schenk, Leon Kaschel
Kommentare zum Thema, weiterführende Links und der Beitragstext als PDF
Georg Restle: „Überfüllte Züge, Menschen, die sich eng aneinander vorbeidrängen müssen; als hätte es Corona nie gegeben. Aber, diese Bilder wurden von uns in den letzten Tagen gemacht. Und bald könnten die Züge sogar noch voller werden. Und das in Zeiten, in denen die offiziellen Zahlen der Infizierten so stark steigen wie seit April nicht mehr. Guten Abend und Willkommen bei MONITOR.
Glaubt man der Deutschen Bahn oder dem deutschen Verkehrsminister, ist das alles kein Problem. Kein erhöhtes Ansteckungsrisiko in deutschen Zügen, heißt es da. Jedenfalls nicht, solange alle Masken tragen. Die üblichen Abstandsregeln, die wir überall sonst in Innenräumen einhalten sollen; für die Bahn scheint das alles nicht zu gelten. Und das könnte jetzt richtig gefährlich werden, vor allem für Risikogruppen, die auf die Bahn dringend angewiesen sind. Vor allem dann, wenn die Züge demnächst noch voller werden; und vor allem dann, wenn es draußen wieder kälter wird. Niklas Schenk und Leon Kaschel.“
August 2020 in Deutschland: Ob auf dem Weg nach München, im ICE Richtung Berlin oder nach Köln – viele der Züge sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Menschen stehen im Gang, sitzen zwischen den Abteilen auf dem Boden. Abstandsregeln? Spielen hier offenbar keine Rolle.
Reisende: „Wir haben uns ein bisschen drauf verlassen vorher, dass angezeigt war, irgendwie, dass nur jeder zweite Platz besetzt ist und so. Es aber nicht so, es war knüppeldicke voll.“
2. Reisende: „Man merkt das dann auch, dass diese Abstandsregelungen in den Bahnen halt nicht mehr eingehalten werden. Es geht einfach nicht.“
Volle Rolltreppen, lange Warteschlangen am Bahnsteig, und immer wieder überfüllte Züge. Auch in den sozialen Netzwerken wächst die Empörung.
Tweet: „Die Welt: Achtung, Corona! Deutsche Bahn: 120 Prozent Auslastung – da geht noch was!“
Weiterer Tweet: „Der Zug ist überfüllt – eine bodenlose Frechheit. Deutsche Bahn gefährdet Ihre Passagiere.“
Auch Zugbegleiter wie Christian Deckert fühlen sich unsicher. Deckert engagiert sich in der Lokführergewerkschaft GdL. Er und seine Kollegen, die täglich in den immer volleren Zügen unterwegs sind, machen sich Sorgen.
Christian Deckert, Zugbegleiter: „Es ist ein mulmiges Gefühl, da unterwegs zu sein und zu wissen, dass man natürlich in einer besonderen Situation ist, dass man dicht an dicht unterwegs ist, keine Abstandsregeln einhalten kann. Und vor allen Dingen, man weiß auch nie, gibt’s jemand, der hier wirklich eventuell eine Infektionsquelle sein kann?“
Kein Abstand? Die wichtigsten Faustregeln der Corona-Pandemie – in den Zügen der Deutschen Bahn scheinen sie nicht zu gelten. In einem internen Papier aus dem Juni behauptet die Bahn: In Deutschland und Österreich gebe es keinen einzigen Fall, in dem
Zitat: „eine Infektion auf der Bahnreise als Auslöser”
nachverfolgt worden wäre. Die Bahn als infektionsfreier Raum? In der Regionalbahn zur Arbeit pendeln, stundenlang im Zug sitzen: Alles völlig ungefährlich? Eine neue Studie aus China weckt Zweifel an dieser Darstellung. Erstmals konnten die Forscher ein erhöhtes Ansteckungsrisiko in chinesischen Schnellzügen nachweisen. Diese sind deutschen Zügen sehr ähnlich. Die Studie spricht von einem signifikanten Infektionsrisiko, das steige, je näher ein Reisender an einem Infizierten sitzt und je länger die Zugfahrt dauert.
Prof. Gerard Krause, Leiter Epidemiologie Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig: „Das ist eine bemerkenswerte Studie, weil sie wirklich groß angelegt ist und daher sehr wertvoll. Und es war eine Studie, die wir uns immer gewünscht hätten, dass die mal verfügbar ist. Zusammengefasst, was man vielleicht allgemein … verallgemeinern kann, ist die Beobachtung, dass mit dem Abstand zu der Person, die infiziert ist, je größer der Abstand, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand anderes infiziert.”
Wichtige Erkenntnisse, die sich auf den deutschen Zugverkehr übertragen lassen, so Markus Hecht, Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge der TU Berlin.
Prof. Markus Hecht, Fachgebiets Schienenfahrzeuge, TU Berlin: „Das Vergleichbare ist, dass die Züge identisch sind. Das sind zum Teil unter deutscher Lizenz gebaute Züge, zum Teil nachgebaute Züge. Also, die Geometrie der Züge ist wirklich die gleiche.”
Die Bahn antwortet uns, man kenne die Studie, die Ergebnisse seien jedoch „nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar”, vor allem, da es Anfang 2020 in chinesischen Zügen noch keine Maskenpflicht gegeben habe. Man fühle sich bestätigt, „wie wichtig das Tragen von Masken in Bussen und Bahnen ist.” Aber verhindern Masken – vor allem einfache Stoffmasken – eine Infektion?
Karl Lauterbach (SPD), Bundestagsabgeordneter: Wenn man stundenlang neben jemandem sitzt, der infiziert ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, selbst wenn Masken getragen werden, sehr hoch.“
Dazu kommt, mit der Maskenpflicht nehmen es viele ohnehin nicht so genau, berichten Zugbegleiter.
Christian Deckert, Zugbegleiter: „Die Maske wird nicht richtig getragen, und da reden wir dann wirklich über einen Anteil von Fahrgästen, wo sie nicht richtig sitzt. Das heißt, Mund-Nase-Bedeckung ist natürlich genau das Stichwort, es muss auch die Nase bedecken. Und da kommen die ersten Hinweise der Zugbegleiter, wirklich die Masken richtig aufzusetzen, wenn man durch jeden Wagen geht – mindestens fünf Mal auf jeden Fall.“
Das Problem, die Zugbegleiter dürfen keinen Maskenverweigerer des Zuges verweisen. Das dürfte nur die Bundespolizei – und der fehlt das Personal. Einer der wichtigsten Faktoren für das Infektionsrisiko, die Klimaanlagen. Die Bahn schreibt: Eine Übertragung von Corona-Partikeln über die Klimaanlagen sei durch die langen Lüftungswege und vorhandenen Filter „äußerst unwahrscheinlich”. Die chinesische Studie zeigt dagegen, trotz Klimaanlagen kommt es zu Infektionen. Personen, die direkt neben einer infizierten Person saßen, steckten sich in 3,5 Prozent der Fälle mit dem Virus an. Bei in derselben Reihe sitzenden Passagieren kam es in 1,5 Prozent aller Fälle zu einer Infektion. Auch Fahrgäste, die drei Reihen entfernt saßen, steckten sich teilweise noch an. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung stieg dabei mit jeder Stunde. Und, bei unseren Bahnfahrten durch die Republik kommt es immer wieder zu Ausfällen der Klimaanlagen. Manchmal bleiben die Passagiere im Abteil auf eigene Gefahr sitzen, manchmal werden die Abteile geräumt – was dann allerdings bedeutet, dass die Fahrgäste auf andere Plätze verteilt werden und es im Zug noch enger wird.
Prof. Markus Hecht, Fachgebietsleiter Schienenfahrzeuge, TU Berlin: „Diese Zuverlässigkeit der Klimaanlagen ist ein riesiges Problem. Also, ich würde ganz dringend empfehlen, wenn eine Anlage ausfällt, diesen Wagen räumen.“
Die Bahn sagt, in einem ICE gibt es alle sieben Minuten einen vollständigen Luftaustausch. Was sie nicht sagt, es ist eine Mischung aus Umluft und Frischluft. Bei der Umluft wird nur die Innenluft ausgetauscht, also von Filtern gereinigt, die die Viren aber – anders als bei Flugzeugen – gar nicht herausfiltern können. Frischluft von außen wird nur zu einem Teil beigemischt. Und dieser Teil dürfte im Winter kleiner werden. Dabei gilt, je kälter die Luft von draußen, desto weniger Frischluft wird beigemischt.
Prof. Markus Hecht, Fachgebietsleiter Schienenfahrzeuge, TU Berlin: „Das heißt für Deutschland, das Risiko ist alles andere als Null, man muss sich kümmern. Wir werden wahrscheinlich im Winter ja auch noch mit dem Problem zu kämpfen haben, das ist eine kritischere Situation. Man sollte unbedingt die Zeit nutzen bis dahin, um die Ansteckungsgefahr weiter zu mindern.“
Dabei ist vieles noch völlig unklar – so wie die mögliche Gefahr der Aerosole. Bislang weiß man noch wenig darüber, welche Rolle sie bei Infektionen im Zug spielen. Das hat auch die Deutsche Bahn erkannt und eine erste Studie in Auftrag gegeben. Was futuristisch aussieht, sind wissenschaftliche Versuche des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums. Überprüft wird, wie sich virusbeladene Tröpfchen in einem vollbesetzten Zug verteilen. Umfassende Ergebnisse sind frühestens Ende des Jahres zu erwarten. Aber so lange möchte die Bahn nicht warten – sie will die Züge möglichst schnell wieder auslasten. Mit Unterstützung des Verkehrsministers, der vehement für eine stärkere Auslastung der Züge wirbt.
Andreas Scheuer (CSU), Bundesverkehrsminister: „Hoffentlich senden Sie auch darüber, dass es viele gibt, die unisono feststellen, auch technisch begründet, dass es keinen Corona-Hotspot in den öffentlichen Verkehrsmitteln gibt.“
Kein Hotspot? Keine erhöhte Infektionsgefahr? Kritiker sehen das ganz anders und fordern, jetzt schnell zu handeln.
Karl Lauterbach (SPD), Bundestagsabgeordneter: „Das ist auf jeden Fall so, dass die Bahn noch nicht optimal vorbereitet ist für die zweite Welle und dass wir Maßnahmen benötigen, die das dringend, also kurzfristig verbessern.“
Maßnahmen wie eine Reservierungspflicht. Die gibt es etwa in Italien schon. Aber die Deutsche Bahn lehnt das ab. Fahrgäste sollen weiter flexibel und spontan in jeden Zug einsteigen können. Die Gewerkschaft der Lokführer hält das für unverantwortlich.
Claus Weselsky, Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GdL): „Es war unser Vorschlag, als GdL, eine Reservierungspflicht einzuführen, um eine Grundsicherheit und Grundabstand schon über die Reservierung der Sitzplätze herbeizuführen. Die Bahn lehnt das bis einschließlich jetzt ab. Entweder fehlt ihnen der Programmierer, oder es fehlt ihnen die Weitsicht.”
Fehlende Weitsicht? Die Richtung ist jedenfalls klar: Die Züge sollen noch voller werden. Und damit dürfte das Infektionsrisiko steigen. Für die Bahnmitarbeiter und all die Fahrgäste, die auf das Reisen mit der Bahn täglich angewiesen sind.
Georg Restle: „Ob Bahnfahren oder Fliegen, hier geht’s um massive wirtschaftliche Interessen. Darunter leidet dann eben der Gesundheitsschutz, aber auch die Glaubwürdigkeit einer Politik, der angeblich nichts wichtiger ist als der Schutz von Leib und Leben.“
Kommentare zum Thema
Unglaublich! Damit habe ich nicht gerechnet...der ICE von München nach HH war sogar überbelegt. Kein einziger Sitzplatz frei und die Leute saßen sogar im Gang! Ich verstehe die Welt nicht mehr. Die Bahn macht es sich leicht, überlässt die Verantwortung den Fahrrgästen. Jeder kann buchen und ist nicht zum Reservieren verpflichtet. Man rät zum Mindestabstand und spricht vom sicheren Reisen! Pustekuchen!!! Aber machen wir es uns nicht auch zu einfach, indem wir den schwarzen Peter mal wieder der Bahn zuschieben? Kann man nicht selbst ein wenig Verantwortung übernehmen? Gibt es irgendjemanden, der bei einem vollen Zug umbucht? Überlässt man es denen, die besonders "Corona ängstlich" sind? Ja stimmt, die Bahn verkauft mehr Tickets, als Plätze. Aber ein Großteil der Passagiere hält es gar nicht für nötig einen Sitzplatz zu buchen bzw. weicht auf einen anderen Zug aus, wenn eben alle Plätze mit Sicherheitsabstand und Mindestanzahl im Abteil belegt sind. Fassen wir und an die eigene Nase!
Trotz dritter Welle ist keine Besserung eingetreten. Heute morgen war der Zug super voll, keine Einzelsitzplätze. Man hat richtig Angst sich anzustecken. Völlig unverständlich, dass dies noch erlaubt ist, zumal jeder kleine Laden mit einem deutlich geringen Infektionsrisiko schließen muss. Die Bahn handelt hier unverantwortlich.
Es ist einfach unglaublich, was hier passiert. Die Restaurant Besitzer müssen schließen. Obwohl sie viel Geld für die Auflagen ausgegeben haben. Aber in den öffentlichen Verkehrsmitteln tummeln sich die Menschen dicht an dicht. Man kann dort den Abstand einfach nicht einhalten. Normalerweise müssten die Busse und Bahnen an jedem Endhalteziel gründlich desinfiziert werden. Die Menschen müssten die Möglichkeit haben, vor betreten die Hände zu desinfizieren. Aber nix dergleichen passiert. Am besten, wir treffen uns am Weihnachten mit unseren Familien in bus oder Bahn. Denn dort scheint es ja egal zu sein, wie ansteckend Corona ist.