MONITOR vom 19.08.2021

Explosion im Chemiepark: Unzureichende Kontrollen – verspieltes Vertrauen

Bericht: Herbert Kordes, Daniela Becker

Explosion im Chemiepark: Unzureichende Kontrollen – verspieltes Vertrauen Monitor 19.08.2021 07:45 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Herbert Kordes, Daniela Becker

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Achim Pollmeier: "Sieben Tote, 31 Verletzte – es war eine gewaltige Explosion im Chemiepark Leverkusen vor drei Wochen. Die Rauchwolke zog über Wohngebiete, war kilometerweit zu sehen. In einer Sondermüll-Verbrennungsanlage war ein Tank in die Luft geflogen und zerstörte weitere Tanks mit gefährlichen Chemikalien. Unternehmen und Behörden haben danach auffallend schnell Entwarnung gegeben, anfangs wussten sie nicht mal, was da eigentlich in den Tanks war. Wobei, so ganz genau weiß man das wohl bis heute nicht, denn die Ursache für die Explosion ist immer noch unklar. Die Behörden wirken machtlos. Der Unfall und seine Folgen stehen auch für eine viel größere Frage: Wie gut werden solche Anlagen eigentlich kontrolliert? Eine Spurensuche von Daniela Becker und Herbert Kordes."

Anwohnerin: "...diese Wolke teilte sich eigentlich in einen schwarzen Teil und in einen etwas … ja, wie Dampfteil, etwas tiefer. Und aus diesem fielen kleine Teile heraus und große."

Peter Odenthal: "Und da hab ich mir die Wolke angeguckt, und dann zog sie aber mehr etwas so in westlicher Richtung. Und da hab ich gemerkt, dass da bei mir auf der Haut gebrannt hat."

Leverkusen-Bürrig, 27. Juli, morgens um kurz nach halb zehn: Auf dem Gelände des nahegelegenen Chemieparks ereignet sich eine gewaltige Explosion. Sieben Menschen starben, 31 wurden verletzt. Eine weithin sichtbare Rauchwolke zieht direkt über den Stadtteil hinweg. Die Folgen hätten sie noch Tage später gespürt, sagen Anwohner.

Anwohnerin: "Am Sonntag hatte ich den ganzen Tag Kopfschmerzen, den ganzen Tag. Und das hat gestunken. Zeitweise. Ich hab dann gelüftet, habe mich dabei gestellt. Ja, und dann habe ich gemerkt au, jetzt kommt es wieder – Tür zu! "

Dabei hatte das Landesumweltamt schon wenige Stunden nach der Explosion erste Entwarnung gegeben. Luftmessungen hätten keine gefährlichen Schadstoff-Konzentrationen gezeigt, hieß es. Und die Betreiberfirma des Chemieparks – Currenta – versprach den Bewohnern Sicherheit und Transparenz.

Texttafel Currenta: "Wir möchten Ihnen versichern: Wir nehmen Ihre Sorgen und Fragen sehr ernst. Eine gute Nachbarschaft mit Ihnen liegt uns sehr am Herzen."

Gute Nachbarschaft? Sorgen ernstnehmen? Tatsächlich machte Currenta nach dem Unglück tagelang keine detaillierten Angaben über die genauen Stoffe in den zerstörten Tanks. So konnte das Landesumweltamt LANUV zunächst kaum prüfen, wie gefährlich die Wolke wirklich war. Am Ende sah sich die Umweltministerin sogar genötigt, die fehlenden Angaben selbst zu besorgen.

Ursula Heinen-Esser (CDU), Umweltministerin NRW: "Am Donnerstag meldete sich die Bezirksregierung noch mal bei uns hier im Haus und sagte, wir kommen nicht an diese Datenblätter heran, wir benötigen sie fürs LANUV und deshalb haben wir dann entschieden, dass wir uns mit der Currenta-Geschäftsführung Freitagmorgen zusammensetzen, um über den gesamten Vorgang zu sprechen."

Drei Tage nach dem Unglück reist die Umweltministerin also selbst nach Leverkusen, um endlich an die vollständigen Stofflisten heranzukommen. Für Marcos Buser, einen international anerkannten Abfallexperten aus der Schweiz, ein Unding:

Marcos Buser, Expterte für Sonderabfälle: "Es zeigt schließlich die Macht der Konzerne. Das zeigt es natürlich auch, also, dass nicht automatisch etwas geliefert wird, sondern dass zuerst ein hoher Funktionär, nämlich eine Ministerin, dort aufkreuzen muss und sich die, die Liste der Stoffe holen muss."

Insgesamt fünf Pflanzen-und zehn Bodenproben hat das Landesumweltamt dann schließlich genommen. Und wieder hieß es, keine Gefahr! Tatsächlich? Oder wurde nur zu spät und zu wenig geprüft? Peter Odenthal hat 45 Jahre bei Bayer gearbeitet – als Chemielaborant. Er lebt neben dem Chemiepark in Leverkusen-Bürrig, bislang mit gutem Gefühl. Nun hat er das Vertrauen in die Behörden und den Chemieparkbetreiber verloren.

Peter Odenthal: "Fragen Sie die Leute hier, es glaubt keiner mehr Currenta, was die sagen. Das ist viel schlimmer als alle anderen Sachen, die man sich so vorstellen kann."

Diese Rußpartikel hat er auf seinem Grundstück aufgesammelt. Sie landen – zusammen mit denen von vielen Nachbarn – in der Transportbox von Viola Wohlgemuth. Mehr als zwei Wochen nach der Katastrophe hat die Greenpeace-Aktivistin bei den Anwohnern noch mal Rußreste gesammelt, denn sie ist überzeugt, die Entwarnung der Behörden kam zu früh. Heute kamen die ersten Ergebnisse. In den Proben steckten bis zu 225 Nanogramm pro Kilogramm krebserregender Dioxine und Furane – weitaus mehr, als die Behörden gemessen haben, einen Grenzwert gibt es nicht.

Viola Wohlgemuth, Greenpeace: "Die Analysen der Proben, die Greenpeace vor Ort genommen hat, bestätigen leider unsere Befürchtungen. Wir haben eben eine sehr, sehr große Spanne von diesen hochgradig krebsregenden Dioxine und Furanen in diesen Brandrückständen gefunden. Diese Brandrückstände müssen fachgerecht eingesammelt und eben auch fachgerecht entsorgt werden."

Currenta teilte mit, man unterstütze die Reinigung privater und öffentlicher Flächen. Aber woher kommen die Schadstoffe? Erst gut zwei Wochen nach dem Unglück kann auch die Öffentlichkeit sehen, welche Stoffe in den Tanks waren. Wir legen die Stoffliste mehreren Experten vor. Wie kam es zur Explosion? Die Antwort auf diese Frage verbirgt sich möglicherweise unter anderem hinter einer so genannten Peroxid-Verbindung.

Prof. Martin Führ, Umweltrechtler, Hochschule Darmstadt: "Die sind bekannt dafür, dass sie sehr reaktiv sind. Dabei setzen sie Energie frei. Die Temperatur steigt immer mehr an. Die Reaktion beschleunigt sich exponentiell. Und das kann man dann irgendwann nicht mehr aufhalten. Dann haben wir einen sogenannten Runaway und dann kann man eigentlich nur noch weglaufen."

Auf Nachfrage bestätigt Currenta, dass es

Zitat: "vor dem Explosionsereignis einen signifikanten Temperatur- und Druckanstieg in Tank 3"

gegeben habe. Eine unerwünschte Reaktion? Zum Unfallhergang sind noch viele Fragen offen.

Harald Friedrich, ehem. Abteilungsleiter Umweltministerium NRW: "Deshalb wäre es erforderlich, dass wir hier auch einen ordentlichen chronologischen Bericht haben, wann welche Substanz mit was anderem zusammen dort in den Tank hineingegeben wurde."

Currenta sagt auf Anfrage nicht, wann Temperatur und Druck in Tank 3 zu steigen begannen. Dabei wäre das entscheidend, um herauszufinden, ob man früher warnen und Menschenleben hätte retten können. Aber wie kann so ein Unglück überhaupt passieren? Ist es wirklich denkbar, dass unerwünschte Stoffe in den Tanks waren und so eine unkontrollierbare Reaktion auslösten? Klar ist für Experten, es wird viel zu wenig unabhängig kontrolliert, was hier rein und raus geht.

Marcos Buser, Expterte für Sonderabfälle: "Ich denke, in den letzten Jahrzehnten der Marktwirtschaft hat sich die Rolle des Staates dramatisch verändert, in dem Sinne, dass der Staat immer mehr Verantwortung an die Firmen ausgelagert hat."

De facto kontrollieren die Anlagenbetreiber nämlich selbst, ob die Stoffe, die sie annehmen, richtig deklariert sind. Im Gesetz steht zwar, die Überwachungsbehörde

Zitat: "…kann (…) Proben der transportierten Abfälle entnehmen und untersuchen",

aber in der Praxis passiert es kaum. Auf Anfrage erklärt die zuständige Bezirksregierung Köln, dass sie zuletzt in den Jahren 2016, 2018 und 2020 – also nur alle zwei Jahre – ankommenden Abfall kontrolliert habe. Immer mit Ankündigung und nur anhand der vorliegenden Akten. Eigene Analysen? Unmöglich. Man verfüge über kein Labor, heißt es. Eine Kontrollbehörde, aber kein Labor. Spärliche Auskünfte, wenige Messungen, offensichtlich unzureichende Kontrollen. Beunruhigend für eine Anlage, in der hochgiftiger Müll verbrannt wird. Und das in direkter Nähe von Wohngebieten.

Kommentare zum Thema

  • Kopfsalat 01.09.2021, 16:36 Uhr

    Als gleich nach der Explosion von den örtlichen Behörden Entwarnung gegeben wurde, war mein erster Gedanke nicht Gott sei Dank, sondern: Korruption. Merkwürdig, daß dieser Vorfall schon nach wenigen Tagen aus den bundesweiten Medien verschwand. So wie auch unsere hochgiftigen Wohlstandsabfälle schon seit vielen Jahrzehnten in den ärmsten Ländern der Welt verschwinden und dort hungrigen, halbnackten Kindern und kranken Erwachsenen als lebensfeindliche Lebensgrundlage dienen. Mit so zynischen Euphemismen wie Chemie-Park oder Entsorgung vergiften Investoren und ihre Ministranten zudem unser Denken und Wahrnehmen. Zum Zwecke des Umweltschutzes sollten eigentlich alle Chemie- und Kernkraftwerke, Müllhalden, Fabrikschornsteine und Autbahnknoten mitten hinein in die Städte und Villensiedlungen gezwungen werden. Bis wir endlich anfangen, in Zusammenhängen zu denken.

  • Anonym 30.08.2021, 21:30 Uhr

    Ja, stimmt leider, es ist es überall so, als Beispiel die Automobilindustrie, schomn mal aufgefallen wie viele Autos heutzutage blenden? Nicht etwa nur die Alten, nein es sind überwiegend Fahrzeuge kaum älter als 5 Jahre alt. Fahren sie mal nacht auf der Autobahn, jedes 10. bis 20. Auto blendet. Wie kann das sein? Die Scheinwerfer werden ,mit blendsicherer Ausstattung gebaut, aber niemals kontrolliert wie diese Ausstattung im Dauerbetrieb durchhält. Nach ein paar Jahren versagt die billig verbaute Mechanik (Kunsstoffmechanik statt Metall) und funktioniert nicht mehr. Da die Scheinwerfer bis zu 1000 Euro kosten, fährt der Fahrzeughalter bis zum TÜV- Termin damit rum. Keine Behörde geht mit den Firmen in die Tiefe der Funktionen, um diese sicherheitsrelevanten Bauteile auf Betriebssicherheit dauerhaft zu bewerten. Es werden also die Konstruktionen nur verwaltet, genauso in der Chemiebranche.

  • Gerald Wilfried 23.08.2021, 14:54 Uhr

    Klar, sehr schlimm solche Katastrophen-und dann die immer darauffolgenden Verschleierungsinitiativen aller daran beteiligten Sach-und Politinvolvierten.Peinliche und selbstentlarvende Eigendarstellungen der Bonner- und später 1990- erweiterten Administration pur.Diese stellte und stellt sich bis heute populistisch und großspurig in allen Bereichen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands als DEN berechtigten und „ehrlichen“ Geschichts-Gewinner dar.So werden natürlich alle auffindbaren „spektakulären“ Verkehrs-und Chemieunfälle in Mitteldeutschland bis 1989 als das Versagen einer verhassten DDR in der Schublade „primitiv, unterentwickelt oder hinter dem Mond“ gesammelt und bei allen passenden Gelegenheiten mittels Medien ausgekübelt.Die BRDeigenen Contergan-Atom-Nazi-Abwässer-Kriegseinsatz- und Umweltskandal-Szenerien erscheinen dabei eher als schnell zu verdränge Randnotizen einer auch heute noch Heile-Welt propagierenden Elite.